„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Krieg, feministische Solidarität und transnationale Dynamiken erforschen – Einleitende Bemerkungen 

Teresa Koloma Beck / Katharina Liebsch

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bemühen sich feministische Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen darum, die Geschehnisse in der Ukraine und in der internationalen Politik zu verstehen und zu erklären. Dabei geht es auch darum, die Implikationen der gegenwärtigen Situation für feministische Anliegen und feministisches Denken zu erfassen. Denn während sich der Krieg fortsetzt und seinen Charakter nach und nach verändert, werden Fragen nach der (geschlechtsspezifischen) Struktur, Dynamik und Intensität des Krieges und nach seinen Auswirkungen über die Ukraine hinaus dringlicher. Unklar ist, welches feministische Wissen und welche feministische Politik im Krieg bestehen kann und wie der Krieg die Begriffe und Inhalte dieses Wissens und der Politik selbst verändern wird. Befragt ist zum einen die feministische Analyse und Praxis einer Problematisierung der Zusammenhänge zwischen Krieg und Gewalt, die getragen ist von der Überzeugung, dass die Kraft der Gewaltlosigkeit politische Aufgaben effektiver und nachhaltiger bewältigen kann als die Kraft von Gewalt und Krieg. Zentral ist hier die Idee einer feministischen antimilitaristischen Mobilisierung, die auf Solidarität und Fürsorge gründet, im Gegensatz zu den individualistischen Prinzipien, auf denen die Ideologie des maskulinistischen Militarismus basiert. Andere haben argumentiert, dass die Bezugnahme auf Prinzipien als Reaktion auf imperiale Gewalt und die reale und anhaltende Bedrohung des Lebens eine unzureichende Antwort sei. Zum zweiten fordert der Krieg in der Ukraine das feministische Anliegen heraus, Gendering politischer, kultureller und sozialer Beziehungen zu benennen, aufzubrechen und zu verändern. So bleibt einerseits klar erkennbar, dass geschlechtsspezifische und kulturalisierte Dichotomisierungen ein Grundmuster aller ideologischen Polarisierungen und Entdifferenzierungen bilden, die anti-emanzipatorische Entwicklungen unterschiedlicher Art nähren. Binäre Denkweisen und Dichotomien in den Tiefen sozialer Beziehungen werden im Krieg erheblich intensiviert und Bemühungen, patriarchale Dichotomien zu dekonstruieren, werden grundsätzlich in die Defensive gedrängt. Andererseits haben sich die Probleme und Gefahren in der Weltpolitik so vervielfältigt, dass Polarisierungen offensichtlich unsinnig werden. Der Krieg hat viele paradoxe Phänomene sowohl hervorgebracht als auch sichtbar gemacht, die jede feministische Positionierung erschweren, egal welcher politischen Bewertung sie den Vorrang einräumt. Sie im Blick zu behalten und analytisch zu erfassen, erfordert die Artikulation, Diskussion und Kritik von Widersprüchen und Ambivalenzen.

Wir sind daher sehr dankbar, dass vier ukrainische Kolleg:innen zugestimmt haben, einen Beitrag zum Forum Gender und Krieg in der Ukraine zu leisten. Sie teilen nicht nur Beobachtungen und Reflexionen zu aktuellen Ereignissen, sondern auch Ergebnisse aus empirischen Forschungen, die seit Beginn des jüngsten bewaffneten Konflikts im Land im Jahr 2014 durchgeführt wurden. Die vier etablierten und prominent feministischen Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine kommen aus unterschiedlichen Teilbereichen und Forschungstraditionen und verfolgen unterschiedliche Fragestellungen und methodische Ansätze, von der empirischen Sozialforschung bis zur Theoriebildung in der Sozialphilosophie. Ziel war es, eine Vielzahl von Perspektiven zu entfalten und individuelle Sichtweisen aufzuzeigen. Um diese Pluralität besser lesbar zu machen, werden die Beiträge von fünf Fragenkomplexen geleitet, die sich ausrichten auf (1) eine allgemeine Bewertung; (2) Dynamisierung von Geschlecht, Normen und alltäglichen Praktiken; (3) Gewalt und Verletzlichkeit; (4) Rechte und Politik; und (5) Fragen von Bleiben und Weggehen. 

Der vollständige Fragenkatalog lautete:

  1. Zugriff auf das Thema

Welche Erkenntnisse aus feministischer Forschung, Theorie und Praxis halten Sie für besonders relevant für das Verständnis der Auswirkungen und Einflüsse von Krieg und organisierter Gewalt auf Geschlechterverhältnisse und Geschlechtersysteme (in Ihrem jeweiligen Fachgebiet)?

2.         Dynamisierungen von Geschlecht, Normen und alltäglichen Geschlechterpraktiken 

Welche Auswirkungen oder Veränderungen des anhaltenden Krieges halten Sie für relevant und wie bewerten Sie sie? / Wie wirkt sich der Krieg auf Gender, Sexualität und die Stärkung der Frauen aus? Wie gestaltet der Krieg bereits bestehende geschlechtsspezifische und intersektionale Ungleichheiten und sind zukünftige Diskriminierung zu erwarten?

3.         Gewalt und Verletzlichkeit

Welche geschlechtsspezifischen Vulnerabilitäten und geschlechtsspezifischen Formen von Gewalt als Folge des Krieges halten Sie für wichtig? Wie würden Sie die Implikation von Frauen in die gewalttätigen Dynamiken des Krieges oder deren Positionierung ihnen gegenüber beschreiben?

4.         Rechte und Politik

Wie beeinflusst der Krieg Politiken zur Gleichstellung der Geschlechter? Welche Auswirkungen hat sie auf die LGTBQI+-Rechte? / Wie verändert der Krieg feministische Ethik und Konzepte von Respekt, Toleranz und Würde?

5.         Bleiben und Weggehen

Entwickeln Frauen in der Ukraine neue Aktionsrepertoires mit mehr Möglichkeiten für Partizipation und Führung? / Haben die Erfahrungen ukrainischer Geflüchteter im Ausland dazu geführt, dass sie anders über Gender, Feminismus und Weiblichkeit und als Akteurinnen denken, und mit welchen potenziellen Auswirkungen auf die Geschlechterpolitik in der Ukraine?

Den Mitwirkenden stand es frei, alle oder eine Auswahl der Fragen zu beantworten.

