„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Ida B. Wells-Barnett wurde als Sklavin geboren. Noch ein Jahr dauerte es bis zu Abraham Lincolns Emanzipationserklärung, als die Journalistin, Bürger_innenrechts- und Frauenrechtsaktivistin 1862 in Holly Springs, Mississippi, zur Welt kam. Das Ende des Bürgerkriegs zwischen den Nord- und Südstaaten der USA, das erst die tatsächliche Befreiung der Schwarzen Sklav_innen bedeutete, ließ noch weitere drei Jahre auf sich warten. Die Abschaffung der Sklaverei bedeutete indes nicht das Ende von Rassismus: Weiße nutzten sozialdarwinistische „Theorien“ zur Unterdrückung Schwarzer Bürger_innen im Jim-Crow-System des Südens der USA, das binär zwischen Schwarzen und Weißen unterschied und demnach „rassisch“ segregierte, und um die weitestgehende de facto-Segregierung in anderen Teilen der USA zu rechtfertigen. Dass gesetzliche Freiheit nicht tatsächliche Freiheit bedeutet, ist eine Erkenntnis, die sich durch die Geschichte der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA zieht. Auch Wells-Barnett, die ab 1879 in Memphis, Tennessee, lebte, erfuhr dies 1884 am eigenen Leib, als sie trotz ihres gültigen Fahrausweises und unter dem Applaus weißer Passagier_innen gewaltsam aus einem Zug entfernt wurde. Sie hatte sich geweigert, ihren Platz für einen weißen Mitreisenden aufzugeben. Als Co-Editorin der Zeitung Free Speech & Headlight begann Wells-Barnett das System der race-Trennung öffentlich scharf zu kritisieren und wurde bekannt als eine Journalistin, die unerschrocken Gewalttaten wie Lynchmorde an Schwarzen als gezielten, brutalen Unterdrückungsmechanismus aufdeckte, unter anderem in ihrem detailliert recherchierten Pamphlet „Southern Horrors“ aus dem Jahr 1892.

#BlackLivesMatter wurde 121 Jahre nach der Veröffentlichung von „Southern Horrors“ ins Leben gerufen. Es geht es um mehr als nur ein Hashtag: Hinter der Feststellung und Forderung steht eine Bewegung, der mittlerweile 28 regionale Verbände angehören. Sie engagieren sich auf der Straße, in Behörden, an Universitäten und in anderen Organisationen gegen Rassismus, unter anderem mit Debatten, Demonstrationen und Besetzungen. Die Initiative zu #BlackLivesMatter ergriffen die Gründerinnen Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi, nachdem George Zimmerman im Juli 2013 des Totschlags an Trayvon Martin freigesprochen wurde. Alle drei sind seit vielen Jahren für soziale Gerechtigkeit aktiv.

Alicia Garza schreibt, dass #BlackLivesMatter „eine Antwort auf den anti-Schwarzen Rassismus“ sei, der „unsere Gesellschaft und leider auch unserer sozialen Bewegungen“ durchdringe und dazu führe, dass die Leben Schwarzer Menschen systematisch und gezielt angegriffen würden. In diesem Jahr wurden die Organisatorinnen von #BlackLivesMatter vom Fortune-Magazin zu den bedeutendsten „Führungspersonen der Welt“ gewählt.

Die These der Langen Schwarzen Bürger_innenrechtsbewegung (The Long Civil Rights Movement, vgl. Jacquelyn Dowd-Hall, 2005) problematisiert die „klassische“ Epochalisierung und Begrenzung der Bewegung auf die 1950er und 1960er Jahren und versucht, früher bestehende Traditionen des Widerstands in den 1930er Jahren sowie Fortsetzung des Aktivismus bis heute zu identifizieren. Auch wenn die – als ein Beispiel – oft durch Aktivist_innen vollzogene Analogie zwischen der Geschichte von Lynchmorden und heutiger Polizeigewalt gegen Schwarze US-Bürger_innen historiographisch und politisch diskutabel bleibt, haben die Diskurse um Gewalt gegen Schwarze Menschen damals wie heute zumindest ein gemeinsames Merkmal: Frauen kommen oft nur am Rande vor. Diese Peripherisierung ist symptomatisch für die (Geschichte der) Geschichtsschreibung der (Langen) Schwarzen Bürger_innenrechtsbewegung: Thematisch und personell stellten Medien wie Historiker_innen die Bewegung als androzentrisch dar – bis in die 1980er Jahre wurde die vielfältige Geschichte Schwarzer Frauen vernachlässigt.

