„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass ich die Gedenkstätte des KZ für Frauen* in Ravensbrück bei Fürstenberg an der Havel das erste Mal besuchte. Bis heute erinnere ich mich lebhaft an diesen schon recht kühlen, wenig spätsommerlichen Septembertag. Ein grauer, bedeckter Tag. Über den Schwedtsee strich, nicht ungewöhnlich, ein rauer Wind in Richtung Gedenkstätte. Was uns damals irgendwie passend erschien. Würde sonniges Wetter zum Besuch einer KZ Gedenkstätte passen? Verblüfft waren wir, wie – zum Greifen – nah die Stadt Fürstenberg ist.

Wir, das war ein Kreis politisch und persönlich eng verbundener, mehrheitlich, aber nicht ausschließlich lesbisch lebender Freund*innen aus dem Zusammenhang des Frauen*widerstandscamps gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen im Hunsrück. Über mehrere Jahre organisierte dieser Kreis in den 1980er Jahren ein autonomes politisches Austauschprogramm mit Frauen* und Lesben* aus dem Women’s Peace Camp in Seneca Falls, USA. Die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte, dem NS und der Shoah war ein regelmäßiger Teil dieser Begegnungen. 1986 gehörte auch ein Besuch der Gedenkstätte Ravensbrück dazu. Organisiert mit dem staatlichen Reisebüro der DDR: Gedenkstättenbesuch mit anschließendem Mittagessen – es gab Rotkohl und Rouladen – in Gransee.

Mit einem voll besetzten Reisebus waren wir aus Westberlin angereist. Junge west­deutsche, westberliner und US-amerikanische Feminist*innen. Etliche der US-Amerika­nerinnen jüdisch, die Mehrzahl der Deutschen christlich aufgewachsen, damals jedoch längst schon nicht mehr religiös gebunden. Weil unsere Gruppe den Bus alleine nicht gefüllt hatte, waren die übrigen Plätze an andere Frauen* aus der westberliner femi­nistischen Szene vergeben worden. Was zu einer Quelle von Auseinandersetzungen wer­den sollte, die weit über diesen Tag hinausreichten.

Auf dem Besichtigungsprogramm stand eine Führung durch die erst 1984 in der ehemali­gen SS-Kommandatur eingerichtete Dauerausstellung: Das »Museum des antifaschi­stischen Widerstandskampfes«. Außerdem ein individueller Rundgang durch die »Aus­stellung der Nationen« im Zellenbau, die Besichtigung des Erschießungsgangs und der provisorischen Gaskammmer sowie ein Spaziergang entlang der »Mauer der Nationen« zur der den Schwedtsee überblickenden Skulptur »Die Tragende« von Willi Lammert.

Wir hatten uns intensiv auf diesen Tag vorbereitet. Antisemitismus und Rassismus, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen sowie die Fragen deutscher Schuld und Verantwortung waren Themen, die in diesen Jahren nicht nur uns umtrieben. In der Ausstellung in Ravensbrück fanden wir davon damals nichts wieder. Wir fragten nach jüdischen Häftlingen. Ihre repräsentationale Abwesenheit war für uns deutlich sichtbar und warf ein absurdes, grelles Licht auf die Ausstellung: Die präsen­tierte Geschichte war eine des antifaschistischen Widerstands, nicht der Shoah. Wir kannten die erstmals 1982 im Rijksmuseum Amsterdam ausgestellten Zeichnungen von Aat Breur. Sie hatte auch das qualvolle Leben und Sterben ungarischer Jüdinnen im berüchtigten Zelt von Ravensbrück im Herbst und Winter 1944/45 gezeichnet. Wir sahen die Auslassungen im Museum des antifaschistischen Widerstands.