Die hier versammelten Texte lenken die Aufmerksamkeit auf Aspekte des Krieges, die in westlichen Narrativen vernachlässigt oder ignoriert werden, und sie eröffnen neue Horizonte des Verstehens. Sie geben Antworten auf wichtige Fragen und werfen herausfordernde neue Fragen auf. Sie stellen die aktuelle Situation in einen größeren historischen und geopolitischen Kontext. Sie führen die aktuellen feministischen Kämpfe auf die Euromaidan-Bewegung von 2013/14 zurück, die ein entscheidender Moment der Mobilisierung für die feministische Bewegung in der Ukraine war. Dabei heben sie die enge Verbindung zwischen feministischen Kämpfen und Kämpfen für Demokratie im Land hervor. Aufgrund dieser Verbindung sind feministische Themen und Bewegungen in der Ukraine von geopolitischer Relevanz. Sie deuten symbolisch auf eine Annäherung an den Globalen Westen hin. Die Bewahrung einer traditionell geschlechtsspezifischen Gesellschaftsordnung spielt daher seit langem eine zentrale Rolle in der antidemokratischen Rhetorik Putins (und anderer Autokraten), die neoimperiale Gebietsansprüche verbindet mit Angriffen auf den Feminismus, Hysterie um Geschlechterfragen sowie repressiven Regeln gegen das, was als „homosexuelle Propaganda“ gilt. In dieser Perspektive wird die westliche Demokratie mit dem zunehmenden Empowerment von Frauen und LGBTQI+-Personen gleichgesetzt, was wiederum als Symptom des zivilisatorischen Niedergangs gelesen wird. Die abfällige Wortschöpfung „Gayropa“ verkörpert diese Vision.

Während sich die Beitragenden in ihrer Verteidigung von Demokratisierung und feministischem Empowerment einig sind, unterscheiden sich ihre Visionen hinsichtlich ihrer normativen Grundlagen sowie hinsichtlich möglicher Übersetzungen in die Praxis. Zu den umstrittenen Fragen gehören die Beziehungen zwischen Feminismus und Nationalismus zum einen und Feminismus und Gewalt zum anderen. Beide Fragen sind eng miteinander verbunden. Ein starkes normatives Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, das im westlichen feministischen Denken vorherrschend geworden ist, ist nicht leicht mit der Idee der Verteidigung einer Nation vereinbar. Feministische Vorstellungen gehen zumeist über den Nationalstaat hinaus und favorisieren universalistische Perspektiven. Das Engagement für die empirischen Anliegen feministischer Akteur:innen in der Ukraine hingegen bewegt sich tendenziell in konzeptionell nationalistischen Analyserahmen und ist stärker mit einer Ablehnung des Pazifismus verbunden. Die erste Position betont den Wert des Lebens als Kern des feministischen Projekts und analysiert empirische Realitäten durch diese Linse. Die zweite befasst sich vor allem mit den empirischen Herausforderungen, mit denen die Subjekte feministischen Denkens konfrontiert sind, und diskutiert Normativität im Horizont praktischer Probleme. Während der erste Analyserahmen die obstruktiven Auswirkungen des Krieges auf die emanzipatorische Politik im weiteren Sinne betont, hebt der zweite empirische Mehrdeutigkeiten hervor und zeichnet kontextspezifische emanzipatorische Effekte des Krieges nach, etwa wenn Frauen und LGBTQI+-Personen für ihre Teilnahme an den Kriegsanstrengungen anerkannt werden. 

Zusammengenommen zeigen die Beiträge, wie die Kriegssituation Spannungen, Konkurrenz und Konflikte zwischen verschiedenen Normen und Werten erzeugt und wie diese dazu drängen, normative Rahmenbedingungen neu zu bewerten oder sogar neu zu organisieren. Vor allem aber zeigen die Texte, dass die Forschung selbst gegen diese Dynamik nicht immun ist. Welche Rolle Forschung und Wissenschaftler:innen in dieser Situation spielen können oder müssen, ist eine wichtige Frage, die sich durch das gesamte Forum zieht. Die Perspektiven auf diese Fragen gehen auseinander, und ihr Zusammenprall kann schmerzhaft sein. Einige Feministinnen haben sich zum Beispiel für die Militarisierung der letzten Jahre eingesetzt. Es ist verständlich, dass dies gerade jetzt überlebensnotwendig war und bleibt. Wieder andere haben die Militarisierung nie unterstützt, sondern stattdessen auf sexualisierte Gewalt innerhalb des ukrainischen Militärs aufmerksam gemacht und mussten sich dem Vorwurf stellen, Putins Propaganda auf diese Weise zu unterstützen. Auf solche unbequemen und schmerzhaften Konflikte muss hingewiesen werden. Es ist wichtig, Widersprüche zu benennen und zu analysieren, und wir können nicht aufhören, dies zu tun, weil Krieg herrscht.

Letztlich zeigt das Forum daher auch auf, wie der Krieg nicht nur die feministische Analyse und Theoretisierung vor Herausforderungen stellt, sondern auch die Organisation feministischer Solidaritäten. Die Brüche sind nicht nur unter feministischen Wissenschaftlerinnen in der Ukraine sichtbar, sondern auch zwischen Wissenschaftlerinnen in der Ukraine und denen im Westen. Trotz der Divergenz der analytischen Rahmen und der Ansichten über den Krieg selbst sind sich die Autorinnen dieses Forums in ihrer Enttäuschung über feministische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen im Westen einig. Sie kritisieren die Missachtung empirischer Realitäten und prangern die selektive und extraktive Aneignung der feministischen Forschung und Expertise ukrainischer Wissenschaftler:innen an. Die Beiträge betonen die Notwendigkeit transnationaler feministischer Solidarität. Wie man die passende, geeignete und ‚richtige‘ Art von Unterstützung zusammenstellt, bleibt jedoch eine schwierige Frage. 

Während der Krieg andauert, bleiben diese Fragen dringend. Aber es scheint lohnenswert, sich daran zu erinnern, dass es nicht das erste Mal ist, dass sie gestellt werden. Wie man sich zu Fragen von Krieg und Frieden verhält, war im globalen feministischen Aktivismus im Laufe seiner Geschichte umstritten. Der Konflikt zwischen denen, für die das Engagement für Frieden und Gewaltlosigkeit der Kern des feministischen Projekts war, und denen, die die Teilnahme an emanzipatorischen bewaffneten Kämpfen als einen Weg zu Emanzipation und Gleichberechtigung im Allgemeinen sahen, verfolgt feministische Bewegungen seit den Blütezeiten der dekolonialen Kämpfe. Und ähnlich wie heute überschnitten sich die normativen Positionen von Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen mit der politischen Geographie der Weltpolitik. Die jüngste große Krise der transnationalen feministischen Solidarität im Krieg fand während der internationalen Militärintervention in Afghanistan statt. Die strittigen Fragen in diesem Fall waren sehr unterschiedlich (sie drehten sich um den Ort und Stellenwert nicht-westlicher Verständnisse und Traditionen im feministischen Denken und in der feministischen Praxis). Die Enttäuschung und Frustration über westliche Feministinnen, deren Solidaritätsleistungen normativ und empirisch von den Erfahrungen der Betroffenen abgekoppelt blieben, waren jedoch ähnlich. Auch im kriegerischen Alltag Afghanistans brachte das Aufeinanderprallen dieser Perspektiven eine Fülle feministischer Forschung hervor, die dazu beitrug, bisher periphere Perspektiven näher an das Zentrum akademischer Diskurse zu rücken. Die Reflexion über die Verflechtungen zwischen feministischer Wissenschaft und Aktivismus auf der einen Seite und den Ordnungen der Weltpolitik auf der anderen Seite bleibt daher eine Daueraufgabe, die über den Krieg in der Ukraine hinausgeht. 

