Florence Hervé wurde am 17. April 1944 in in einem Vorort von Paris geboren. Als eine zentrale Vertreterin der sozialistischen, internationalen und radikaldemokratischen Frauenbewegungen nahm Hervé an zahlreichen UN-Konferenzen und internationalen Frauenkongressen teil und ist bis heute in vielen Projekten engagiert. Hervé ist eine renommierte Journalistin und Publizistin mit einem breiten Spektrum an Interessen. Sie hat eine große Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen, etwa zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung, über Clara Zetkin oder den Widerstand von Frauen gegen den Nationalsozialismus, vorgelegt sowie literarische und biographisch ausgerichtete Bücher etwa zur Verbindung von Frauen mit dem Meer, den Bergen und der Wüste veröffentlicht.
Anlässlich ihres 80. Geburtstag drucken wir im Folgenden die Laudatio ab, die Elisabeth Klaus anlässlich der Verleihung des Luise-Büchner-Preis für Publizistik an Florence Hervé im Dezember 2021 gehalten hat.
Florence Hervé – eine mutige Frau für mutige Frauen
Laudatio anlässlich der Verleihung des Luise Büchner-Preises für Publizistik an Florence Hervé in Darmstadt am 12.12.2021
Elisabeth Klaus
Mut
Mut – das ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an Luise Büchner und diejenigen denke, die die erste deutsche Frauenbewegung getragen haben. Was muss es für einen Mut erfordert haben, sich in den 1850er, ’60er, ’70er Jahren für Frauenbildung und Frauenarbeit einzusetzen und damit das Recht auf Bildung für alle Menschen zu fordern und unverheirateten oder verwitweten Frauen eine Perspektive jenseits der sicheren Armut zu eröffnen. Auch wenn Luise Büchner selber keine revolutionäre, sondern „eine evolutionäre Frauenrechtlerin“ war, wie ihre Biographin Cordelia Scharpf analysiert, so steht sie eben doch am Anfang einer Revolution für Frauenrechte, Emanzipation und Gleichstellung.
Mut ist auch das erste Wort, das mir zu Florence Hervés Leben und publizistischem Werk in den Sinn kommt. Es erfordert ungeheuren Mut, ein ganzes Erwachsenenleben lang, gegen das Vergessen anzuschreiben, kontinuierlich gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit die Stimme zu erheben, beständig für die Verwirklichung des Emanzipationsversprechens, der Menschen- und Frauenrechte zu wirken; auch empathisch Lebenswege von Pionierinnen und Rebellinnen zu beschreiben, Solidarität zu leben und den Jüngeren Wege zu bereiten, die feministische Arbeit fortzuführen. Wie mutig ist das denn!
Mit einem leichten Augenzwinkern: Mut brauchte es schließlich auch, um diese Laudatio zu schreiben – den Mut nämlich zur Lücke angesichts dieses überwältigend reichen Werkes und langjährigen Wirkens der Geehrten: Sie hat allein mehr als 40 Monografien und Sammelbände, auf Deutsch oder Französisch veröffentlicht.
Um Mut also kreisen meine Gedanken zu den Leistungen und Verdiensten von Florence Hervé. Und sie sind erfüllt von ‚geschenkten Worten‘, jenen Wortgeschenken, die sie uns überreicht, übergeben hat.
Anmutungen
Dabei ist die Anmutung zu Beginn ihres Lebens eine ganz andere: Am 17. April 1944 kommt Florence Hervé in Boulogne sur Seine zur Welt und wächst in einer bürgerlichen, gänzlich unpolitischen Familie auf. Unpolitisch in hochpolitischer Zeit: Später notiert sie, dass sie den Zweiten Weltkrieg indirekt erlebt habe, denn ihre Geburt erfolgte während eines Bombardements, nur wenige Monate vor der Befreiung Paris‘ von der nationalsozialistischen deutschen Schreckensherrschaft. Sie vermerkt
„Dass es auch das Jahr der brutalen Niederschlagung des Warschauer Aufstands und der furchtbaren Massaker von Tulle und Oradour, Marzabotto und Distomo u.a. war, erfuhr ich erst später.“
Florence Hervé schreibt fast nie über sich selbst. Selbst das Wenige, das wir wissen, steht wie hier stets im Kontext jener historischen Umbrüche und Ereignisse, die Demokratie, Frieden, Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte grundlegend berührt haben.