Im Frauenwiderstandscamp im Hunsrück und im Women’s Peace Camp in Seneca Falls hatten wir jeweils erkundet, was es bedeutet, politisch von uns selbst auszugehen, poli­tischen Widerstand und miteinander leben und lieben zu verbinden. Dass politische Differenzen und Unterschiede, die aus unseren jeweiligen sozialen, kulturellen und geo­politischen Herkünften und Verortungen resultierten, auch Anlässe für Begegnungen statt Gelegenheiten für Trennung darstellten, war Teil dieser auch schmerzhaften Erfahrung, gerade in den Begegnungen zwischen nicht-jüdischen deutschen und jüdischen Frauen*. Nicht zuletzt darauf gegründet, dass die Wege der Liebe und der politischen Überzeugun­gen sich oft überraschend und selten den Gesetzen der Logik und der klaren Grenz­ziehung folgend kreuzten. Und weil wir aus der Erfahrung, lesbisch zu leben – vielleicht eher intuitiv als definitiv wissend – gelernt hatten, das Haus des Andersseins selbst und nicht die Sicherheit eines einzelnen Unterschieds als unseren Ort zu begreifen, wie Audre Lorde, deren Texte wir damals verschlangen, es formuliert hatte.

Kurz gesagt: Das Persönliche war für uns unmittelbar politisch und das Politische auch eine persönliche Angelegenheit. Dass wir auf dem Rundgang nicht nur nach jüdischen Frauen, sondern auch nach lesbischen Insassinnen* in Ravensbrück fragten, war daher für uns eine logische Folge dieser Haltung. Nicht glauben konnten wir, dass lesbisches Leben keine Rolle gespielt haben sollte im Lagerleben. Mit jugendlicher Dringlichkeit insisis­tierten wir, dass es Gegenstand der Forschung und des Gedenkens sein müsste. Von den Aktivitäten der ostberliner Gruppe »Lesben in der Kirche« wussten wir im Übrigen nichts.

Wir beendeten den Rundgang in Sichtweite der ›Tragenden‹ mit einem Ritual: einem Energiekreis, wie wir das damals nannten. Eine weniger spirituelle, transzendentale Prak­tik als der eher irdische Versuch, den affektiven Bindungen zwischen uns sowie dem emotionalen Erleben des Tages einen Ausdruck zu geben. Dass wir mit unseren Fragen nach lesbischen Frauen* auf Unverständnis bei den Gedenkstätten-Offiziellen gestoßen waren, hatte uns nicht unbedingt erstaunt. Ebenso beharrlich wie wir fragten, wichen sie aus und blieben bei der Behauptung, unter den Inhaftierten seien keine Lesben* gewesen. Irritierender waren für uns dagegen die Reaktionen der anderen Feministinnen aus der Westberliner Szene. Ignorierend, dass zu unserer Gruppe auch jüdische Lesben gehörten, warfen sie uns Partikularismus und unzulässige Verallgemeinerungen vor, taten unseren Energiekreis als spirituelle Spinnerei ab, der Ungeheuerlichkeit des Ortes nicht ange­messen. Wie wir im Angesicht der mörderischen NS-Vernichtungspolitik nach Lesben* hatten fragen können, fanden sie historisch belanglos und politisch indiskutabel, wenn nicht gar geschmacklos. Eine Verständigung mit ihnen gelang – teilweise auf Jahre hin – nicht.

Warum erzähle ich diese lange zurückliegende Episode so ausführlich? Zunächst natür­lich, weil auch sie zur komplizierten Geschichte der Erinnerungspolitiken an die Opfer des NS gehört. Weil sie Teil der bis heute andauernden Bemühungen ist, überhaupt erst einmal die Frage, ob lesbische Frauen* zu jenen gehören, denen im Zusammenhang mit der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des NS gedacht werden sollte, als eine sinn­volle und legitim zu stellende Frage zu etablieren. Denn genau das ist auch dreißig Jahre später die noch immer zu bearbeitende Frage: Ob und wenn ja welche Art von Verfol­gung Lesben* erlitten haben und wie dieser angemessen zu gedenken wäre. Und dazu gehört ebenso, nach dem Stellenwert der Zerschlagung lesbischer Kultur für die histo­rische Möglichkeit, eine lesbische Subjekt-Position auszubilden, zu fragen, wie einzu­rechnen, dass es womöglich keine systematische Verfolgung mit dem Ziel der Vernich­tung von Leib und Leben gegeben hat und nicht zuletzt auch die Frage einer möglichen Täterschaft lesbischer* Frauen nicht auszuklammern.