Das Ringen um das Verständnis des Krieges und die Frage nach Solidarität und Unterstützung bewegt sich zwischen unterschiedlichen Einschätzungen und Positionen – einige argumentieren prinzipiell gegen Krieg, andere für einen gerechten Krieg oder gerechtfertigten Widerstand – und die vier Beiträge zeigen deutlich, wie wichtig es ist, die Frage zu diskutieren, was Krieg für feministische Theorie und Praxis bedeutet und wie man dem Aufstieg antifeministischer Aktivitäten begegnen kann. 

Beitrag I von Irina Zherebkina

Zum Einstieg

Es ist nicht besonders originell, wenn ich hier darauf hinweise, wie relevant die Theorie Judith Butlers insbesondere mit ihrem Konzept der geteilten Prekarität zum Verständnis der Auswirkungen von Krieg und organisierter Gewalt auf Geschlechterverhältnisse und Geschlechtersysteme ist. Butler zufolge sind nicht nur die Beziehungen der Menschen untereinander, sondern auch die Beziehungen der Menschen zur Natur, einer Welt, in der auch nichtmenschliche Wesen leben, durch Prekarität oder Fragilität gekennzeichnet. In einer Zeit der Pandemien, des Klimawandels, neuer Kriege und anderer katastrophaler globaler Folgen des neoliberalen Kapitalismus, manifestiert sich die geteilte Prekarität in vielen verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und in verschiedenen politischen Institutionen, einschließlich der Institutionen der Demokratie.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR haben uns Vertreter:innen der Politischen Philosophie mit dem Gespenst der liberalen westlichen Demokratie eingeschüchtert: Sie habe überall auf der Welt endgültig den Sieg davongetragen und sich mit ihrer unumstößlichen Überlegenheit in der gesamten Geschichte der Menschheit durchgesetzt. Im 21. Jahrhundert wurde uns allerdings die Fragilität dieser scheinbar starken und siegreichen Demokratie vor Augen geführt: Trump in den USA und Putin in Russland erbrachten den überzeugenden Beweis dafür, wie leicht es ist, sämtliche demokratischen Errungenschaften der Zivilgesellschaft zu zerstören. Diese Tatsache wird durch den russischen Krieg gegen die Ukraine auf entsetzliche Weise bestätigt.

Politiker:innen aus verschiedenen Ländern machen heute viele Vorschläge zur Beendigung dieses Krieges (der „chinesische Plan“, der „afrikanische Plan“ usw.). Sie berücksichtigen jedoch nicht, dass Krieg ein Symptom ist, dessen traumatischer Kern in der Korruption der Demokratie (in Russland, in der Ukraine und auf der ganzen Welt) besteht. Einer psychoanalytischen Binsenweisheit zufolge ist der Versuch, ein Trauma durch die Behandlung des Symptoms kurieren zu wollen, allerdings ein hoffnungsloses Unterfangen. 

Nach der Pandemie stürzt die Welt in einen Zustand grenzüberschreitender Infektiosität, in dem das Virus der Autokratie die am Krieg beteiligten Länder und Kontinente befällt. In diesem Sinne ist der Krieg der Ukraine gegen Russland tatsächlich ein Krieg der Demokratie gegen den Autoritarismus, da der die Demokratie attackierende Krankheitserreger sich rasch und irreversibel in den politischen Organen aller beteiligten Länder ausbreitet. Die Regierungen der westlichen Länder, die die Ukraine unterstützen, wenden sich deshalb so verzweifelt gegen eine direkte Teilnahme an diesem Krieg, weil sie die unweigerlich eintretenden Folgen für ihre Demokratien fürchten.

Ein echter Sieg der Ukraine über Russland könnte darin bestehen, dass es dem ukrainischen Volk gelingt, die Überreste der liberalen Demokratie im eigenen Land zu bewahren und wiederherzustellen und nicht zuzulassen, dass sich dieses Land in eine Entsprechung der Putin-Diktatur verwandelt, in der alle demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten zerstört wurden.

Daraus folgt: Nicht die Zerstörung der Krimbrücke oder ein erfolgreicher globaler Bann gegen die russische Kultur, sondern die Aufrechterhaltung einer fragilen Demokratie und die Verhinderung autokratischer Herrschaft in der Ukraine könnten unser wichtigster Sieg sein. Ein solcher Sieg wäre mehr als ein Sieg für die Machthaber, weil er im Interesse aller ukrainischen Bürger:innen wäre.

Dynamisierungen von Geschlecht, Normen und Praktiken im Alltag des Krieges 

Josef Vogl schreibt in seinem Buch Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (Cambridge: Polity 2022, S. 121; 2021 auf Deutsch erschienen), die Wellen der Wirtschafts- und Finanzkrisen in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hätten zur Mobilisierung rechtsnationalistischer Parteien mit ethnonationalistischer und fremdenfeindlicher Ausrichtung und zur Entstehung von Anti-Gender-Bewegungen beigetragen. Dies hatte verheerende Auswirkungen auf eine demokratische und linke Politik, die an soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität appelliert. Am Beginn einer Ära von Kriegen, die Vogl in seinem Buch schon zwei Jahre vor Anbruch des russisch-ukrainischen Krieges angekündigt hat, erweisen sich die demokratischen und die linken, überwiegend pazifistisch orientierten Kräfte als besonders hilflos. Infolgedessen schließen sie sich paradoxerweise zunehmend der politischen Rechten an und setzen auf Gewalt, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Grundlage für diesen paradoxen Schulterschluss kann sehr verschieden sein: In der Ukraine entsteht die Solidarität der demokratischen und rechten Politiker auf der Basis einer gemeinsamen Forderung nach mehr westlichen Waffen für die ukrainischen Streitkräfte, in Deutschland und einer Reihe anderer europäischer Länder entsteht sie auf der Basis der Forderung, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und Frieden durch Verhandlungen zu erreichen.