Aber die Anmutung, zu der auch der Besuch eines Mädchengymnasiums gehört, ist eben zunächst eine ganz andere. Verschwommen entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines in den 1950er Jahren zur Schule gehenden Mädchens, das angepasst und um Anmut bedacht ihrer weiblichen ‚Bestimmung‘ als Frau und Mutter entgegengeht. Und doch erhält Hervé hier die ersten Impulse, die später zu ihrer politischen Positionierung in den Friedens-, Gleichberechtigungs- und Widerstandsbewegungen der europäischen Geschichte führen. Heimlich lesen die Schülerinnen das in Frankreich verbotene Werk Die Folter von Henri Alleg, in der der Journalist, Kämpfer gegen den Algerienkrieg und Kommunist von der auch am eigenen Leib erfahrenen systematischen Folter des französischen Militärs in Algerien berichtet. Im französischen Gymnasium wird auch die Literatur des ‚anderen‘ Deutschlands vorgestellt, das gegen autoritäre und kriegerische Verhältnisse anschreibt. So lernt die 15jährige Heinrich Heine, Franz Kafka und Bertolt Brecht kennen.
Nach dem Abitur 1961 geht Florence Hervé zum Auslandsstudium nach Deutschland. Zwei Jahre später – im selben Jahr wird der deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Paris unterzeichnet – erwirbt Hervé das Diplom für deutsche Sprache und Kultur am Dolmetscher-Institut in Heidelberg. Dann beginnt sie ein Studium der Germanistik in Bonn, das sie mit dem Staatexamen 1972 und der Promotion 1976 in Paris abschließt.
Diese Jahre formen ihre Persönlichkeit und sind bestimmend für ihr weiteres Leben. Und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen in Bezug auf ihre Zweisprachigkeit und die Leichtigkeit, mit der sie sich sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch ausdrücken kann. In seiner begeisterten Rezension der Anthologie Mein zweisprachiges Ich in der sich auch ein Text von Florence Hervé findet, schreibt Reimer Boy Eilers: „Jede Sprache ist ein Kunstwerk, das nichts weniger als die Welt ausmalt. Wer zweisprachig lebt, kann seine Umwelt in ganz neuen Farben wahrnehmen.“
Zum anderen erlebt Florence Hervé, erweitert um diese Möglichkeiten der Weltwahrnehmung, nun bewusst die gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1968er Jahre. Diese prägen grundlegend ihr späteres gesellschaftspolitisches Engagement und bestimmen künftig die Themen ihrer journalistischen wie wissenschaftlichen Werke. Verstanden werden können diese bewegten Jahre als Reaktion auf die vielfältigen Zumutungen jener Zeit.
Zumutungen
Die Anfänge der Studierendenbewegung erlebt Florence Hervé als Studentin in Bonn. Ihre Freund*innen beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wehren sich gegen den Stillstand und die antidemokratischen Tendenzen während der Adenauerzeit. Sie begehren auf gegen die Verdrängung und Verharmlosung der NS-Zeit. ‚Der Aufstand gegen die Väter‘ steht stellvertretend für den Protest gegen die Zumutungen verkrusteter, undemokratischer Strukturen und den Einfluss von Altnazis in Politik, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft. Hervé notiert rückblickend, dass sie 1968 – ein Jahr, das Geschichte schrieb – ein zentrales Lebensthema fand: Erstmals erfährt sie vom Widerstand der Frauen gegen die NS-Herrschaft und veröffentlicht 1968 in der Zeitschrift Das Argument einen ersten Artikel über Die Frauen im deutschen Faschismus.