Erst durch die Selbstzeugnisse Schwarzer Aktivistinnen (vgl. Crawford, 1990) und Belinda Robnetts nun weitläufig verwandtem Konzept der „bridge leadership“ (1997), das soziologisch einen sprichwörtlichen Brückenschlag machte von männlich dominierten formalen Führungsstrukturen der 1950er und 1960er Jahre und informelleren Führungspositionen- und aufgaben von Frauen innerhalb verschiedener Organisationen der Bürger_innenrechtsbewegung, rückten Schwarze Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts in den Fokus. Mary McLeod Bethune, Ella Baker, Rosa Parks, Diane Nash, Fannie Lou Hamer, Septima Poinsette Clark, Coretta Scott King, Kathleen Cleaver, Elaine Brown – all die Aktivismus- und Lebensgeschichten dieser zentralen Aktivistinnen der Bewegung(en) wurden und werden sukzessive aufgearbeitet.

Neben der traditionellen personellen Fokussierung der Medien und (früheren) Geschichtsschreibung auf einige wenige, männliche Aktivisten (wie Dr. Martin Luther King, Jr. oder Malcolm X), schlagen sich Androzentrismus und eine Einengung von Thematiken damals wie heute in der Berichterstattung über und Wahrnehmung der Schwarzen Bürger_innenrechtsbewegung nieder. Wurden kapitalismus- und kriegskritische Positionen der Schwarzen Bürger_innenrechtsbewegung der 1960er Jahre weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt, verengt sich die Berichterstattung und Wahrnehmung von #BlackLivesMatter heute auf Polizeigewalt gegen Schwarze Männer. So wie im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert aber nicht nur Männer Opfer von Lynchjustiz wurden, sind heute zwar die Mehrzahl, aber nicht alle Opfer von Polizeigewalt männlich – Racial Profiling in New York betrifft zum Beispiel genauso viele Frauen wie Männer.

Rekia Boyd, Sandra Bland, Natasha McKenna, Aiyana Stanley-Jones, Christy Schwundeck – erst die Twitter-Aktion #SayHerName rief in Erinnerung, dass es auch um die Leben Schwarzer Frauen geht, dass diese ebenfalls von (Polizei-)Gewalt betroffen sind, und dass es sich in der Bewegung auch um transnationale Fragestellungen handelt.

Gerade die Organisator_innen von #BlackLivesMatter haben hierbei immer wieder deutlich gemacht, dass sie ein intersektionales Verständnis von Aktivismus haben und anstreben, und dass #BlackLivesMatter darauf abzielt, Schwarze Menschen, die von Sexismus, Cissexismus, Heterosexismus und von Armut betroffen sind, zu zentrieren. In der selbstverfassten „Herstory“ von #BlackLivesMatter wird explizit auf das „Hetero-Patriarchat“ und anti-Schwarzen Rassismus Bezug genommen. Die Bewegung als eine darzustellen, die ausschließlich auf das Problem exponentieller Polizeigewalt gegen Schwarze Männer und der Militarisierung der US-Polizei rekurriert, verkürzt somit die Bewegung und ihre politischen Forderungen und stellt den Versuch der Kritik an (Hetero- und Cis-)Sexismus, Armut und hegemonialer Männlichkeit hintenan.

Wie Ida B. Wells für Schwarzen Aktivismus und Frauenrechtsaktivismus stand, so steht der heutige Bürgerrechts_innenrechtsaktivismus von #BlackLivesMatter und anderen für ein intersektionales Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Auch im Zuge der Proteste nach der Erschießung Michael Browns in Ferguson, Missouri, in denen Johnetta Elzie und Deray Mckesson Bekanntheit erlangten, ging es inhaltlich immer um mehr als Polizeigewalt gegen Schwarze (Cis-)Männer: Mckesson, der momentan in Baltimore als Bürgermeister kandidiert, legt zum Beispiel einen speziellen Fokus auf mehr Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Schwarze US-Bürger_innen. Personeller und thematischer Androzentrismus in selektiven Wahrnehmungen von und der Berichterstattung über #BlackLivesMatter verdecken die individuellen und inhaltlichen Beiträge von Frauen in der (Langen) Schwarzen Bürger_innenrechtsbewegung, die Tradition der Führungsfunktionen von Frauen innerhalb jener und die Komplexität politischer Forderungen, die intersektionale Positionierungen mitbedenken (müssen).


Literatur:
Crawford, Vicki L., ed. Women in the Civil Rights Movement: Trailblazers and Torchbearers, 1941-1965. Bloomington: Indiana University Press, 1990.
Hall, Jacquelyn D. “The Long Civil Rights Movement and the Political Uses of the Past.” The Journal of American History 91, no. 4 (2005): 1233–63.
Robnett, Belinda. How long? How long? African-American Women in the Struggle for Civil Rights. Oxford and New York: Oxford University Press, 1997.