„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Mit dem Frühlingsanfang am 20. März hat in Iran das Jahr 1394 begonnen. Grund für mich, noch einmal neu und vielleicht etwas anders über queere Zeitlichkeit(en) und die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem nachzudenken. Innerhalb von queer, post- und dekolonialen Theorietraditionen wird ein lineares Verständnis von Fortschritt kritisiert, da es allzu oft dazu dient, ‚andere‘ Kulturen pauschalisierend als ‚rückständig‘, queere Subjekte als ‚noch nicht‘ angekommen in der heteronormativen Logik von Heirat und Reproduktion zu markieren.1)Chandan Reddy schreibt dazu: „Haunted by the racialized social practices that enabled metropolitan prosperity, the category of the modern has abetted the mischaracterization of that prosperity as universal progress, thus displacing the contemporaneity of colonial social formations from its account of the modern and temporalizing the peripheries of the world system as non-modern“ (2007: 162). Reddy, Chandan (2007): „Modern“, in Bruce Burgett & Glenn Hendler, Hg., Keywords for American Cultural Studies, New York: New York University Press, 160-164.

Es sind Phrasen wie der ubiquitär verwendete Vorwurf ‚das ist ja wie im Mittelalter‘, die bis auf einen unkritisch angenommenen westlichen Modernitätsvorsprung wenig über die vermeintlich ‚anderen‘ Kulturen verraten (und zudem ein recht verkürztes Verständnis des Mittelalters nahelegen). Wie können wir also alternative Geschichten erzählen über dieses ‚Mittelalter‘ im Hier und Jetzt? Denn schließlich ist 1394 in Iran genauso globalisiert und vernetzt wie das 21. Jahrhundert an anderen Orten, wobei die staatliche Zensur jedoch den Zugang reguliert und massiv einschränkt. Es geht mir somit nicht darum, Unterschiede (und komplexe Problemlagen geopolitischer Ungleichheiten) zu negieren, aber vielleicht sollten wir versuchen, diese in ihrer Gleichzeitigkeit anders beschreibbar zu machen, als immer wieder ein zeitliches Hinterherhinken zu behaupten. Zeit (und Raum) sind nicht einfach ordentlich sortiert und separiert in ‚the West‘ and ‚the Rest‘. Extreme Armut und Hyperkapitalismus finden sich im globalen Norden und Süden oft dicht beieinander. Wenn also vereinfachende Modelle von Rückständigkeit und Fortschritt nicht mehr greifen, kann uns ein anderes Zeitverständnis, José Muñoz2)Vgl. Muñoz, José Esteban (2009): Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York: New York University Press. folgend, (queere) Utopien eröffnen. Wir brauchen Repräsentationen von Zeiten und Räumen, die Alternativen zur Realität der Gegenwart bieten. Ob es sich um Repräsentationen queerer Sexualitäten vor der Homo-Ehe, um eine Vorstellung präkolonialer Vergangenheit oder auch um die Imagination radikal anderer Welten wie im Afrofuturismus handelt: Diese Utopien kreieren alternative Welten und Handlungsräume und können mitunter überlebenswichtig sein. Und dies betrifft nicht nur Fiktion im engeren Sinne. Die Philosophin Elizabeth Grosz schreibt mit Bezug auf Geschichtsschreibung im Allgemeinen: „[W]hat history gives us is the possibility of being untimely, of placing ourselves outside the constraints, the limitations, and blinkers of the present. This is precisely what it means to write for a future that the present cannot recognize; to develop, to cultivate the untimely, the out-of-place and the out-of-step. This access to the out-of-step can come only from the past and a certain uncomfortableness, a dis-ease, in the present“ (Grosz 2004: 117).3)Grosz, Elizabeth A. (2004): The Nick of Time. Politics, Evolution, and the Untimely. Durham.

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Einen solchen Möglichkeitsraum, um das Unbehagen an der Gegenwart zu reflektieren, bietet zum Beispiel ein ‚futuristisches Kino‘, und damit meine ich nicht nur im engen Sinne das Genre Science Fiction. Vielmehr geht es mir hierbei um die filmische Konstruktion von Bewegungsräumen, um bewegte Bilder sich bewegender Gefährte. So sind Autos, Kino und die Zukunft für mich spätestens seit Back to the Future (1985) eng verknüpft. Taxis scheinen dabei als gesellschaftlicher Mikrokosmos eine besondere Anziehungskraft auf Filmemacher_innen auszuüben, ob in Martin Scorseses Taxi Driver (1976) oder Jim Jarmuschs Night on Earth (1991). Auch der in diesem Jahr mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnete Film des iranischen Regisseurs Jafar Panahi steht mit seinem klandestinen Taxiausflug durch Teheran in dieser Tradition.

Der bekanntlich 2010 mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegte Regisseur schafft es in Taxi, die Absurdität, die Frustration, aber auch den Erfindungsreichtum einer im repressiven Dauerzustand befindlichen Gesellschaft zu porträtieren. Wenn man nichts darf, macht man eben einfach alles. Wenn es schon keinen freien öffentlichen Raum gibt, dann wird das Auto eben zum Fluchtgefährt. Wenn es keine Filmerlaubnis gibt, wird die Kamera auf das Armaturenbrett geklebt und los geht die Spritztour. Im Taxi treffen in einem geschlossenen, relativ intimen Raum für kurze Zeit Fremde aufeinander, die sich gemeinsam durch den urbanen Nahverkehr kämpfen. Aber ein Roadmovie ist Taxi nicht. Der iranische Verkehr mit seiner Besorgnis erregenden Unfallstatistik und seiner „kreativen“ Auslegung von drei Spuren für bis zu acht nebeneinander fahrende Autos kennt nur stop and go. Hier reiht sich der exklusive Porsche an die unzähligen Saipas. Und mittendrin natürlich die vielen, vielen gelben oder grünen Taxis (manche nur für Frauen) und Privatautos, die für ein kleines Geld Fahrgäste mitnehmen. Entsprechend geht es im Teheraner Stau kaum vorwärts; jeder fragt nach dem Weg und die Hitze bringt im Sommer alle ins Schwitzen, wie auch die Protagonist_innen im Film.