Nach dem Studium verläuft ihr persönliches Leben anscheinend in ganz bürgerlichen Bahnen: Sie heiratet, bekommt zwei Töchter, ist Freiberuflerin – und erlebt dabei hautnah den Widerspruch zwischen Familien- und Berufsarbeit. Das im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigungsprinzip ist mitnichten verwirklicht. Männern und Frauen werden auch innerhalb des SDS unterschiedliche Sphären zugewiesen, zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen. Es sind vor allem die hochqualifizierten Frauen, die dies als Zumutung, Enttäuschung und Verrat erleben. Luise Büchners Idee, dass sich aus der Forderung nach einer umfassenden Bildung für Frauen deren Emanzipation quasi im Selbstlauf ergeben werde, stellt sich 100 Jahre später als Illusion heraus.
Es sind diese am eigenen Leib erfahrenen Zumutungen, die Florence Hervés gesellschaftspolitisches wie wissenschaftliches Engagement bestimmen. Eines der ersten von ihr 1979 herausgegebenen Bücher heißt Brot und Rosen; benannt nach jenem Lied, das 1912 bei einem Streik von 14.000 Textilarbeiterinnen in Lawrence/USA entstand und mit dem 8. März als internationalem Kampftag für die Rechte von Frauen verbunden bleibt. „Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit der Geschlechter“ zitiert die Herausgeberin darin August Bebels Kernthese aus seinem 1879 erschienen Klassiker Die Frau und der Sozialismus. Es ist diese weitere Zumutung, der wir heute wie damals entgegentreten müssen: Die schreiende soziale Ungerechtigkeit in einem reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland. Und en passant stelle ich beim Schreiben dieser Sätze erstaunt fest: Auch in der Armut steckt der Mut, aber im Reichtum steckt er nur verkehrt herum. Ob das ein sprachlicher Zufall ist, weiß ich nicht, treffend ist das in jedem Fall.
Den Unmut gegen all diese Zumutungen zu artikulieren – gegen Rassismus und Rechtsextremismus, gegen Frauenunterdrückung und Benachteiligung, gegen soziale Ungerechtigkeit und Exklusion – und etwas dagegen zu unternehmen, wird zum Motor für Florence Hervés weiteres Handeln. In den Gender Studies wird die Verschränkungen der verschiedenen Ungleichheitskategorien, in deren Kern race, class und gender stehen, heute als ‚intersektionale Forschung‘ bezeichnet. Eine solche intersektionale Perspektive liegt Hervés Veröffentlichungen bereits zugrunde, bevor der Begriff existierte; wie dies für radikaldemokratische, sozialistische Feminismen generell gilt. Kein Zweifel: Der Unmut über die gesellschaftlichen Zumutungen an Frauen* ist der Ursprung der Leistungen der heute Geehrten. Sein Inhalt aber ist die Ermutigung.
Ermutigung
Von Beginn ihres frauen- und gesellschaftspolitischen Engagements an ist Florence Hervé eine Mutmacherin, die Frauen dazu ermuntert, sich zu wehren, nach Veränderung zu streben, auch nach einem Selbstausdruck jenseits althergebrachter Stereotype. Dabei inspiriert sie immer wieder der Blick in die Geschichte. In ihrer seit Erstveröffentlichung 1982 mehrfach wieder aufgelegten Geschichte der deutschen Frauenbewegung schreibt sie:
„Eine wirksame Strategie vermag die Emanzipationsbewegung nur dann zu entwickeln, wenn sie die Einsicht in die heutige Lage der Frauen verbindet mit den Erfahrungen der Vergangenheit und sich somit die eigene Geschichte nutzbar macht“ (vollständig veränderte Neuausgabe 1995, S. 9)
Florence Hervé engagiert sich aktiv in der 1977 gegründeten Demokratische Fraueninitiative (DFI), die sowohl an die proletarische Richtung der historischen Frauenbewegung anknüpft wie auch an die antifaschistischen, überparteilichen Frauenausschüsse der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die DFI schloss sich 1991 der IDFF an, der seit 1945 bestehenden Internationalen demokratischen Frauenföderation. Es handelte sich um eine lose Vereinigung von Frauenorganisationen und Einzelmitgliedern aus aller Welt mit Konsultativstatus bei der UNO. Florence Hervé nimmt in diesem Zusammenhang an zahlreichen UN-Konferenzen und internationalen Frauenkongressen teil, so ist sie etwa beim historischen UN-Weltfrauenkongress 1985 in Nairobi dabei.