Meine kleine Geschichte erzählt freilich auch vom prekären Status lesbischer* Identitäten. Nicht nur, aber auch auf dem Feld der Erinnerungspolitiken. Denn weder ist lesbisches Leben ein unumstrittener Teil der Welt, noch kann, wie die damaligen Reaktionen auf unsere Fragen nach lesbischem Leben in Ravensbrück zeigen, unangefochten danach gefragt werden. Dieses Leben zu thematisieren, nach lesbischer Erfahrung zu fragen, ähnlich selbstbewusst wie Schwule zu reklamieren, ›Teil der ganzen Geschichte, aber auch etwas Eigenes, nämlich lesbisch zu sein‹, um eine Formulierung des Künstlers Michael Elmgreen aufzugreifen, ist, wie wir damals erlebten und auch heute noch erfah­ren können, immer wieder begleitet von Politiken der Beschämung, von Gesten der Verharmlosung, der Delegitimierung und des Lächerlichmachens, des Verwiesen-werdens in Zonen der Belanglosigkeit, des Irrealen und Unechten. Begleitet auch von dem ignoranten Refrain, dass Lesben* sich nicht so haben sollen, sie unlautere Interessenpolitik betrieben, sich eine (Opfer-)Identität erschleichen wollten. Oder wie ist die seitens schwuler Historiker wiederholt vorgebrachte Anschuldigung, Lesben* würden »unter der Flagge scheinbarer political correctness« den Mythos einer durch das NS-Regime durchgeführten Lesben­verfolgung fortschreiben, anders denn als Unterstellung eines kalten, zynischen Kalküls im Wettstreit um die beste Opferposition zu verstehen?

Ein Vorwurf im Übrigen, der nicht nur Ausdruck der beharrlichen Missachtung dessen ist, dass Historikerinnen wie Claudia Schoppmann, Kirsten Plötz und andere bereits seit Jahrzehnten auf die »abgestufte und differenzierte Homosexuellenpolitik« des NS-Regimes hinweisen und immer wieder betont haben, dass sich generell keine syste­matische Verfolgung lesbischer Frauen* nachweisen lasse. Ausdruck auch dessen, die methodologische Warnung, den Verfolgungsbegriff rein auf Strafverfolgung und Internierung in Konzentrationslager zu verengen oder allein an der Zahl der Opfer zu messen, ausgeschlagen zu haben.

Zudem ein keinesfalls nur im Zusammenhang mit NS-Erinnerungspolitiken erhobener Vorwurf. Dass Lesben* nicht verfolgt wurden, keine strafrechtliche Diskriminierung erlitten, ergo doch eigentlich weder etwas zu beklagen noch etwas zu erinnern haben, sie ihre historische Unerheblichkeit, also dass sie nicht einmal ›ordentlich‹ diskriminiert worden sind, aber mit aggressiver Militanz zu vertuschen suchen, ist ein Mythos, der so alt ist wie die Bestrebungen, ein schwules Selbstbewusstsein zu entwickeln. Und er durchzieht fast alle Versuche lesbisch-schwuler Bündnisarbeit. Ich erinnere hier exem­plarisch einmal nicht an die Auseinandersetzungen um das Denkmal für die im NS verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten, sondern an die Berliner Ausstellung 100 Jahre Schwulenbewegung im Jahr 1997, mit der unter anderem an die Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komittees (WhK) 1897 erinnert wurde, und die schon im Titel nicht nur die Tatsache verschwieg, dass lesbische Frauen zu den Aktivist_innen des WhK zählten, sondern auch dessen Zielsetzung, nämlich die Emanzipation homo­sexueller Männer und Frauen unter den Ausstellungstisch fallen ließ. Oder die wieder­holten Anstrengungen schwuler Aktivisten, die Kämpfe im Anschluss an die Polizei­razzia in der New Yorker Bar Stonewall Inn im Juni 1969 als das exklusive Erbe von »Tunten, Transen und Schwulen«, nicht aber das von Lesben, zu reklamieren, wie Elmar Kraushaar damals im Zusammenhang mit der Ausstellung zur Schwulenbewegung in der taz geschrieben hatte. Lesbische Interessenpolitik?