Auch ukrainische Feministinnen solidarisieren sich heute zunehmend mit der Rechten. In einer Situation der existenziellen Wahl zwischen den Interessen des Feminismus und den Interessen ihrer Nation unter den Bedingungen des Krieges müssen sie mehr und mehr die seit vielen Jahren angestrebten Grundwerte des westlichen Feminismus aufgeben und die Agenda der Rechten für die Geschlechterpolitik akzeptieren. Das bedeutet auch, sich den Normen hegemonialer Männlichkeit und Weiblichkeit anzupassen, wonach Männer und Frauen sich gleichermaßen für die Nation aufzuopfern haben. Da bleibt kein Raum für sanfte Männlichkeiten oder für radikalen Feminismus. Das Kultbild einer ukrainischen Feministin ist heute das Bild einer Kriegerin, die entweder selbst für die Nation kämpft oder andere in ihrem Kampf unterstützt. Alle anderen Geschlechterrollen und -identitäten werden abgewertet, ausgeschlossen oder sogar als Narrative des Feindes abgestempelt.

Wendy Brown sagt, wir lebten in „Zeiten des Nihilismus“. Es ist eine Zeit des Niedergangs und der Enttäuschung über das Potenzial demokratischer Politik, in der Vertreter:innen fortschrittlicher Politik demokratische Werte zugunsten der Verstärkung negativer Solidarität aufgeben müssen, und in der das Überleben einer sozialen Gruppe nur auf Kosten einer anderen möglich ist. In diesen Zeiten macht sich Brown zufolge der Nihilismus 

„als ubiquitäres moralisches Chaos bzw. als Unlauterkeit bemerkbar, aber ebenfalls als eine Bekundung von Macht und Begehren, die sich nur nicht um Ethik, sondern auch nicht um die Zurechenbarkeit von Wahrheit, Gerechtigkeit, Konsequenzen oder die Zukunft schert. Der Nihilismus offenbart sich im sorglosen, ja sogar fröhlichen Brechen des Gesellschaftsvertrags mit anderen und mit nachfolgenden Generationen, das sich heute in den alltäglichen Reden und Verhaltensweisen besonders, aber nicht nur bei der Rechten manifestiert. Der Bruch tritt in der bewussten Gleichgültigkeit gegenüber einem fragilen Planeten und fragilen Demokratien in Erscheinung. Er bekundet sich auch in der Normalisierung von Arglist und Kriminalität in Ober- wie Unterschicht und im massenhaften Rückzug ins Triviale, Unmittelbare und Persönliche“ (Wendy Brown: Nihilistische Zeiten, S. 21).

Die Zeit des Nihilismus ist für die Rechten eine lang ersehnte Zeit des Feierns und für die Demokratie und die Linke eine Zeit der Verzweiflung und des Kummers. Warum nehmen ukrainische Feministinnen mit so viel Enthusiasmus und Freude an dieser Feier teil? Am Ende werden die kommenden Generationen ukrainischer Feministinnen viele Jahre brauchen, um sich von dieser Verwüstung zu erholen.

Gewalt und Gefährdung

Unter den vielen Identitäten, die der Krieg hervorbringt, und in den durch den Krieg verursachten Subjektivierungsprozessen gibt es eine eindeutige Tendenz zur Produktion vieler prekärer Identitäten und zur Vermehrung von Unsicherheit und Verletzlichkeit. Krieg und Militär zwingen einer Bevölkerung militärische Identitäten auf, die von einer hierarchischen Geschlechterordnung bestimmt werden; das führt zu einer ungleichen und hierarchischen Verteilung von Prekarität. Wie Judith Butler in Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen schreibt, werden menschliche Leben im Rahmen des Krieges folgendermaßen unterteilt: 1. Leben, die es wert sind, gelebt und bei Verlust betrauert zu werden, 2. Leben, die dies nicht wert sind. Die Leben, die als lebenswerter eingestuft werden, gelten als gefährdeter und benötigen mehr Schutz und Sicherheit als die Leben, die weniger wichtig sind und weniger Trauer verdienen.

In der durch den Rahmen des Krieges in der Ukraine bestimmten Situation gilt das Leben derjenigen als stärker gefährdet, die Entscheidungen treffen, die militärische Operationen leiten und das Leben der übrigen, sowohl das der Mobilisierten (1) als auch das der Zivilbevölkerung (2), kontrollieren. Ihr Leben und ihre Standorte (die sogenannten „Entscheidungszentren“) müssen um jeden Preis geschützt und gesichert werden, auch wenn dies die Zivilbevölkerung Leben kosten kann. Seiner Bedeutung im Raster des Krieges entsprechend steht an nächster Stelle das Leben des qualifizierten Militärpersonals, das der westlichen Militärausbilder, der militärischen IT-Spezialisten, der Drohnenpiloten und schließlich das ,Leben’ der Militärausrüstung – in erster Linie westlicher Ausrüstung und Bewaffnung. Die Nicht-Militärs, also die Zivilbevölkerung – Kinder, Frauen, Rentner:innen – stehen am unteren Ende dieser durch die Raster des Krieges bestimmten Hierarchie der Gefährdung.

Die besondere politische Wirkung der durch den Krieg organisierten Subjektivierung besteht in einem starken Mobilisierungseffekt, dem nicht nur normale Bürger:innen aus den an den Feindseligkeiten beteiligten Ländern schwer widerstehen können, sondern auch erfahrene antimilitaristische Aktivist:innen, darunter Feminist:innen, die sich sowohl über die Folgen von Kriegen für die Geschlechterverhältnisse im Klaren sind als auch über die verschiedenen Machtfallen, welche den repressiven und korrupten Kräften, die durch den Krieg geschaffen wurden, einen eisernen, unerbittlichen ‚Zugriff‘ ermöglichen.

Rechte und Politik

Ich glaube nicht, dass der Krieg die feministische Ethik und die Konzepte von Respekt, Toleranz und Würde als ethische Kategorien wesentlich verändern wird. Feministische Ethik war und ist per definitionem eine Ethik der Gewaltlosigkeit. Die Tatsache, dass im Land Krieg herrscht, dass also ständig eine grundsätzlich unethische Handlung ausgeführt wird, bedeutet nicht, dass wir die Ethik der Gewaltlosigkeit aufgeben und eine neue, für diesen Fall passendere Ethik übernehmen müssten, z. B. eine Verantwortungsethik in Anlehnung an Max Weber, die den Einsatz von Gewalt durch Verantwortung zu legitimieren sucht. Denn wenn wir uns für eine Ethik bzw. Moral entscheiden, die nicht die Unsittlichkeit von Gewalt postuliert, akzeptieren wir Werte, die mit Herrschaft und Zwang verbunden sind, was den Grundprinzipien des Feminismus jeglicher Art und Ausrichtung widerspricht.

Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass Gewaltlosigkeit in der Interpretation feministischer Theoretikerinnen (zum Beispiel Judith Butler, Adriana Cavarero, Athena Athanasiou und viele andere) weder ein Verzicht auf Widerstand ist noch eine dem biblischen Gebot folgende, unterwürfige Haltung der Demut gegenüber Gewalt. Vielmehr stellt die Ethik der Gewaltlosigkeit die Hegemonie der Gewalt im menschlichen Leben in Frage. Allerdings nicht in dem Sinne, dass irgendwo in der Gesellschaft eine Zone der Gewalt (eine Zone des absolut Bösen) bestünde, während es anderswo eine Zone ohne Gewalt (eine Zone des absolut Guten), also einen Raum der reinen Gewaltlosigkeit gäbe. Vielmehr besteht Gewaltlosigkeit besteht den oben genannten feministischen Theoretikerinnen zufolge stets und ausschließlich in einer symbiotischen Beziehung zu Gewalt, in einem heftigen Kampf gegen Gewalt, bei dem diese als eigene Möglichkeit anerkannt wird. Durch eine Positionierung des Subjekts als Repräsentant „reiner Gewaltlosigkeit“ ist er oder sie zum „moralischen Narzissmus“ verurteilt oder verfällt der Ethik des „reinen Selbst“, die Ethik als Privileg des moralisch Richtigen und moralisch Starken interpretiert. Diese Positionierung erlaubt es dem Subjekt tatsächlich nicht, zu einem durch und durch ethischen Subjekt zu werden (selbst wenn er oder sie wirklich das Opfer einer grundlosen Aggression ist), wozu er oder sie auf paradoxe Weise Rechenschaft ablegen musste.

Aus Sicht der Ethik der Gewaltlosigkeit besteht die ethische Hauptaufgabe in der Überwindung des Zustands des moralischen Narzissmus. Ein Subjekt, das beansprucht ethisch zu sein, hat laut Butler zwei Grundvoraussetzungen zu erfüllen oder eine doppelte Bewegung zu vollführen: 1. Einerseits ist er/sie gezwungen, sein/ihr Recht zu erklären, nicht benachteiligt und traumatisiert zu werden, und 2. ist er/sie andererseits verpflichtet, sich diesen Forderungen zu widersetzen. Indem das Subjekt im Oszillieren zwischen dem Wunsch verharrt, 1. das Recht einzufordern, keiner Verletzung oder Schädigung ausgesetzt zu werden, und 2. sich gleichzeitig diesem Anspruch zu widersetzen, wird es zu einem ethischen Subjekt und zu einer Person, deren Existenz sich nicht auf den bloßen Wunsch nach Selbsterhaltung reduziert. Mit anderen Worten besteht die Ethik im Gegensatz zum moralischen Narzissmus, den Butler als ethische Reaktionsfähigkeit bezeichnet (im Gegensatz zur Ethik des Urteils und moralischen Sadismus), darin, auf Selbstbestätigung zu verzichten und anzuerkennen, dass die Konstitution des eigenen Irrtums in der Struktur der ethischen Subjektivität besteht.

Bleiben und Weggehen

Ein neues Betätigungsfeld für Frauen im Krieg ist das Schlachtfeld, der bewaffnete Kampf. Die Ukraine verfügt heute über eine der größten Frauenarmeen der Welt. Mehr als 5000 ukrainische Frauen stehen direkt an der Front (der sogenannten „Nulllinie“). Seit Beginn der russischen Aggression wurden offiziellen Angaben zufolge bis zum Herbst 2023 mehr als 100 Frauen an der Front getötet oder verletzt.

Doch mittlerweile wandern sehr viele ukrainische Frauen nach Europa aus, wo sie als Arbeitsmigrantinnen tätig sind. Bisher war diese Situation vor allem bei ukrainischen Männern anzutreffen, die ihre in der Ukraine verbliebenen Familien sowie ihren Staat mit Geld versorgten. Jetzt aber werden die arbeitslosen Männer, die das Land nicht verlassen können, ihre Kinder und ihre alten Eltern buchstäblich von den Frauen ernährt. Meine Zahnärztin ist jetzt in Italien, sie arbeitet als Reinigungskraft in Hotels und ernährt fünf in Charkiw zurückgebliebene Familienmitglieder. Diese Art von Arbeit ist zum Los von Millionen ukrainischer Frauen in den EU-Ländern geworden, statt der seinerzeit von Präsident Poroschenko versprochenen Tasse Kaffee in Bratislava oder statt eines schönen Abends in der Wiener Oper.

Für die ukrainischen Frauen ist der Krieg eine schwierige Prüfung, auch die Stärke der Liebe und der Familienbande stehen auf dem Spiel. Viele junge ukrainische Frauen werden zu Opfern sexueller Gewalt von Seiten sogenannter „Sponsoren“, die ihnen in ihren Wohnungen Zimmer zur Verfügung stellen. Man mag sich daran erinnern, dass die Gepflogenheit des „Sponsorings“ junger ukrainischer Frauen, besonders von Studentinnen, unmittelbar nach Auflösung der Sowjetunion verbreitet war, mit den „flotten 1990ern“ jedoch verschwunden zu sein schien.

Wie viele Millionen ukrainischer „Liebesbande“ zwischen verschiedenen Geschlechtern mögen durch Krieg und Migration bereits zerstört worden sein? Es tut mir so leid für all die zerbrochenen Freundschaften und auseinandergerissenen Familien. Und wie viele Verluste stehen uns in Zukunft noch bevor: Persönliche Verluste und Trennungen, Verluste ukrainischer Städte (und Arbeitsplätze für große Teile der Bevölkerung), Verluste an Bildungsqualität (wenngleich der Fernunterricht in der Ukraine weiterhin funktioniert), Verluste an Wohnungen und Häusern bei gleichzeitiger Erhöhung der Tarife für Wohnraum und kommunale Dienstleistungen? Und wie viel Gewalt ist in diesen Häusern zu erwarten?

Beitrag II von Olena Strelnyk

Dynamisierungen von Geschlecht, Normen und Praktiken im Alltag des Krieges heute

Eine der Fragen, die ich auf Konferenzen am häufigsten höre, ist, ob der Krieg die traditionelle Geschlechterordnung in der Ukraine bestärken wird. In der klassischen feministischen Literatur aus dem Westen gibt es die Behauptung, konservative Vorstellungen von Geschlechterrollen bekämen durch Kriege in der Regel einen Auftrieb und stabilisierten sie. Aber nicht alle Kriege sind gleich, sie finden in unterschiedlichen historischen und politischen Kontexten statt, in spezifischen Gesellschaften, in denen Frauen und feministische Bewegungen verschiedene Positionen einnehmen. Die Welt war nicht auf einen Krieg auf europäischem Boden vorbereitet. Von westlichen Wissenschaftler:innen, internationalen Projekten und humanitären Organisationen werden Informationen über Kriege außerhalb Europas, etwa in Syrien, Irak oder Afghanistan, auf die Ukraine übertragen. Ein Beispiel dafür ist, dass ich von Geldgebern und von Gutachtern der von mir verfassten wissenschaftlichen Analysen immer wieder gebeten worden bin, darüber zu schreiben, ob sich durch den Krieg die Zahl der Kinderehen in der Ukraine erhöht habe. Dabei hat die ukrainische Gesellschaft den zweiten demografischen Übergang mit der Tendenz zur Erhöhung des durchschnittlichen Heiratsalters längst hinter sich gebracht, und Kinderehen sind schon seit langem nicht mehr üblich. 