1979 erscheint unter dem Dach der DFI erstmals der Wir Frauen-Kalender. Im Editorial dazu heißt es:
„Es lag uns daran, ein wenig aus der Vielfalt dessen zu notieren, was Frauen lange vor uns gewagt, geleistet, erlitten und erreicht haben, zornig, leidenschaftlich, klug und kämpferisch. Wir wollten an fortschrittliche Traditionen anknüpfen, von denen viel zu wenige wissen, aber auch Beispiele aus unserer Zeit geben.“
Der Wir Frauen-Kalender erscheint 2022 im 44. Jahr und hat zwischenzeitlich eine Auflage von sagenhaft 80.000 Exemplaren erreicht. Und es sind so auch 44 sagenhafte Lebensjahre, in denen Florence Hervé neben all den anderen Aktivitäten den Kalender stets im Blick behalten und für sein Erscheinen gesorgt hat.
Ein Jahr nach der Erstveröffentlichung des Wir Frauen-Kalenders wird der DFI-Rundbrief in Wir Frauen – Das feministische Blatt umbenannt. Wir Frauen erscheint ab 1982 zunächst zweimonatlich mit einer breiten Vielfalt an Themen – wieder ist es Florence Hervé, die sich als Geburtshelferin und langjährige Redakteurin des Blattes engagiert. Thematische Schwerpunkte der frühen Ausgaben sind u.a. die Durchsetzung des Rechts auf Arbeit und auf gleiche Entlohnung für Frauen, Berufsverbote (die sich 2022 zum 50. Mal jähren), Entwicklung und Frieden, § 218, Lesben, ausländische Frauen in Deutschland, Frauen in anderen Ländern und Kulturen.
Zu den viel beachteten Veröffentlichungen dieser aktivistisch bewegten 1970er, 1980er Jahre gehört Das kleine Weiberlexikon (1985), das Hervé gemeinsam mit Elly Steinmann und Renate Wurms herausgibt. „Ein Nachschlagewerk, in dem frau bei bekannten Fakten neue Aspekte entdeckt,“ schreibt die Frankfurter Rundschau (17.2.1995) und die Westdeutsche Allgemeine lobt „Faktenreichtum in flotter Schreibe.“ (10.3.1994). Im Vorwort zur gründlich überarbeiteten Neuausgabe 2006 fragen Hervé und Wurms: „Was hat sich verändert? Was ist unerledigt?“ Diese Fragen verlangen auch heute wieder nach Antworten, fordern zum Handeln auf und ermutigen dazu, durch Blicke in die Geschichte, die Vorbilder, die Pionierinnen der Frauenemanzipation zu entdecken und ihre Kämpfe, ihre Widersprüche, ihren Lebenswillen und Wagemut als Ressource für das eigene Handeln kennen zu lernen.
Florence und ich lernen uns im Zusammenhang mit der Initiative Frauen in die Bundeswehr – wir sagen Nein kennenlernen. Seit 2021 läuft beim DDF (deutschen digitalen Frauenarchiv) ein Projekt zur Aufarbeitung dieser sich auf ein breites Frauenbündnis stützenden Bewegung. Florence Hervé jedenfalls erscheint mir schon damals als ein großes Vorbild. Sie ermutigt und fördert jüngere Frauen und teilt mit ihnen ihr Wissen. Eine Mutmacherin.
