„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

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In den Tagen nach dem mörderischen, antisemitisch, rassistisch und anti-feministisch motivierten Attentat in Halle am 9. Oktober 2019 gab es nicht wenige Stimmen, die nicht nur überrascht taten, sondern die Tat selbst als Tat eines Einzelnen verstanden wissen wollten. Doch faschistische Gewalt geschieht nicht überraschend und auch wenn sie von Einzelnen ausgeübt wird, so ist sie dennoch nicht die Tat eines Einzelnen. Faschistische Tat und faschistische Gewaltstruktur gehören zusammen. Sie ist auch Ergebnis der Normalisierung neoreaktionärer Politiken. Mit dieser Normalisierung neoreaktionärer Politiken haben sich die feministischen studien in Heft 2_2018 auseinandergesetzt. Aus gegebenem Anlass posten wir daher hier Auszüge aus der Einleitung zum Heft.

Im Spätsommer 2018 ziehen Neonazis und rechte Hooligans durch die Straßen von Chemnitz und machen gleichermaßen Jagd auf als Nicht-Deutsche wahrgenommene Personen wie auf Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen. Es gelingt ihnen zeitweise, mitten in Deutschland einen rassistischen Ausnahmezustand zuetablieren. Der stetig stärker werdende, neoreaktionär agierende, faschistische Flügel der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) um Björn Hocke verbündet sich aktiv mit den marodierenden Nazibanden und den mehrheitlich, aber nicht ausschließlich männlichen Aktivist*innen von „Pegida“, den „Identitären“ und der verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ). Höcke führt gemeinsam mit Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, den Initiatoren von „Pegida“, dem Publizisten, Aktivisten und Geschäftsführer des neurechten Verlags Antaios, Götz Kubitschek, und dem Kopf der österreichischen „Identitären“, Martin Sellner, dessen Buch Identitär in Kubitscheks Antaios-Verlag erschienen ist, den so genannten „Trauermarsch“ an, der vorgeblich dem Gedenken an den, wenige Tage zuvor in einer Messerstecherei zu Tode gekommenen Daniel H. gilt. Es ist der 1. September 2018, der 79. Jahrestag des Überfalls aufdie Zweite Polnische Republik, der Beginn des von Nazi-Deutschland ausgegangenen und die Welt verheerenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieges; auch der Beginn des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Jüd*innen.

Die Parole der ’89er Revolution, die zum Sturz des SED-Regimes und dem Ende der DDR beitrug, „Wir sind das Volk“, haben sich Höcke, Bachmann, Kubitschek und ihre Anhänger längst zu eigen gemacht. Ihre xenophoben Gewaltmärsche deklarieren sie als Selbstverteidigung gegen die so genannte „Messermigration“ und wähnen sich berechtigt, dies zu tun, weil „der“ Staat „die“ Bürger nicht schütze und Merkel „die Vandalen“ ins Land geholt habe. Indem es Höcke und Co.gelingt, die destruktiven Energien rassistisch motivierter Normalbürger*innen, neurechte „intellektuelle“ Vordenker*innen, Thinktanks und Publikationsprojekte, zunehmend besser organisierte und bislang in der NPD organisierte, militante Neonazis sowie den rechtsextremen Flügel der AfD zusammen zu führen, nimmt das Projekt einer völkisch-nationalen Sammlungsbewegung in Chemnitz erstmals deutlich Gestalt an.

Derweil relativiert der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmar die gewaltvollen Aufmärsche, der deutsche Innenminister Horst Seehofer macht einmal mehr Migration als „Mutter aller Probleme“ aus, der Chef des deutschen Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, bezweifelt öffentlich via BILD-Zeitung, dass in Chemnitz überhaupt rechte, rassistisch motivierte Hetzjagden stattgefunden hätten und die Chefredakteure von ZDF und ARD nehmen die Einladung zu einem von der AfD Dresden organisierten Podium zu „Medien und Meinung“ an. Immer noch stehen Feuilleton-Redaktionen bei Götz Kubitschek in Schnellroda Schlange und beginnen Reportagen über ihn und seine Familie mit Beschreibungen eines idyllischen Familienabendessens mit Salat, Ziegenkäse und selbst gebackenem Brot. Thilo Sarrazins neue Kampfschrift, Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018), steht schon nach wenigen Tagen beim größten Buchversandhändler in den Sparten Politik, Multikultur und Wirtschaft auf Platz 1 der Verkaufslisten. In Berlin organisiert der Bundesverband Lebensrecht zusammen mit christlichen Fundamentalist*innen zum fünfzehnten Mal den „Marsch für das Leben“, der u.a. die Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zum Ziel hat.