Die These, dass der Krieg das Patriarchat stärke, ist nach meiner Überzeugung zu simpel, und es gibt derzeit auch keinen Grund für die Behauptung, dass dies in der Ukraine geschähe. Vor allem kann ich auf der Ebene der in der Bevölkerung verbreiteten Vorstellungen und Wahrnehmungen von Geschlechtern keine eindimensionale Auffassung erkennen. Es gibt keine zunehmenden Erwartungen an die Männer in ihrer Rolle als „Verteidiger“ und an die Frauen als diejenigen, die den kämpfenden Männern den Rücken freizuhalten und sie im Hintergrund zu unterstützen hätten.

Auf der Ebene des offiziellen Diskurses und der Gesetzgebung wird von den Männern tatsächlich erwartet, dass sie im Krieg die Rolle des „Verteidigers“ übernehmen. Zum besseren Verständnis des Kontextes möchte ich erklären, dass es in der Ukraine ein gemischtes System gibt: eine Berufsarmee, die Frauen und Männern offen steht, und eine ausschließlich aus Männern bestehende Armee der Wehrpflichtigen. Die meisten Männer in der Ukraine dürfen das Land während des Krieges nicht verlassen. Aber nicht alle Männer dienen beim Militär, es ist nicht einmal die Mehrheit. Im Sicherheits- und Verteidigungssektor sind etwa eine Million Menschen beschäftigt, darunter sind 42.000 weibliche Militärangehörige, zweieinhalbmal so viele wie 2014. An der Front kämpfen 5000 Frauen. Gleichzeitig können nur männliche Zivilisten zum Militärdienst verpflichtet werden, während der Dienst für Zivilistinnen keine Pflicht, sondern ein Recht ist. Eine Frau kann nur auf eigenen Wunsch eingezogen werden. Aber selbst, wenn sie sich der Armee anschließen möchte, kann sie mit Sexismus konfrontiert werden und mit der Weigerung, sie zu mobilisieren. 

Auf der Ebene der Einstellungsen gibt es in der ukrainischen Gesellschaft keinen Konsens darüber, ob ein „richtiger Mann“ in den Krieg ziehen sollte. Nach meinen Beobachtungen werden Erwartungen an die Rolle des Mannes als „Verteidiger“ vor allem von Frauen unterstützt, deren nächste Angehörige im Krieg aktiv sind. Sie halten es für ungerecht, dass ihre Partner kämpfen und sterben, während andere nicht kämpfen wollen. Diese Vorstellung kann auch von den Militärs selbst unterstützt werden. Jedoch machen diese Gruppen nicht die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft aus. Einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts Info Sapiens aus dem Jahr 2022 zufolge sind 60 Prozent der Befragten der Meinung, nur Männer sollten ins Militär eingezogen werden, jeder Dritte ist der Meinung, dass auch Frauen eingezogen werden sollten, und der Rest ist unentschlossen. Natürlich hat der Krieg gewisse Herausforderungen für die hegemoniale Männlichkeit mit sich gebracht. Die Männer könnten in Bezug auf das traditionelle Männlichkeitsmodell eine gewisse Anspannung empfinden, da der Militärdienst fast die einzige Form seiner Umsetzung während des Krieges ist. Darüber hinaus ist durch Umfragen belegt, dass die ukrainische Gesellschaft im Allgemeinen das Konzept einer Berufsarmee unterstützt, nicht aber eine auf dem Geschlecht basierende Wehrpflicht. In der Ukraine gibt es keine Daten darüber, wie hoch der Anteil der männlichen Bevölkerung ist, der sich der Mobilisierung entzieht. Indirekte Daten deuten jedoch darauf hin, dass der Anteil der Männer, die nach dem Großangriff von Russland ein Studium aufgenommen haben, um ein Vielfaches gestiegen ist, vermutlich wollten sich diese Männer der Mobilisierung entziehen. Nach der Gesetzeslage berechtigt nämlich die Immatrikulation an einer Hochschule zum Aufschub des Militärdienstes, nebenbei wurde die Hochschulzulassung durch einen Vertrag, der die Studierenden verpflichtet, ihre Ausbildungskosten selbst zu tragen, erheblich vereinfacht. Nach 2022 ist die Zahl der Studierenden unter 20 Jahren, dem traditionellen Alter für den Hochschulzugang in der Ukraine, zurückgegangen, während die Zahl der männlichen Studierenden zwischen 30 und 50 Jahren stark gestiegen ist.

In Bezug auf die Rolle der Frauen ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier ist meiner Einschätzung nach eine stärkere Erosion der traditionellen Geschlechterrollen zu erwarten. Das hat in erster Linie mit der öffentlichen Sichtbarkeit von weiblichen Militärangehörigen in der Ukraine zu tun. Frauen, die an der Front kämpfen, begegnen natürlich immer noch dem Vorurteil, dass dies „keine Frauensache“ sei. Aufgrund meiner Medienanalyse kann ich jedoch sagen, dass es diesbezüglich spürbare Veränderungen zum Positiven gibt. Dies zeigt sich in den Reden des Präsidenten und der Beamten, die über die Verteidigung des Landes durch beide Geschlechter (zakhysnyky ta zakhysnytsi) sprechen, und auch in der Werbung durch die sozialen Medien. Schilderungen von Frauen im Militär fallen in den Medien nicht mehr so sexistisch aus. Auch so wird die traditionelle Geschlechterordnung in Frage gestellt.

Auch in Bezug auf Zivilistinnen beobachte ich bestimmte Veränderungen. Es ist nicht zweifelsfrei feststellbar, dass die ukrainische Gesellschaft vor Beginn des Krieges entschieden traditionalistisch war. Es gab vielmehr Tendenzen in beide Richtungen. Auf der Einstellungsebene vertrat die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich eher traditionelle Ansichten über die Rollen von Frauen und Männern, obgleich sich diesbezüglich im Laufe der Jahre von einer Generation zur nächsten eine spürbare Dynamik entwickelt hatte. Gleichzeitig war zum Beispiel das Niveau der Frauenerwerbstätigkeit recht hoch.