Eine Mutmacherin auch für die vielen Frauen in ihren VHS-Kursen, für die Teilnehmenden an ihren zahlreichen Lesungen und Vorträgen, für die Studierenden in ihren Lehrveranstaltungen an verschiedenen Universitäten. Als meine Schwiegermutter, 80-jährig, ihre Frauengesprächskreise bei der VHS Leverkusen abgibt, hält Florence Hervé zur übergroßen Freude der sich Verabschiedenden eine beeindruckende Rede, die die anhaltende Bedeutung der Frauenbildung für die Ermächtigung von Frauen hervorhebt, ganz so, wie sie auch schon Luise Büchner gefordert hatte. Selbst wenn heute neue Formen und Inhalte notwendig sind, besteht auch 2021 für Florence Hervé kein Zweifel: „Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für Veränderung und Befreiung, und es müssen geeignete Formen geschaffen werden, um Frauen einzubeziehen.“
Wagemut
Das Lexikon der Rebellinnen, herausgegeben von Florence Hervé und Ingeborg Nödinger, erscheint erstmals 1996. Die Herausgeberinnen schreiben:
„Unser Buch stellt rund 600 Frauen vor, die ein ungewöhnliches, aus dem ‚Rahmen‘ fallendes Leben führten, ihrer Idee leidenschaftlich und mit hoher Konsequenz folgten, über den eigenen ‚Tellerrand‘ hinausschauten, große Kompetenz in ihren Tätigkeitsfeldern entwickelten, anderen Frauen und Männern wichtige Anstöße gaben, Grenzgängerinnen waren, für Emanzipation eintraten, rebellisch quer zum jeweiligen Zeitgeist dachten, radikal und widerständig gegenüber den Herrschenden handelten. […] Frauen, die rebellierten und weiterhin rebellieren – von lat. Bellum/Krieg entlehnt = sich nicht unterordnen, sich widersetzen, sich empören, sich auflehnen gegen Autoritäten.“ (1996, S. 7)
Nicht erstaunlich, dass auch Luise Büchner als Rebellin der ersten Stunde im Buch ihren Platz gefunden hat.
Jene Rebellinnen, die Florence Hervé besonders am Herzen liegen, hat sie in einer Buchreihe beim Dietz-Verlag proträtiert und mit ihren eigenen Arbeiten zu Wort kommen lassen. Da findet sich die sozialistische Feministin Flora Tristan (Großmutter Paul Gauguins, 2013), die noch heute fasziniert. Warum das so ist, fragt die Verfasserin und antwortet:
„Weil sie es gewagt hat, die private Sphäre zu verlassen, in der Öffentlichkeit aufzutreten und für soziale und politische Rechte zu kämpfen, zu einer Zeit, wo Frauen kaum Rechte und zu schweigen hatten“ (2013, S. 34).
In der sehr verdienstvollen Biographie über Clara Zetkin Dort kämpfen, wo das Leben ist, die auch auf französisch erscheint, notiert Florence Hervé, nachdem sie Zetkins sozialpolitische Verdienste herausgestrichen hat: „Und sie war eine äußerst lebendige und vielseitige Frau mit Widersprüchen.“ (2008, S.36) Durch Clara Zetkin wird Hervé auf die Rolle der Frauen in der Pariser Commune aufmerksam, die ein sozialistisches Experiment wagten, das blutig niedergeschlagen wurde. Daraufhin entsteht u.a. der Band Louise Michel oder die Liebe zur Revolution.
Auf den ersten Blick unterscheiden sich diese ‚Rebellinnen‘ sehr von jenen, die sich in den wunderschönen Bildbänden Frauen und das Meer (2004) sowie Frauen und Berge (2006) finden, die ebenfalls in französischen Ausgaben vorliegen. Hier werden mutige Frauen porträtiert, aber die Bände gehen über das Thema Mut im Kontext der Frauenemanzipation hinaus, zeugen sie doch von einem gewissen Über-Mut.