Und wer jetzt einwenden möchte, dass ich – maßlos? – übertreibe, so frage ich zurück, wann und in welchem Kontext Sie zuletzt eine unaufgeregte, sachliche Information über lesbisches Leben erhalten haben – und ich meine hier nicht, wer die aktuelle Geliebte von Kristen Stewart ist. Ich vermute, Sie werden lange überlegen müssen. Stattdessen waren Lesben in jüngerer Zeit vorgeblich unter anderem verantwortlich dafür, baden-württem­bergische Schüler*innen mit frivolem Aufklärungsunterricht gängeln zu wollen; sie wurden verantwortlich gemacht für die uns alle knechtende Politik des Gender Main­streaming, die in Berkeley ersonnen und in Brüssel und Berlin umgesetzt wird; oder auch dafür, Unsummen an Steuergeld für Gender Studies verbraten und mindestens die Uni­versitäten mit ihrer Forderung nach geschlechtssensiblen Sprechweisen und gender­neutralen Toiletten terrorisiert zu haben. Dass Lesben »stellenweise zu rabiat« und, wenn viele von ihnen zusammen kämen, auch »zu gewalttätig« seien, hatte eine Umfrage des Berliner Magazins Siegessäule unter schwulen Männern im Übrigen bereits in den 1990er Jahren ergeben.

Von einem lesbischen ›wir‹ zu sprechen, evoziert nun mindestens zwei Fragen: Wie gibt es dieses ›wir‹, wie kann es dieses ›wir‹ geben? Und wen meine ich, wenn ich von ›wir‹ spreche? Denn auch für das lesbische ›wir‹ gilt, was Judith Butler in Gender Trouble (1990) für das feministische ›wir‹ konstatiert hat, dass es sich nämlich um eine »stets nur phantasmatische Konstruktion« handelt, »die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ›wir‹ verleugnet und sich nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht« (Butler 1991, 209). Und genau darum wird ja seit dem Wiederauftauchen der Figur der Lesbe* im Kontext der Emanzipationsbewegungen der späten 1960er Jahre vehement gestritten: wer ist sie* – ist sie eine sie? – , beziehungs­weise wen und was bezeichnet der Name »Lesbe«? Wer kann diesen Namen für sich beanspruchen? Unter welchen Bedingungen ist es eine sagbare Äußerung: Ich bin lesbisch? Kurzum: Unter welchen Umständen kann lesbische Subjektivität auftauchen?

Mit solchen Fragen sind wir – unversehens? – auf das Feld der Geschichte und der Geschichtsschreibung geraten. Es sind Fragen, die es uns ermöglichen, nach Identität zu fragen, indem wir sie historisieren und nicht als immer Gleiche voraussetzen. Fragen also, die es ermöglichen, in Differenz zu denken. Die aber auch von uns verlangen, dass wir uns von den Objekten unserer Untersuchung entfernen, uns des-identifizieren, statt auf vermeintliche transhistorische Gemeinsamkeiten zu schielen. Fragen, mit deren Hilfe wir die Politik der Erzählungen in den Vordergrund rücken können. Und zwar jeder Erzäh­lung. Was nichts anderes heißt, als die Erzählungen ›unserer‹ Geschichte ebenso wie das in diese Erzählungen eingeschlossene Schweigen als interessierte Geschichten anzu­erkennen: Erzählungen dessen, wer wir sind, wie und wo wir interessiert sind und wie wir politisch positionieren und positioniert werden. Also Verantwortung für die Geschichten zu übernehmen, die zu erzählen wir uns entschieden haben. Und das gilt für schwule Narrative genau so wie für lesbische – oder für diejenigen, die beanspruchen, im Namen ›der‹ Ravensbrückerinnen zu sprechen.

Jede Weise, uns ›die‹ Geschichte zu sehen zu geben, die unweigerlich andere und anderes im Ungefähren, im Dunkeln zurücklässt, muss daher bereit sein, auf folgende Fragen zu antworten: Was wird uns zu sehen gegeben? Wie können wir sehen? Von wo aus können wir sehen? Mit wem? Welche Grenzen hat die Sicht? Denn verstehen wir Geschichte als die kontinuierliche Beziehung zwischen dem, was bereits existiert und dem, was die Zukunft ausmachen wird, heißt das, dass wir auch durch unsere Erzählungen mit darüber bestimmen, welches Begehren und welches Lieben in Zukunft lebbar sein kann. Die Versionen historischer Erinnerung, die wir erzählen, konstruieren also nicht nur, wer wir gewesen sind, sondern auch, wer wir heute und in Zukunft sein können.

