„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Der »im Plural geschaffene Mensch« ist eine Existenzbedingung, die wir uns nicht aussuchen können: das »absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen« (Arendt 1981, S.164). Dieses vorgängige Prinzip zu bejahen und zu schützen begleitet und irritiert eine Ethik der Kohabitation, die Grenzen setzt, um Menschen vor den schlimmsten Verletzungen zu bewahren, die sie einander zufügen können, und die die Selbstbestimmung durch ein Denken vom Anderen her relativiert. Der Versuch, aus sich selbst herauszutreten, versammelt konkrete Andere im eigenen Bewußtsein und holt sie in die eigene Gegenwart. Sie bevölkern fortan den inneren Raum, bleiben im Gedächtnis, beobachten und bedrängen uns. Sie sind nicht nur Vielfaltsförderer meiner selbst, sondern muten mir etwas zu. Sie verweisen auf Ergänzungsbedürftigkeiten und Blickbeschränkungen des Subjekts und dessen Verletzungsmacht gegenüber denen, die wegkategorisiert werden.

Hannah Arendt hat ihre Gedanken zur Pluralität mit einer Freundschaftsmetaphorik verknüpft und so von allen Familienanalogien abgesetzt, die auf ein fraglos vorgegebenes Wir in homogenen Bevölkerungsblöcken aus sind (Arendt 1993, 44 ff.; 1981, 39 ff., 52). Während das Familienbild wie ein Schlagbaum wirkt, der die Grenze zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen markiert, sucht Freundschaft Verbindungen zu Anderen trotz oder wegen ihres Andersseins. Die Freundschaftsmetapher grenzt sich ab von Brüderlichkeitsideen, die auf „natürliche« Bindungsmächte verweisen und auf den Ausschluss derer, die nicht zur »Familie« gehören. Sie besteht auf gegenseitigem Interesse und der Aktivität eigener Wahl, einer Selbsttätigkeit, mit der Menschen selbst entscheiden, mit wem sie sich zusammentun und mit wem nicht, in wen sie sich hineinversetzen wollen und in wen nicht. Mit der Selbstermächtigung des Subjekts symbolisiert der Freundschaftsbegriff den politischen Zusammenhang von Differenz und Freiheit (Thürmer-Rohr 2009).

Diesen Anspruch stellt Judith Butler in Frage (Butler 2013). Ihre Grundlagen einer Ethik der Kohabitation weisen nicht nur den homogenen Nationalstaat zurück, sondern auch ein Selbstverständnis, das Ansprüche auf freie Wahl und souveräne Entscheidung stellt. Butler eröffnet damit eine Kontroverse zur Kohabitation, die über die Freundschaftsmetaphorik des Politischen hinausweist. Bejahung politischer Heterogenität, die den Blick von anderswo unausweichlich macht, richtet sich nicht nur an diejenigen, mit denen wir uns verbunden fühlen, sondern ebenso an jene, die wir weder kennen noch durchschauen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Die Sicht »von anderswo« räumt denen Platz ein, »die ›nicht ich‹ sind und die mich damit über meinen Souveränitätsanspruch hinaustragen« (2013, 19). Souveränität einbüßen heisst, bereit sein, »anders zu werden«, um menschlich zu sein (2003, 144).

Butlers Bezugsrahmen ist die jüdische Diaspora, eine Lebensform, die den Bezug zu Nicht-Juden als Teil eines nicht-identitären Denkens verlangt und das Anderssein auch für das eigene Selbst bejaht. Diaspora ist in diesem Verständnis keine geschichtliche Notlösung, sondern eine ethisches Exempel, das bedeutet, »sich von sich selbst zu trennen, hineingeworfensein in eine Welt … in der man … seinen Weg inmitten einer unumkehrbaren Heterogenität finden muss« (2013, 26). Diese Loslösung von sich selbst macht Butler zur Grundlage einer Ethik der Zerstreuung – zerstreutes Dasein wie zerstreutes Licht – Voraussetzung einer anderen Gesellschaft, die neue Zugehörigkeitsformen schaffen kann, eines »radikalen Potentials für ganz neue Formen von … Politik« (2013, 37).

Dass die Verbundensein mit dem Leben anderer jede Wahl durchkreuzt, formuliert Butler in passivischen Wendungen – über den eigenen Souveränitätsanspruch hinausgetragenwerden, herausgefordertwerden, vom Anderen herausgerufenwerden, Enteignetwerden – , sie signalisieren, dass ich angesichts der Existenz der Anderen das Recht auf Souveränität verliere. Verantwortung ist »Anerkennung einer unwillentlichen Empfänglichkeit als Quelle der Offenheit für den Anderen« (58). »Wir leben nicht nur mit denen, die wir uns nicht ausgesucht haben … , sondern wir sind auch verpflichtet, deren Leben und die Pluralität, zu der es gehört, zu schützen« (179). Dieser Grundsatz verlangt die Koexistenz auch mit denen, die ich nicht wählen würde, falls ich die Wahl hätte; das Betrauern derer, die als Nicht-Betrauerbare im eigenen Horizont verschwinden; deren Unsichtbarkeit sie gesichtslos machen. Er schränkt die freie Verfügung über die Art unserer Gegenüber ein, verlangt die Zurückstellung persönlicher Zu- und Abneigungen, den Verzicht auf Freundschaftlichkeit als einen Maßstab der Zwischenmenschlichkeit: also die Suche nach Wegen mit den vorhandenen Menschen, die wie ich in der Welt anwesend sind. Deren anderswo ist ein Ort, dem ich mich nicht verweigern kann, ein Ort außer mir, wo jeder hingehört, ohne dass er irgendeinem gehört, weil alle hier fremd sind.