Über-Mut
Frauen und …, Frauen und Berge, Meer, Wasser, Sand, Wüste sind Themen, die Florence Hervé vor allem im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erkundet hat. Hinter den von Katharina Mayer eindrucksvoll ins Bild gesetzten Frauenporträts verbergen sich weit mehr als feine, aber harm- und belanglose Lebensskizzen. Die Bände sind literarischer als andere Arbeiten, aber auch hier handelt es sich neben „Geschichten von Disziplin und Erfindungsreichtum, Rausch und Schwindel,“ auch um solche „von inneren Reisen, Emanzipation und Freiheit“, wie Herve´ in Sehnsucht nach den Bergen. Schriftstellerinnen im Gebirge“ formuliert.
Florence Hervé liebt das Meer und die Berge. Im Finistère und in Gaubünden holt sie sich Kraft und Inspiration. Mit Mitte 40 wird sie übermütig, wie meine Mutter es wohl ausgedruckt hätte:
„Ich stieg auf den Montblanc, bewegte mich dabei auf den Spuren von Henriette d‘Angeville, die 150 Jahre zuvor, 1838, die ‚Illusion einer neuen Welt‘ auf dem Gipfel zu entdecken geglaubt hatte. Ich war im gleichen Alter wie d’Angeville, kam aber ohne Begleitung von sechs Bergführen und zehn Trägern auf dem Gipfel an. Sicher, damals gab es viel zu tragen: Für die Versorgung der Expedition nahm man 24 Brathähnchen, zwei Hammelkeulen, zwei Lendenbraten, ein Fass Tafelwein, 18 Flaschen Rotwein (de Saint-Jean) und viele andere Köstlichkeiten mit.“ (2006, S. 13)
Hervé hat neben dem Montblanc u.a. auch den Kilimandscharo und den Ararat bestiegen.
Frauen der Wüste, Wasserfrauen, Frauen und das Meer und Frauen und Berge porträtieren den Alltag und die Arbeit von Frauen in verschiedenen Landschaften und zeigen die Natur als Inspirationsquelle für Künstlerinnen. Florence Hervé zeichnet eine Vielfalt an Frauenleben und manch eine darunter ist zweifelsohne ein Vorbild, eine Heldin und Rebellin. Am Meer und in den Bergen hat Florence Hervé auch Widerstandskämpferinnen kennengelernt und interviewt, die todesmutig, für den aufrechten Gang und die Freiheit ihren Tod in Kauf nehmend, gegen Faschismus und Krieg aktiv geworden sind.
Todesmut und Wut
So schließt sich der Kreis: Zu Beginn habe ich bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Widerstand von Frauen gegen Nationalsozialismus und Krieg für Florence Hervé ein Lebensthema ist. An diese Frauen zu erinnern, ist ihr ein Herzensanliegen. Wie in den Meer- und Bergbänden findet sich in jedem der 44 Wir Frauen-Kalender mindestens das Porträt einer Widerstandskämpferin. Florence Hervé schreibt gegen das Vergessen an und spricht mit jenen mutigen Protagonistinnen, deren Erinnerungen ansonsten mit ihrem Tod ausgelöscht wären. Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg heißt der Band, den Florence Hervé 2020 herausgegeben hat. Aber immer noch finden sich keine großen Verlage, kaum Geldgeber für die Aufarbeitung dieses so essenziellen wie prägenden Teils der europäischen Geschichte, die auch eine Frauengeschichte ist. Auf YouTube sind Mitschnitte von berührenden, eindrucksvollen Lesungen und Diskussionsveranstaltungen zum Buch nachzuhören. Es ist das erste und einzige Mal, dass ich dabei das Wort „Wut“ aus Florence Hervés Mund höre. Wut über die Verdrängungsgeschichte, Wut darüber, dass der Mut, der Todesmut dieser Frauen immer noch verschwiegen wird. Dabei erscheint ein Hinschauen und Erinnern mit dem Wiedererstarken von Frauenhass und rechtsextremen Bewegungen heute notwendiger denn je.