Schlaglichter einer Verschiebung der gesellschaftlichen Diskurse weit nach rechts, ermöglicht durch die andauernde Infragestellung der Grenzen des Sagbaren und die fortgesetzte Rede des „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Ermöglicht auch durch die Umkehrung von Tabus und die gezielte Verbreitung von rassistischen, islamfeindlichen, antisemitischen und anti-feministischen fake news sowie kruder Verschwörungstheorien in den sozialen Medien und Netzwerken. Ermöglicht schließlich durch nationalistische und völkische Kampagnen und Parteipropaganda, den durchschlagenden elektoralen Erfolg der erst 2013 gegründeten AfD, die Zunahme des Organisationsgrads, der Militanz und Gewaltbereitschaft außerparlamentarischer Gruppen und Bewegungen und nicht zuletzt durch die in Teilen idyllisierenden und verharmlosenden Reportagen über Kubitschek und andere neurechte Ideolog*innen sowie das Beharren nicht Weniger, die Rechten hätten ein Recht darauf, ihre demokratiefeindliche, schmähende und Menschen verachtende Hassrede zu führen.

Das Land hat sich verändert. Was in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, in Mölln und Solingen Anfang der 1990er Jahre begann und im Terror des NSU auf infamste Weise fortgesetzt wurde, zeigt sich heute auf den Straßen von Chemnitz und Freital, in den täglichen Angriffen auf geflüchtete Menschen und ihre Unterkünfte, in den Gewaltandrohungen gegenüber jenen, die sich für Geflüchtete engagieren. Längst haben wir auch nolens volens zu leben gelernt mit dem aggressiven und auf Ressentiment gestimmten Ton, den Publizist*innen und Politiker*innen wie Birgit Kelle und Harald Martenstein, Akif Pirinci und Beatrix von Storch, Thilo Sarazin, Matthias Matussek und viele andere anschlagen, wenn es um die Rechte geschlechtlicher, sexueller und anderer Minderheiten, um die geschlechtergerechte Gestaltung unserer Gesellschaft ganz allgemein oder die Gender Studies im Besonderen geht – und uns damit auseinander gesetzt. Sie alle haben wesentlich dazu beigetragen, dass eine Grammatik der Härte und die Register der Bezichtigung und des Verdachts, der Verfemung und Verleumdung zunehmend den öffentlichen Comment prägen. Respektlosigkeit, Hassrede und Gewalt sind so zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden. Vernachlässigung und Verunsicherung, Ausgrenzung und Entwürdigung prägen vielleicht mehr denn je das gesellschaftliche Miteinander. Ein auftrumpfender und niederträchtiger Rassismus vergiftet das soziale Klima; sexistische sowie homo- und trans*feindliche Anfeindungen und Übergriffe nehmen zu. Das politische Parteiensystem findet keine Antwort auf die neoreaktionäre Landnahme der Demokratie oder bewegt sich – allen voran die CSU – selbst weiter nach rechts. Unterdessen etablieren sich in 14 deutschen Landtagen und im Bundestag AfD-Thinktanks, mit denen Akteur*innen aus dem völkisch-nationalistischen Spektrum in den Plenarsälen und der Öffentlichkeit für eine Normalisierung kruden völkischen Gedankenguts sorgen. Und während sich in Dresden und auch in vielen anderen Orten in Deutschland noch immer viele Hunderte von Islamfeindlichkeit mobilisieren lassen, anderenorts die Mobilisierung gegen „Genderwahn“, „Genderterror“ und die vorgebliche „Frühsexualisierung“ von Kindern zeitweise Abertausende „besorgte Bürger“ auf die Straßen brachte und so genannte Hooligans gegen Salafisten (HoGeSa) marodierend durch Köln und Hannover zogen, breiten sich die teils selbst ernannten, teils von den Medien dazu hochgejazzten „intellektuellen“ Vordenker*innen und Schriftsteller*innen des völkisch-nationalistischen Projekts auf den virtuellen und analogen Marktplätzen der Republik aus, um ihre Ideologie in den Kapillaren der Gesellschaft zu versenken. Mit ihrer Präsenz auf den Straßen und Plätzen, in den TV-Talkbuden und Sommerinterviews, in den täglichen Nachrichten, auf Twitter, Facebook und Youtube, in der Bildungsarbeit, in Sportvereinen und Nachbarschaftshilfen, in den Parlamenten und staatlichen Verwaltungen verfügt die Neue Rechte über das vielleicht wichtigste politische Instrument, um ihre Vorstellungen in den Herzen und Hirnen der Menschen zu verankern: Deutungshoheit. Der Prozess der Normalisierung neoreaktionärer Politiken der Feindschaft ist längst in vollem Gange.