Dieses Konzept der Kohabitation, das das Recht auf Differenz und die eigenen Verantwortungen in ein schier unendliches Spektrum erweitert, kennzeichnet die Abstraktheit und Reinheit eines ethischen Prinzips, das Politik und Philosophie nicht in getrennte Sphären teilt. Ist diese Globalisierung der Pluralitätsforderung eine unrealistische und lebensfremde Zumutung, stärkt sie gerade den Ruf nach dem Eigenen, nach passenden Mitmenschen und nationaler Einhegung? Anonymisiert die Askese vom Geist der Freundschaftlichkeit mit ihrem sympathiegetragenen Eros das Verhältnis zu den Anderen so weit, dass dieser seine Bindungskraft verliert und das ethische Prinzip zum papiernen Projekt wird?

Wer solche Einwände teilt, findet Stoff bei Martha Nussbaum. Sie lieferte jüngst ein prominentes Plädoyer für familial entwickelte »starke Gefühle« und eine »aus Liebe hervorgegangene Moral«, die mit Hilfe diverser Anstrengungen auf Prinzipien einer gerechten Nation übertragbar seien (Nussbaum 2014, 23, 268). Nussbaums Interesse richtet sich ganz unverblümt auf die mir Zugehörigen und auf einen Patriotismus, der schon den Schulkindern zu vermittelt sei: Unterweisung in Vaterlandsliebe. »Damit Menschen etwas lieben, müssen sie … dazu gebracht werden, den Gegenstand der potentiellen Fürsorge irgendwie als den ›ihrigen‹ zu betrachten« (Nussbaum 2014, 335).

Diese Selbstzentrierung zeugt von einem Verständnis des Zusammenlebens, das das Nahe und Vertraute zu dessen unverrückbaren Maßstab macht: Liebe zum mir eigenen, naht- und problemlos verlängerbar hin zum nationalen Wir. Solche Gefühlsförderungen, die Nationalgefühle an kindliche Liebeserfahrungen anbinden wollen, enthalten keinen Zugang zu Anderen, die in den familial begrenzten Liebeserfahrungen gar nicht vorkamen. Sie stehen für eine Ideologie der Herrschaftssicherung, die anheimelnde Gefühlsgenesen zum Argument gegen eine Ethik machen, die sich gegen den Nationalismus als Ort der Liebe stellt und über ausschliessendes Denken hinausführt.

Das Bemühen um positive Emotionen und sympathiegeleitete Motive kann mit Butlers provozierenden Überlegungen zum »ungewollten Zusammenleben« nichts anfangen, auch nicht mit Arendts Freundschaftsmetapher des Politischen, in der es nicht um Gefühle geht, sondern um die Bedeutung des Gesprächs, das am Leben zu halten ist. Arendt sprach weder von der Liebe zu den Menschen noch von der Liebe zur Nation (Arendt 1996, 30 f.), sondern von der Liebe zur Welt – jenes zerbrechliche und riskante Gebilde von Menschenhand und Menschengeist, das allen gehört und alle beheimaten soll. Das Gespräch bleibt unersetzbar und konkret, es braucht die Fähigkeit zu einer »denkenden Zuwendung« zu dem, was außer mir ist und den Nachvollzug, was es bedeutet, wenn die gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind (Arendt 1993a, 728 f.).

Ethische Gebote landen nicht automatisch in pragmatischen Schlussfolgerungen und können das Handeln nicht erzwingen. Aber sie sind »Anlass für einen Kampf mit dem Gebot selbst« (Butler 2013, 102). Sie demontieren herrschende Positionen, die sich andauernd im Recht und Ausblendungsrecht sehen. Die Einschränkung unserer Souveränität durch ein Denken von anderswo verletzt das eigene Selbstbild. Es zwingt uns, Uneindeutigkeiten des Urteils in Kauf zu nehmen, ohne auf das eigene Urteil zu verzichten. Es pluralisiert dieses Urteil, macht es zwiespältig, labil, ungesichert und schwankend, aber nicht überflüssig.

Arendt, Hannah (1981): Vita activa. Oder Vom tätigen Leben, München.

Arendt, Hannah (1993): Was ist Politik? Aus dem Nachlass. München.

Arendt, Hannah (1993a): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München.

Arendt, Hannah (1996): Brief an Gerhard Scholem. In: Ich will verstehen. München 1996, 29-36.

Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M.

Butler, Judith (2013): Am Scheideweg – Judentum und die Kritik am Zionismus. Frankfurt/New York.

Nussbaum, Martha (2014): Politische Emotionen. Berlin.

Thürmer-Rohr, Christina (2009): Freundschaft und Freiheit. In: Waltraud Meints / Michael Daxner / Gerhard Kraiker (Hsg.): Raum der Freiheit. Bielefeld, S.33-55