In Oradour – Geschichte eines Massakers, Histoire d’un massacre formuliert Florence Hervé diesen drängenden Bezug zur Gegenwart:
„Oradour ist nicht nur Synonym für ein Gedenken der Vergangenheit. Es steht auch für ein Nachdenken über die Gegenwart, ein Denken in die Zukunft.
Oradour appelliert an die Verantwortung jedes Einzelnen. Damit niemals wieder ein Oradour geschieht. Damit diejenigen, die die Schreckensherrschaft überlebt haben, nicht noch heute mit der Verharmlosung des Nazismus, gar der Rechtfertigung solcher Verbrechen konfrontiert werden. Und damit rassistische und ausländerfeindliche Überfälle, antisemitische Terrorakte, überhaupt neonazistisches Gedankengut, nicht mehr verharmlost werden, sondern in Zukunft der Vergangenheit angehören“ (2014, S. 8)
Mit diesem eindringlichen Appell komme ich zu einigen abschließenden Vermutungen.
Vermutungen
In seinem zwischen 1934 und 1938 entstanden Gedicht An die Nachgeborenen schreibt Bertolt Brecht:
„Dabei wissen wir doch: / Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.“
Florence Hervés Züge habe ich nie verzerrt gesehen, ihre Stimme nie heiser. Stets blieb sie freundlich. Selbst dann, wenn sie wegen ihres sozialistischen, radikaldemokratischen Ansatzes von den etablierten Medien missachtet oder aus der feministischen Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurde, hat sie darauf nicht bitter oder zornig reagiert, auch nicht mit gleicher Münze publizistisch heimgezahlt.
Woher kommt eine solche Souveränität? Eine solche Leichtigkeit beim Bearbeiten so schwerer Themen? Eine solche Zähigkeit und Produktivität beim Schreiben? Eine solche Kontinuität im Kampf für Frauenrechte? Ein solcher Mut beim Einsatz für Menschenrechte und Menschenwürde? Ich vermute, dass sich dies vor allem aus drei Quellen speist: erstens aus der Liebe zur Natur, zum Meer und zu den Bergen; zweitens aus Florence Hervés zweisprachiger Identität, die immer wieder ein neues Erleben ermöglichen. Wie sie schreibt: „Hinter der Sprache stecken Geschichte und Geschichten. Die Sprache als Instrument der Kommunikation und Integration erlaubt, das Wort zu ergreifen, sie kann verzaubern und Gefühle freilassen“
Schließlich und drittens vermute ich, dass hinter all den Leistungen und Verdiensten, die Einheit des privaten Lebens mit der politischen Arbeit für die Frauenemanzipation, Gerechtigkeit und Freiheit steht. Denn jene Antwort, die Florence Hervé auf die Frage gegeben hat, was denn an Flora Tristan heute noch so ungemein fasziniere, trifft auch auf sie selbst zu, so meine abschließende These: Die deutsch-französische Journalistin, Publizistin, Herausgeberin, Übersetzerin, Wissenschaftlerin Florence Hervé konnte über so viele Jahrzehnte so ungemein produktiv sein und für ihre Ideen eintreten…
„…[w]eil ihre politischen Aussagen und ihr Leben übereinstimmen. Ihre Theorien sind mit der gelebten Erfahrung verwoben. Sie kämpft für Freiheit, und lebt selbstbestimmt – eine freie Frau. Weil sie schließlich ein abenteuerliches Leben hat und eine vielseitige Persönlichkeit ist“. (2013, S. 34; i.O. in der Vergangenheitsform)
Nachtrag am 17.4.2024
Ihren 80. Geburtstag verbringt Florence im Finistère, beschäftigt mit der Herausgabe des 47. „Wir Frauen“-Kalenders 2025. Gerade ist ihre neueste Publikation erschienen: Ihr wisst nicht, wo mein Mut endet. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg mit Porträts von Widerstandskämpferinnen und Kriegsgegnerinnen aus 20 europäischen Ländern, verfasst von mehr als 20 Autorinnen.
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