Ich denke, dass der Krieg sich als Katalysator für ein stärkeres Selbstbewusstsein der Frauen erweisen wird. Erstens gibt es eine wachsende Zahl von Müttern, die aufgrund von Scheidungen, Familientrennungen durch Vertreibung oder den Verlust des Partners im Krieg ihre Kinder allein erziehen. Viele Frauen machen daher jetzt zum ersten Mal die Erfahrung eines unabhängigen Lebens, in dem sie allein Verantwortung für die Familie tragen und wichtige Entscheidungen treffen müssen. So sagte mir eine Frau, die vertrieben wurde und ins Ausland fliehen musste, als ich sie im Rahmen eines Projekts interviewte: „Früher [vor dem Krieg und der Vertreibung, O.S.] war mein Mann für alles verantwortlich, und jetzt bin ich mit drei Kindern im Ausland allein.“Es ist schwer vorherzusagen, was mit diesen Familien geschehen wird, wenn sie sich wiedersehen. Die aktuelle Situation wird sich jedoch ganz sicher entscheidend auf die Identität, das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis der Frauen auswirken. Ich denke, dass Frauen, die gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen und ihre Kinder allein zu erziehen, nicht mehr zu den traditionellen Mustern der Geschlechtsrollenverteilung zurückkehren wollen. Andererseits schließe ich auch nicht aus, dass zumindest einige von ihnen der vielen Verantwortung überdrüssig sind, dass sie sich nach einer ‚starken Männerschulter‘zum Anlehnen sehnen und ‚einfach nur Frau sein‘ wollen.

Freilich werden die Veränderungen nicht nur von Einstellungen, sondern auch von strukturellen Faktoren beeinflusst. Das äußerst niedrige Lohnniveau in Sektoren mit einer hohen Konzentration von Frauen (Bildung, Medizin, Sozialarbeit) kann die Entwicklungsprozesse verlangsamen. Frauen sind verletzlicher, auch stärker durch häusliche Gewalt gefährdet, wenn sie nicht über ausreichende finanzielle Autonomie verfügen. Aufgrund der kriegsbedingten Defizite der staatlichen und lokalen Haushalte rechne ich mit einer verschärften Feminisierung der Armut, einer Vergrößerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles und einem Rückgang der Sozialleistungen, deren Nutznießer:innen zumeist ältere Frauen sind. Probleme mit der Betreuungsinfrastruktur, zum Beispiel mit Kindergärten, die nicht richtig betrieben werden können, wirken sich zweifellos negativ auf das Niveau der Wirtschaftstätigkeit von Müttern aus. Auch werden die Mängel in der Pflegeinfrastruktur und in den Rehabilitationseinrichtungen bei gleichzeitiger Zunahme von Menschen mit kriegsbedingten Behinderungen (vor allem unter den männlichen Militärangehörigen) zu einer stärkeren Belastung der Frauen in der Reproduktionsarbeit führen.

Rechte und Politik

Es ist wichtig, im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine den politischen Kontext zu berücksichtigen, da dieser Krieg eng mit dem Wunsch der ukrainischen Gesellschaft verbunden ist, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Ich halte EU-Mitgliedschaft nicht für ein Wundermittel, das rasche Veränderungen bringen wird. Allerdings würde dieser Prozess höchstwahrscheinlich eine Absicherung gegen einen etwaigen Backlash bei der Gleichstellung der Geschlechter und gegen die Einschränkung von Frauenrechten (zum Beispiel durch ein Abtreibungsverbot nach dem Krieg zum Zwecke eines stärkeren Bevölkerungswachstums) bieten. Auf Konferenzen im Ausland werde ich oft gefragt, ob ich dergleichen erwarte. Ich antworte dann, dass ich nicht mit dramatischen Veränderungen im Sinne einer Einschränkung der Frauenrechte rechne.

Die kriegerische Großoffensive Russlands gegen die Ukraine hat die Absicht der Ukraine, Mitglied der EU zu werden, nur noch mehr gefestigt. Es ist ein positiver Kontext für die Implementierung von Gleichstellungsmaßnahmen geschaffen worden, wie die Ratifizierung des Abkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbul-Konvention) zeigt, das die Ukraine bereits 2011 unterzeichnete. Damals wurde die Konvention jedoch aufgrund des Widerstands konservativer Gruppen oder sogenannter „Anti-Gender-Bewegungen“, d. h. Bewegungen gegen die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte von LGBT-Personen, nicht ratifiziert. Als aber im Juni 2022 die Frage des EU-Kandidatenstatus der Ukraine diskutiert und verhandelt wurde, ratifizierte das ukrainische Parlament die Konvention schließlich doch. Natürlich besteht die Sorge, dass dieser Schritt nur unternommen wurde, um der Ukraine in der EU eine bessere Position bezüglich ihrer Kandidatur zu verschaffen. Auf alle Fälle wurden mit der Ratifizierung der Konvention neue Instrumente zur Durchsetzung von Frauenrechten eingeführt, besonders im Hinblick auf die Prävention und Bekämpfung von geschlechterbasierter Gewalt. 

Ein weiterer Punkt zugunsten der Frauen- und LGBT-Rechtsbewegungen ist, dass diese Bewegungen für Werte eintreten, die im klaren Gegensatz zur Ideologie des sogenannten „Russkii mir“ (Russische Welt) stehen. Indem sie sich gegen Homophobie, gegen die Verharmlosung häuslicher Gewalt und gegen Menschenrechtsverletzungen wenden, schwächen sie die Position der sogenannten Anti-Gender-Bewegung und ihren Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der Ukraine. Derartige Bewegungen werden delegitimiert, indem ihre Verknüpfung mit russischen Narrativen nachgewiesen wird.

Eine Gefahr des Krieges ist jedoch, dass der Einfluss der Frauen auf die Entscheidungsprozesse abnimmt. Die Ukraine hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei der Vertretung von Frauen in gewählten Gremien gemacht, zum Teil auch dank des 2015 eingeführten Instruments der Geschlechterquoten. Während des Krieges werden nach ukrainischem Recht keine Wahlen abgehalten. Wir wissen weder, wann der Krieg zu Ende sein wird, noch wie die politischen Kräfte sich dann zusammensetzen werden. Vor dem Hintergrund des Krieges werden die Stimmen und Positionen derjenigen stärker sein, die einen sichtbaren Beitrag zur Verteidigung des Staates leisten. Wenn wir über die Wahl von Staatsorganen sprechen, sollten wir daher mit einer großen öffentlichen Unterstützung des Militärs rechnen, wo die Männer in der Mehrheit sind. Ich unterstütze auf jeden Fall in diesem Zusammenhang Initiativen und Projekte von Frauen in Führungspositionen, von denen es inzwischen viele gibt. Die Frage ist jedoch, inwieweit diese Sichtbarkeit des Beitrags der Frauen zum Sieg in der Gegenwart ihre politischen Möglichkeiten in der Zukunft beeinflussen wird.

