„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Am Donnerstag vergangener Woche töteten zwei Selbstmordattentäter im schiitischen Viertel von Bourj al Barajneh in Beirut mehr als 40 Menschen; nur einen Tag später, in der Nacht von Freitag auf Samstag, fielen den acht Selbstmordattentätern in Paris mindestens 130 Menschen zum Opfer. In Beirut wie in Paris löschten die Attentäter nicht nur wahllos Leben aus, sie zerstörten Welt, indem sie sich kraft schierer Gewalt das Recht aneigneten, darüber zu entscheiden, wem, wie Hannah Arendt einst schrieb, das Recht, in der Welt zuhause zu sein, zusteht und wem nicht. Terror ist der Name für diese Gewalt.

Die Reaktionen auf die Gewalttaten in Beirut und Paris hätten unterschiedlicher kaum sein können. Weltweite Trauerbekundungen für die Opfer von Paris. Das Brandenburger Tor, die Oper in Sydney, das Rathaus in San Francisco in den Farben der Trikolore. Nous Sommes Unis und Pray for Paris auf Twitter. Wer aber trauert um die Toten von Beirut?

Zweifellos geht es nicht darum, die Trauer um die einen gegen die Trauer um die anderen aufzuwiegen. Ja, wir sind alle Paris, zu Recht! Aber sind wir alle auch Beirut? Bagdad? Aleppo? Kukawa? Denn so unterschiedlich die Reaktionen auch sein mögen, die Attentate in Beirut und Paris, der Terror des IS und von Boko Haram stellen uns am Ende des Tages vor die selbe Frage: Wie verteidigen wir die Welt als eine, die uns allen gehört, in der wir alle nur sein werden, wenn wir das Recht aller auf Welt verteidigen? Wie lernen wir, auf die »komplexe Menge von Beziehungen, ohne die keiner von uns existieren könnte, aufmerksam zu werden und diese zu verstehen«, und wie erkennen wir, dass Gefährdung »nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen« ist, sondern vielmehr eine allgemeine Bedingung darstellt, »deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird«, wie Judith Butler in ihrer großen Rede zum Adorno-Preis 2012 in der Frankfurter Paulskirche formuliert hatte?

Was es daher gegenwärtig vielleicht dringlicher denn je braucht, ist eine entschiedene und durchaus parteiische Leidenschaft für die Welt; ein unerschrockenes Einmischen und Eintreten für die Teilhabe aller an Welt. Was es braucht, ist eine globale politische Moral, eine Moral, die sich offen zeigt für diese Welt und die bereit ist, von dem, was sich in ihr ereignet, berührt und bewegt zu werden. Was es braucht, ist Sensibilität für die vielfältigen Weisen von Entwürdigung und Entrechtung, Entfremdung und Isolation, für die vielen Gestalten körperlicher und emotionaler Versehrung, von Gewalt und Zerstörung. Was es braucht, ist das Wissen um die Notwendigkeit, Rechenschaft darüber abzulegen, wie Welt und Sozialität imaginiert, geformt und aufrechterhalten werden. Was es braucht, ist die Bereitschaft, immer wieder aufs Neue zu fragen, wen wir wie bedenken, wem und welchen Kämpfen wir Rechnung tragen, wer wie ein- und ausgeschlossen wird, von wem aus gedacht und gehandelt wird, wessen und welches Handeln ermöglicht und wessen und welches Handeln verunmöglicht wird. Was es braucht, ist danach zu fragen, wer überhaupt als ein Wer gelten kann und welches Leben wir als »lebenswert, als schützenswert und als der Trauer wert« betrachten, wie Judith Butler sagt.

Quellen einer solchen Ethik finden wir im feministischen Denken am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Vor mehr als dreißig Jahren charakterisierte Luce Irigaray, die belgisch-französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Feministin, in ihrer Schrift Ethik der sexuellen Differenz die »sexuelle Differenz« als »eine der Fragen oder die Frage (…), die in unserer Epoche zu denken ist«. Wenn jede Epoche, so das Argument von Irigaray, womöglich »nur eine Sache zu ›bedenken‹« habe, so sei die sexuelle Differenz »wahrscheinlich diejenige unserer Zeit«. Und dies nicht, weil die Geschlechterdifferenz ›an sich‹ zu denken und – ein für allemal – ihre Natur zu klären sei, sondern weil in ihren Begriffen eine gegenwärtige Problematik formuliert werden kann: die Problematik der Andersheit. Und genauer noch die Frage, wie »diese Andersheit« durchquert werden kann, »ohne sie durchzustreichen, ohne ihre Begriffe zu zähmen« und wie man dem »auf der Spur bleiben« kann, »was an dieser Frage ständig ungelöst bleibt«, wie Judith Butler zwanzig Jahre später anmerkte.

Es ist diese Frage der Andersheit, danach, wie – in den Worten Hannah Arendts – das »Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen« gestaltet, ja vielleicht überhaupt erst ermöglicht werden kann, wie wir, so Luce Irigaray zuletzt in ihrem Buch Welt teilen, die Koexistenz mit dem anderen erlernen, wie wir uns »einer Welt öffnen, die sich von unserer unterscheidet«, wie wir also Welt teilen, ohne die Andersheit der Anderen auszulöschen, die vielleicht nicht nur »die erste und schwierigste multikulturelle Geste« darstellt, sondern die gegenwärtig in der Tat vielleicht drängendste Frage unserer Welt. Nous sommes Paris. Aber wir sind auch Beirut und Bagdad, Allepo und Kukawa.

Im Januar hatte Ilse Lenz an dieser Stelle ihre Gedanken anlässlich der Anschläge rund um Charlie Hebdo notiert: Wir sind alle …? Wir sind alle Charlie, Ahmet, JüdInnen et cetera? Wir sind verschieden und zusammen.