„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

„Solidarność według kobiet“, Dokumentarfilm von Marta Dzido, PL 2014

Millionen polnischer Frauen engagierten sich in den 1980er Jahren in der polnischen Gewerkschaft Solidarność und trugen damit zur politischen Wende 1989 bei. Doch im kulturellen Gedächtnis Europas ist der Beitrag dieser Aktivistinnen nahezu ausradiert. Nun widmet sich der faszinierende Dokumentarfilm „Die Frauen der Solidarność“ von Marta Dzido diesem bedeutenden Kapitel der europäischen Geschichte und betreibt damit filmische Erinnerungsarbeit.

Eine feministische Perspektive auf soziale Bewegungen

In der Geschichtsschreibung sozialer Bewegungen wird der politische Aktivismus beteiligter Frauen häufig ausgeblendet. Stattdessen wird Bewegungsgeschichte auf männliche Akteure verkürzt. So auch im Falle der Solidarność, der größten Oppositionsbewegung im kommunistischen Osteuropa, die in ihren besten Zeiten zehn Millionen Mitglieder zählte, davon die Hälfte Frauen. Obwohl die Gewerkschafterinnen Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen für eine Demokratisierung der Gesellschaft kämpften, ist kaum eine der rund fünf Millionen Frauen aus der Solidarność namentlich bekannt. Und das, obwohl es gerade die Frauen waren, die in den Jahren nach der Verhängung des Kriegsrechts und dem Verbot der Gewerkschaft 1981 konspirative Strukturen aufbauten. Dennoch blieben ihnen Führungspositionen innerhalb der Gewerkschaft verwehrt, und 1989 saß lediglich eine einzige Frau aus der Solidarność bei den Verhandlungen mit am „Runden Tisch”.

Auf Spurensuche nach den vergessenen Aktivistinnen

Alinka, Dorota, Jadzia, Teresa, Ania, Danuta, Krystyna oder Maria – Aktivistinnen, deren Namen verblassen und allmählich in Vergessenheit geraten. Sie haben Piratenradio betrieben, illegale Zeitschriften gedruckt und verteilt, konspirative Treffen abgehalten und sich der ständigen Gefahr einer Verhaftung und langen Gefängnisstrafe ausgesetzt. „Die Geschichte der Frauen ist überwachsen mit Unkraut und Moos“, heißt es im Film. Wie lässt sich diese verborgene Geschichte bergen und zurückgewinnen? Die Regisseurin Marta Dzido, Jahrgang 1981, begibt sich in ihrem Dokumentarfilm auf eine faszinierende Spurensuche nach den Frauen in der Solidarność. Dzido befragt Aktivistinnen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten nach den Beweggründen für ihr politisches Engagement. Durch ihren Film kann Dzido ein breiteres Publikum erreichen, als es die unverzichtbare akademische Forschung zum Thema bzw. bislang nur auf Polnisch erschienene Publikationen zu leisten vermögen. Dzidos Film macht deutlich, dass die Frauen in der Gewerkschaft keineswegs im Schatten ihrer männlichen Kollegen standen. Viele von ihnen sind auch heute noch politisch aktiv.

Filmemachen als Erinnerungsarbeit

„Die Frauen der Solidarność“ präsentiert sich als Collage aus Interviews, Amateurfotos, Home Movies, Kinderfotos sowie dokumentarischen Aufnahmen von Streiks und politischen Aktionen. Verbunden wird das vielfältige Archivmaterial durch die Stimme der Ich-Erzählerin. Und die ist selbstironisch und unsentimental: ”Die Wende 1989 ist für mich eher mit unserem ersten Videorekorder verbunden als mit dem Sturz des Kommunismus.” Was auf den ersten Blick als politisch naiv daherkommen mag, erklärt sich mit dem Alter der Filmemacherin: Sie war zur Zeit der Wende erst acht Jahre alt. Das Alter Ego der Regisseurin, die sich visuell und über die Tonspur in den Film einschreibt, stellt klar: “In meiner Familie gab es keine Revolutionäre. Es sei denn man nennt die Tatsache revolutionär, dass mein Vater als einer der ersten Väter in Polen Erziehungsurlaub nahm.” Mit dieser lakonischen und selbstkritischen Haltung gelingt es dem Film, sich wohltuend von der Masse effekt- (und affekt-)heischender TV-Dokus abzuheben. Hier bleibt die subjektive Haltung nicht privat, sondern wird politisch!

Es ist eine der großen Stärken dieses Films, dass die Regisseurin sich ihrer eigenen Positionierung stets bewusst ist. Insbesondere den Generationenunterschied zu den Frauen der Solidarność macht der Film deutlich. Das erhöht nicht etwa die Distanz zu den Frauen, sondern verhindert gleichermaßen eine Vereinnahmung wie eine unkritische Heroisierung. Dabei werden die Interviewsequenzen nicht einfach unreflektiert mit den Archivbildern zusammenmontiert, sondern durch das Sichtbarmachen ihres Entstehungsprozess wird die Konstruktion von Zeitzeug_innen kritisch beleuchtet. Somit reduziert der autobiographische Ansatz des Films nicht etwa Geschichte auf ein subjektives Erleben, sondern dient der Situierung der Filmemacherin im politischen Kontext. Sie macht dadurch ihren kritischen Blick auf die „Meistererzählung“ um die Solidarność sichtbar.

Eine filmische Intervention ins kulturelle Gedächtnis

„Die Frauen der Solidarność“ ist nicht nur eine feministische Aufarbeitung der polnischen Demokratiebewegung, sondern führt zugleich modellhaft vor, wie sich die Geschichte sozialer Bewegung schreiben lässt und wie innerhalb der hegemonialen Geschichtsschreibung marginalisierte Aktivist_innen erneut agency erlangen können. „Jede war anders, und machte ihr eigenes Ding“, erzählt eine Zeitzeugin im Film, dessen unbestrittene Leistung darin besteht, die Aktivistinnen nicht auf eine einheitliche Gruppe zu reduzieren, sondern ihre politische und intellektuelle Diversität herauszuarbeiten. Hier geht es nicht um eine bloße Komplettierung hegemonial gewordener Narrative im Sinne eines „wir waren auch dabei“, sondern darum, die Konstruktion solcher patriarchaler (und eurozentrischer, kolonialer und heteronormativer) „Meistererzählungen“ kritisch zu hinterfragen. So thematisiert der Film, wie die polnische Solidarność im Rückblick als eine mythologisierte Bewegung bärtiger Männer um den Gewerkschaftsführer und späteren Friedensnobelpreisträger Lech Walesa erscheint, der zur Ikone stilisiert wurde. „Das offizielle Narrativ über die Geschichte der Solidarność ist eine Erzählung über Männer. Vollbärtige Intellektuelle und Arbeiter mit Schnurrbart, die wie tapfere Cowboys die Freiheit erkämpfen“, so formuliert es die Ich-Erzählerin im Kommentar des Film selbstironisch.

Dank ihrer feministischen, selbstkritischen und selbstreflexiven Haltung ist Marta Dzido ein fabelhafter, überzeugender Film gelungen, der zu Recht bereits auf internationalen Festivals mit Preisen ausgezeichnet wurde. „Die Frauen der Solidarność“ ist ein kluger Film über politische Bewegungen in Europa, der Fragen über Geschichtsschreibung und die darin entworfenen Männlichkeitskonstruktionen aufwirft. Sehenswert!

Im Januar ist „Die Frauen der Solidarność“ (Solidarność według kobiet, PL 2014) in Chemnitz (6.1) und Jena (25.1) zu sehen. Alle Termine und weitere Informationen auf der Website zum Film.