Diese Normalisierung reaktionärer, teilweise proto-faschistischer Politiken ist freilich nicht auf Deutschland beschränkt. Das weltweite Erstarken autoritärer Regime ebenso wie der Vormarsch terroristischer und fundamentalistischer Bewegungen, die zunehmende Spaltung der Gesellschaften in einen wie auch immer sich liberal-demokratisch verstehenden und einen rechtspopulistischen Teil, der stete Ruf nach einfachen Lösungen, das Absterben der Institutionen und Garantien der parlamentarischen Verfassungsdemokratie, der Mangel an inneren wie äußeren Frieden schaffenden Diskursen und Erzählungen, die Atomisierung der Subjekte im endlosen Strom der Waren und Medien, die Wiederbelebung manichäischer Freund / Feind-Dichotomien, die Dämonisierung der Fremden und der Rückgriff auf das vermeintlich Eigene, das es gegen diese Fremden zu verteidigen gilt, die Wiederkehr von Begriffen wie „Volk“, „Nation“ oder gar „Rasse“, ebenso wie der Rekurs auf „Heimat“, „Kultur“ und „Identität“, auf „natürliche Geschlechterunterschiede“ und „angestammte Territorien“; die Rede davon, dass „die“ Fremden uns überrollen oder überschwemmen, sie unsere „Sozialsysteme destabilisieren“, „unsere Werte“ missachten und ungerechtfertigt etwas bekommen, was doch eigentlich nur „uns“ zusteht, sind in der Tat Anzeichen dafür, wie sehr die Grenzen zum Autoritären, Neoreaktionären, jedenfalls nicht mehr an der Demokratie, an Solidarität und Emanzipation orientierten verschoben wurden. Dazu gehört, wie gesagt, in der Regel auch ein mehr oder minder explizit formulierter Anti-Feminismus und Anti-Genderismus, die nicht als isolierbare Positionen zu verstehen sind, sondernals Teil einer (extrem) rechten Ideologie, für die der Fokus auf Nation undVolk als identitäre und homogene Gemeinschaften konstitutiv ist.

Anlässe zuhauf für die feministischen studien, nach den Möglichkeitsbedingungen der Verschiebung nach rechts sowie der Etablierung und Normalisierung neoreaktionärer Politiken zu fragen. Wir wollten (erste) Antworten aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern und unterschiedlichen disziplinären Hintergründen finden, um die Frage, wie das möglich ist,beantworten zu können. Wie vollzieht sich die Verschiebung nach rechts, die auch eine Diskursverschiebung ist, darin aber nicht aufgeht? Welche Dynamiken der Normalisierung rechter Rhetorik lassen sich ausmachen? Wie werden antidemokratische Einstellungen verbreitet und zunehmend zu ›normalen‹ Ansichten? Kurzum: Wie werden reaktionäre Politiken normalisiert? 

Wenn wir von „neoreaktionären Politiken“ sprechen, wollen wir dies in deskriptiver Hinsicht verstanden wissen als Zusammenführung verschiedener Kräfte, die von national-konservativen über rechtspopulistische bis hin zu rechtsextremen, antidemokratischen Positionen, Programmen und Bewegungen reichen – und deren Verbindung in der Arbeit gegen die Demokratie und an der Aufhebung liberaler Werte besteht. Der Begriff ‚neoreaktionär‘ erscheint uns als derzeit passende Beschreibung dieser Koalition und ihrer Ziele: Neoreaktionäre Politiken reagieren auf gesellschaftspolitische Entwicklungen der Liberalisierung oder Reflexivierung und sind darauf gerichtet, emanzipatorische Errungenschaften im Bereich der Lebensformen, der Geschlechterverhältnisse und der Sexualität sowie der Familie zurückzunehmen und die mit Migrationsprozessen einhergehende soziale wie kulturelle Veränderung von Gesellschaft ebenso wie Prozesse politischer und wirtschaftlicher Globalisierung zu stoppen. Die neoreaktionäre Zukunft besteht in einer imaginierten Vergangenheit nationaler wie kultureller Homogenität, geschlechtlicher Eindeutigkeit und traditioneller Lebensformen. Die Verbindung zwischen historischen reaktionären und aktuellen neoreaktionären Kräften ist die Ablehnung der Demokratie. Bezeichnete der erste Begriff die Koalition aus Adel, Klerus und Besitzenden, die sich Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich gegen Aufklärung und bürgerliche Revolution formierte, so ist die Abwehr der ‚kulturellen Revolution‘, die häufig mit der Chiffre ’68 verbunden wird, die treibende Kraft der neoreaktionären Formation. 

Die Beiträge zu diesem Heft greifen diese Perspektive und die aufgeworfenen Fragen auf verschiedene Weise auf. Sie untersuchen, wie rechte Diskurse funktionieren und welche Bedeutung dem Rekurs auf traditionelle Geschlechterrollen und Familienverhältnisse dabei zukommt. Sie gehen der Verbreitung neoreaktionärer Ansichten nach und fragen nach den intellektuellen Fundamenten der rechten Weltanschauung, aber auch danach, wie rechtem Hass auf politische wie analytische Weise zu begegnen ist. In den Blick gerückt werden bislang in diesem Zusammenhang wenig beachtete soziale Kontexte wie die von Franziska Schutzbach beschriebene Szene der so genannten Pick Up Artists (PUA) – eine Szene, die sich selbst als Selbsthilfe-Community beschreibt, in der Männer lernen, wie sie Frauen „verführen“.

Sabine Hark und Aline Oloff