„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Während die Texte von Christina Thürmer-Rohr viele weiße Frauen* direkt beeinflusst haben, so waren sie für mich – und möglicherweise für andere Women of Color und Jüdinnen – wichtig für die Abgrenzung beziehungsweise Schärfung der Differenz, die strukturelle und geschichtliche Lebensrealitäten prägen. Besonders prägend war dies im Kontext der Veröffentlichung des Bandes Mittäterschaft und Entdeckungslust (Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin 1989). In den Thesen zur Mittäterschaft geht Christina Thürmer-Rohr davon aus, dass „nicht nur der Mann verantwortlich ist für die Minderbewertung der Frau, durch sein tägliches Tun und Lassen, […] sondern auch die Frau ist mitbeteiligt […] an der mystifizierenden Hochbewertung des Mannes, seiner Produkte und Entscheidungen, auch wenn sie an deren Erstellung, Ausführung, Umsetzung, Durchführung im allgemeinen überhaupt nicht beteiligt ist (1989a, 31).

Gerade im Kontext von Gewaltverhältnissen ist diese These bestechend, zeigt sie doch auf, dass Frauen* zu Mittäterinnen im Patriarchat werden können, und zwar durch ihre Haltungen, aber auch in ihren Handlungen, indem sie beispielsweise Taten von Männern billigen, ignorieren, großzügig über sie hinwegschauen, diese mittragen oder aber aktiv unterstützen – und damit auch den Nährboden für gewalttätige Handlungen bereiten.

Diese Publikation und die ihr vorausgegangenen Diskussionen haben dazu beigetragen, dass (feministische) Frauen* begannen, die ausschließlich kollektive Wahrnehmung von Frauen* als Opfer im Geschlechterverhältnis in Frage zu stellen. Die Tatsache, dass sie es in Betracht zogen, möglicherweise auch Mittäterinnen zu sein, hat aus meiner Sicht viel damit zu tun, dass diese These von keiner anderen als Christina Thürmer-Rohr vorgestellt wurde. Sie war schon damals eine Ikone der weißen Frauenbewegung und dabei, eine genderspezifische Analyse auch in der akademischen Welt fest zu verankern. Mit diesen Positionen hat Christina Thürmer-Rohr auf eindrückliche Weise von ihrer Definitions- und Artikulationsmacht Gebrauch gemacht und damit die Diskussion um eine Täterschaft von Frauen überhaupt erst ermöglicht.

Leider wurde die These aber auch gelesen als eine, die davon ausgeht, dass Frauen* „nur“ Mittäter*innen sein können und nicht etwa auch Täterinnen. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die Deklaration von KZ-Aufseherinnen, Denunziantinnen, Kriegsgewinnerinnen etc., als Frauen, die die harte Kennzeichnung [Täterin] allein zu verdienen scheinen (ebd., 15). Dies widersprach den Erfahrungen von Frauen, die neben der Zugehörigkeit zur Kategorie „Frau“ auch selbstverständlich gleichzeitig Zugehörigkeiten zu anderen Kategorien intersektional vertraten und fortwährend auf die Täterschaft von Frauen hinwiesen.

Sie wiesen und weisen darauf hin, dass in anderen Herrschaftsverhältnissen – wie etwa Rassismus, Antisemitismus, Ableism, Heteronormativität und/oder Klassismus – Frauen* genauso an eigenen, selbstverantworteten Taten beteiligt sind, diese eigenständig durchführen und damit diese Herrschaftsverhältnisse auf alltäglicher, diskursiver, institutionalisierter und/oder struktureller Ebene unterstützen und verfestigen. Da diese Einwände vorwiegend von Frauen* kamen, die als „Andere“ deklariert wurden, ließ sich ihre Kritik abtun mit dem Vorwurf der Illoyalität gegenüber feministischen Vordenkerinnen; übersehen wurde hierbei, dass die Kritiken ja von Feministinnen kamen – aber eben keinen hegemonialen Feministinnen.

Thürmer-Rohr selbst wies immer wieder darauf hin, dass sich die Mittäterschaftsthese ausschließlich auf die Komplizenschaft im Patriarchat bezieht und es nicht ihre Absicht war, die eigenständige Täterschaft von Frauen* in anderen Herrschaftsverhältnissen zu negieren (vgl. u.a. Thürmer-Rohr 2004). Aber scheinbar ist auch dies zum Teil nicht gehört worden oder wollte nicht gehört werden. Nur so ist zu erklären, dass beispielsweise im Rahmen der Filmpremiere und Diskussion des Films von Gerd Konrad zu Leben und Wirken von Christina Thürmer-Rohr, „anfangen“, am 23.10.2014 in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eine Täterschaft von Frauen* aus dem Publikum negiert und sehr ärgerlich zurückgewiesen wurde; all das trotz Beate Zschäpe (NSU) oder den Folterungen auch durch Lynndie England in Abu Ghraib!

Die Kritik an der These von der Mittäterschaft wurde seinerzeit auch gegenüber Christina Thürmer-Rohr zum Ausdruck gebracht. Es ist bezeichnend, dass viele der Kritikerinnen durch die Auseinandersetzung mit Thürmer-Rohr letztendlich zu Freundinnen, Weggefährtinnen und Kolleginnen wurden. So ist auch unsere Verbindung entstanden – eine Verbindung, die durch die Abgrenzung dazu beigetragen hat, eigene, vielleicht „andere“ politische Konzepte zu entwickeln, zu schärfen und zu verteidigen. Vielen Dank dafür!

Ein weiterer Dank gilt der Ermöglichung der Etablierung von Gender als Kategorie in der deutschsprachigen akademischen Welt. Die Tatsache, dass es heute Professuren, Studiengänge, (Pflicht)Seminare in Hochschulen/Universitäten gibt, die auf Gender (mal mehr, mal weniger, intersektional) als Kategorie fokussieren, wäre ohne die Arbeit und Inspirationen von Christina Thürmer-Rohr undenkbar. Sie initiierte bereits in den 1980er Jahren den Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin. Viele damalige Studierende sind heute geschätzte Kolleg*innen und tragen dazu bei, genderspezifische Analysen weiter zu entwickeln, manches neu oder anders zu denken. In jedem Fall aber sorgen sie dafür, dass Auseinandersetzungen mit Diskriminierungskategorien im Blickfeld der (akademischen) Welt bleiben.

Eine Verbindung ganz anderer Art wirkt auf den ersten Blick „privat“ und nicht politisch; ich halte sie aber für hochgradig politisch, und es zeigt, dass Thürmer-Rohr nicht nur politisch denkt, redet und schreibt, sondern auch handelt. So gehörte sie zu den wenigen alleinerziehenden, berufstätigen Müttern, die mich sehr ermutigten, davon auszugehen, dass dieser Weg leistbar ist und keineswegs bedeutet, dass Frauen sich zwischen Karriere und Kind entscheiden müssen. Sie hat es vorgelebt und auch hier Recht behalten.

Literatur

Heinrich-Böll-Stiftung (2014): Filmpremiere und Diskussion – „anfangen“. Christina Thürmer-Rohr im Gespräch, http://www.gwi-boell.de/de/2014/10/23/filmpremierediskussion-anfangen-christina-thuermer-rohr-im-gespraech (letzter Zugriff am 12.9.2016).

Thürmer-Rohr, Christina (1989): Einführung – Forschen heißt wühlen. In: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Hrsg. von Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 12-21.

Thürmer-Rohr, Christina (1989a): Frauen in Gewaltverhältnissen. Zur Generalisierung des Opferbegriffs. In: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Hrsg. von Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 22-36.