Daher daran zu erinnern, dass Unterdrückung nicht allein eine Sache offener Verbotsakte etwa durch Strafparagraphen ist, sondern auch durch die Produktion eines Gebiets der Undenkbarkeit und Unaussprechlichkeit funktioniert, weshalb lesbische Lebens- und Liebesformen zum Teil nicht einmal in das Denk- und Vorstellbare vorgestoßen sind, heißt in diesem Licht betrachtet also weder, die Verfolgung schwuler Männer zu rela­tivieren, noch sich einen Opferstatus erschleichen zu wollen. Es heißt aber schon, daran zu erinnern, dass wir es auch hier mit Verhältnissen der Verhinderung, Stigmatisierung und Marginalisierung, der Verunmöglichung von Erfahrungen und Existenzweisen zu tun haben.

»Ausdrücklich verboten zu werden«, kommentierte Judith Butler schon vor mehr als zwanzig Jahren, »bedeutet einen Schauplatz des Diskurses zu bewohnen, von dem aus so etwas wie ein umgekehrter Diskurs artikuliert werden kann; implizit verboten zu werden bedeutet, nicht einmal als Verbotsobjekt in Frage zu kommen«, was die Formulierung eines Gegen-Diskurses, ja überhaupt von Sichtbarkeit umso komplizierter macht. »Und obwohl«, so Butler schon damal und mit Blick auf die heutige Situation weltweit unge­ahnt hellsichtig, »im gegenwärtigen Klima alle Formen von Homosexualität ausgelöscht, reduziert und als Schauplätze radikaler homophober Phantasien rekonstituiert werden, ist es wichtig, die verschiedenen Wege nachzuzeichnen, auf denen die Undenkbarkeit der Homosexualität immer wieder konstituiert wird«. Als ständige Unwahrheit vorzukommen ist eine Sache – etwas anderes ist es, im kulturellen und sozialen Imaginären ausgelöscht zu sein.

Sichtbarkeit und die Möglichkeit, für sich selbst sprechen zu können, ist also abhängig von Machtkonstellationen, für die wir alle Verantwortung tragen. Das heißt Herrschafts­verhältnisse nicht zu negieren, die die einen oder die anderen zum Schweigen bringen. Aber es heißt auch, woran der schwule Schriftsteller Samuel Delany auf der Höhe der AIDS-Krise in den 1980er Jahren erinnerte, dass die größte Hilfe, die Lesben und Schwule einander in der tagtäglichen Arbeit an der Freiheit gewähren können, die klare und aktive Anerkennung des Ausmaßes und der Natur der verschiedenen Kontexte, in denen wir leben, ist, sowie die reiche und engagierte Sympathie für die unterschiedlichen Prioritäten, die diese Kontexte erfordern.

Insofern die zentrale Frage von Erinnerungspolitiken letztlich die ist, wie Welt und Sozialität imaginiert, geformt und aufrechterhalten wird, folgt daraus aus meiner Sicht vor allem, beständig danach zu fragen, an welchen Werten, welchen Stimmen und Erfahrungen wir uns orientieren werden, welchen Kämpfen wir Rechnung tragen, wen und was wir der Erinnerung für Wert befinden, von wem aus wir denken und handeln.

Geschlagene Schneisen verlassen, den Dialog zwischen unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten versuchen und an der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache gesell­schaftlicher Teilhabe zu arbeiten, einer Sprache, die uns nicht alle auf ein Maß eichen will, könnte dagegen die Wahrnehmung des Reichtums an Phantasien und (Über-) Lebensweisen befördern, die bereits erfunden wurden. Statt identitätspolitisch motivierte Abschottung zu betreiben – eine Haltung, die wir uns in den Zeiten der Usurpation von Identitätspolitik durch neoreaktionäre Kräfte ohnehin nicht mehr leisten können –, sollten wir unsere Energie viel stärker darauf richten, wie die in unseren jeweiligen Kulturen entstandenen sexuellen und geschlechtlichen Arrangements und Lebensführungen in eine Politik übersetzt werden können, in der Differenzen nicht als Bedrohung, sondern als Voraussetzung von Gemeinschaft begriffen wird. Denn ohne Gemeinschaft und zwar eine Gemeinschaft der Differenten gibt es keine Befreiung, sondern nur den höchst prekären und vorübergehenden Waffenstillstand zwischen jede_r Einzelnen und ihrer Unter­werfung. Wie und welche Geschichten wir daher erzählen, ist eine Frage von Belang. Geschichten sind immer interessierte Geschichten – und das gilt für alle.