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Indem Panahi selbst zum Taxifahrer wird und in den gestellten Gesprächen unterschiedliche Fahrgäste – vom Gelegenheitsdieb bis zur Menschenrechtsanwältin – zu Wort kommen lässt, ist der Film in seiner Systemkritik so explizit wie kaum ein anderer iranischer Film zuvor und entsprechend wenig amüsiert zeigt sich die iranische Kulturpolitik über den aus dem Land geschmuggelten Gewinnerfilm. Am sicherlich eindrucksvollsten sind jene Szenen, in denen Hana Saeidi, die junge Nichte des Regisseurs, zu Wort kommt. Sie soll im Rahmen eines Schulprojekts vermeintlich selbst einen Film drehen und verzweifelt an dem absurden Regelwerk der Islamischen Republik: Denn Filme dürften neben dem altbekannten Kopftuchgebot und dem verbotenen physischen Kontakt zwischen Mann und Frau auch nicht zu viel realistische ‚Schwarzmalerei‘ betreiben und die Guten bitteschön keine Krawatte tragen.

Ein weiterer zusteigender Fahrgast, ein Händler der allgegenwärtigen Raubkopien von Film- und TV-Serien (er bietet sogleich den letzten Woody Allen und die neue Staffel von The Walking Dead an) erkennt sofort: „Ich weiß, dass Sie es sind, Herr Regisseur.“ Der Film ist, wie schon In film nist (Dies ist kein Film, 2011) und Pardé (Geschlossener Vorhang, 2013), ein Film über die Unmöglichkeit, Filme zu drehen. Das ist mehr als postmoderne Selbstreflexivität, bei der die Medialität des Mediums zur Schau gestellt wird. Das ist die Sabotage der Sabotage. Das ist ein abgekartetes Spiel: Taxi ist ein trauriger und zugleich komischer Film, der nie vorgibt, dokumentarisch zu sein. Er ist eine fahrende Filmzitat-Maschine. Taxi ist somit auch eine Utopie, ein Nicht-Film, der nicht vorwärts kann und nicht rückwärts will und damit das Kino in Bewegung hält.

Aber nicht nur auf, auch über den Straßen Teherans tut sich Einiges. Die von der Architektin Leila Araghian entworfene und 2014 eröffnete längste Fußgängerbrücke in Iran, Tabiat (Natur), verbindet den Ab-o-Atash (Wasser und Feuer) Park mit dem Taleghani Park und führt mitten über eine der am dichtesten befahrenen Autobahnen der Stadt. Statt die urbane Unruhe zu meiden, ist es genau dieser futuristische mehrstöckige Schwebeort, der die Menschen anlockt. Hier wird über den grauen Smog einfach eine mit bunt wechselnden Lichtern erleuchtete zweite Stahlnatur gesetzt. Sie bietet Zugang zum Planetarium und zu einem Skater-Park, in dem bei lauter Musik nachts geskatet wird. Man sieht – noch vor wenigen Jahren undenkbar – händehaltende (vermeintlich unverheiratete) junge Paare. Im Inneren der Brücke wird das ‚moderne‘ Fast Food zu horrenden, für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglichen Preisen angeboten und oben auf den Plattformen fleißig fotografiert.

Die wenigen öffentlichen (Frei-)Räume sind hart umkämpft. Umso wichtiger, dass es Bilder davon gibt, was unter widrigen Umständen doch alles möglich ist. Im Teheraner Filmmuseum lächeln und winken uns als Pappaufsteller die in den letzten Jahren so erfolgreichen iranischen Regisseur_innen und Filmemacher_innen zu, die es sich nicht nehmen lassen, ihre Geschichten zu erzählen. Das Paradox bleibt, dass ihre Erfolge und die vielen internationalen Preise als Auszeichnung der iranischen Kulturpolitik ausgestellt werden. Unter den Pappkameraden ist auch Jafar Panahi, der seit dem Berufsverbot zum Glück eifrig weiter Filme dreht. Wenn die Gegenwart so erdrückend ist, müssen wir uns freidenken: zurück in die Zukunft. Auf ein gutes neues Jahr.

Fotos: Elahe Haschemi Yekani

Fußnoten

Fußnoten
1 Chandan Reddy schreibt dazu: „Haunted by the racialized social practices that enabled metropolitan prosperity, the category of the modern has abetted the mischaracterization of that prosperity as universal progress, thus displacing the contemporaneity of colonial social formations from its account of the modern and temporalizing the peripheries of the world system as non-modern“ (2007: 162). Reddy, Chandan (2007): „Modern“, in Bruce Burgett & Glenn Hendler, Hg., Keywords for American Cultural Studies, New York: New York University Press, 160-164.
2 Vgl. Muñoz, José Esteban (2009): Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York: New York University Press.
3 Grosz, Elizabeth A. (2004): The Nick of Time. Politics, Evolution, and the Untimely. Durham.