Bleiben und Weggehen 

Jeder Krieg ist in erster Linie eine große menschliche Tragödie. Zugleich sind Frauen nicht nur Opfer des Krieges. In der Ukraine werden Frauen zu Akteurinnen des Wandels, d. h. sie sind in der Lage, Widerstandskraft zu entwickeln und den Folgen der Feindseligkeiten zu widerstehen, indem sie sich selbst, ihre Familien und ihre Gemeinschaften unterstützen. Sie schließen sich den Streitkräften an, leisten Freiwilligenarbeit, führen humanitäre Projekte durch usw. 

Vor dem Ausbruch des Krieges habe ich ein wachsendes Interesse an feministischen Ideen beobachtet, insbesondere bei jungen, gebildeten Frauen, aber im Allgemeinen ist der Feminismus in der Ukraine nicht sehr populär. Es ist unwahrscheinlich, dass sich der Krieg auf den Anteil der Frauen auswirkt, die sich als Feministinnen verstehen. Vor dem Ausbruch des Krieges wurden in verschiedenen Städten der Ukraine Frauenmärsche abgehalten. Jedes Jahr dehnten sie sich weiter aus und die Zahl der Teilnehmerinnen stieg. Doch während des Kriegsrechts sind friedliche Versammlungen verboten, so dass die öffentliche Sichtbarkeit des Feminismus abnimmt und er ausschließlich online stattfindet.

Generell, so meine ich, wird der Krieg jedoch die Anpassungsfähigkeit von Frauen erhöhen, vor allem ihre Fähigkeit, mit den Bedingungen von Stress- und Unsicherheit umzugehen und zu handeln. Das gilt besonders für die Gruppe der ins Ausland vertriebenen Frauen, von denen viele, wie erwähnt, besondere Fähigkeiten erwerben, um Schwierigkeiten bei der Organisation des Familienlebens selbstständig zu überwinden. Nach meinen Beobachtungen sind hingegen viele oder sogar die allermeisten Männer, die mit ihren Familien ins Ausland vertrieben wurden, verwirrt und deprimiert – auch diejenigen, die ganz legale Ausreisegründe hatten. Denn sie haben im Rahmen der traditionellen männlichen Sozialisation keine andere Rolle von gelungener Männlichkeit als die des Ernährers kennen gelernt. Wenn ein Mann diese Chance durch Krieg oder Zwangsvertreibung verliert, ist das für ihn eine besondere Herausforderung, während sich eine Frau in solchen Situationen eher selbst über Wasser hält und sich zudem auch häufig um Kinder oder ältere Familienmitglieder kümmert.

Darüber hinaus engagieren sich viele Frauen ehrenamtlich und bauen Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung von Frauen auf, wie die Soziologin Oksana Dutchak zeigt. Geflüchtete Frauen sind oft von ihren gewohnten Unterstützungsnetzwerken in der Reproduktionsarbeit (insbesondere von Verwandten) abgeschnitten und haben gleichzeitig nur eingeschränkten Zugang zu institutionellen Ressourcen (z. B. Kindergärten). Es sind Netzwerke informeller Frauenunterstützung, die zu einer wertvollen Ressource werden: Frauen bilden Netzwerke und helfen sich gegenseitig bei der Reproduktionsarbeit, indem sie sich zum Beispiel abwechselnd um die Kinder der anderen kümmern. Dutchak weist außerdem auch darauf hin, dass Mangel an Unterstützung und Netzwerken zu einer physischen und psychischen Unfähigkeit führen kann, mit der Situation als alleinerziehende Mutter zurechtzukommen, und manchmal sogar zu der Entscheidung, mit den Kindern in die Ukraine zurückzukehren.

Beitrag III von Tamara Martsenyuk 

Krieg und Geschlechterverhältnisse in der Ukraine aus der Perspektive der Öffentlichen Soziologie 

Seitdem die Ukraine im Jahre 1991 unabhängig wurde, haben Gleichheit und Menschenrechte als Werte der ukrainischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen. In Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter wurden während und nach den – auch als „Revolution der Würde“ bezeichneten – Euromaidan-Protesten von 2013 und 2014 entscheidende Fortschritte gemacht. Frauen haben in diesem Kampf für Freiheit, Gleichheit und Würde, wie schon bei anderen historischen Ereignissen, eine wichtige Rolle gespielt. In der Ukraine gibt es eine lange Tradition von Graswurzelbewegungen, an denen Frauen aktiv teilgenommen haben, weil sie im Land grundlegende Veränderungen durchsetzen wollten. 

Dynamik von Geschlechterrollen und Praktiken: Ergebnisse des feministischen Aktivismus‘ der letzten zehn Jahre

Während der Euromaidan-Proteste in den Jahren 2013 und 2014 habe ich an verschiedenen Aktivitäten zunächst als Freiwillige teilgenommen. Später beschloss ich, die Ereignisse aus einer Geschlechterperspektive zu erforschen. Als ich mich eingehender mit der Partizipation von Frauen befasste, kam ich zu folgenden Ergebnissen: Während der turbulenten Ereignisse gelang es den Frauen, traditionelle Geschlechterrollen (als fürsorgliche Betreuerinnen und als Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen) aufzubrechen, als Revolutionärinnen und Freiwillige machten sie ihre Ansprüche auf Sichtbarkeit, Anerkennung und Respekt geltend. Als die Proteste gewalttätig wurden, wurden Frauen von den meisten Aktivitäten im Umfeld der engeren Protestzone ausgeschlossen. Sie reagierten auf diesen Ausschluss, indem sie sich sowohl in militärischen als auch in zivilen ‚Sotnjas’ oder Hundertschaften organisierten. Die Žynoča sotnja (Frauenhundertschaft) ist der bekannteste Zusammenschluss. Viele Wissenschaftler: innen, die sich mit den Themen Gender und Feminismus beschäftigen und unter anderem die Rolle der Frauen im Maidan erforschen, sind Mitglieder dieser Gruppe. Hauptaufgabe der im Mai 2014 gegründeten Hundertschaft war die Organisation von Bildungsaktivitäten und friedlichem Widerstand. Sie hat Selbstverteidigungs- und Erste-Hilfe-Kurse, außerdem Vorlesungen zu Gender und Feminismus in der Offenen Universität des Maidan und im Ukrainischen Haus organisiert. Die Gruppe besteht auch nach dem Ende des Euromaidan weiter und organisiert bis heute Diskussions- und Informationsveranstaltungen. Die Frauen bemühten sich, ihren Beitrag zum Euromaidan deutlicher herauszustellen, vor allem auch, weil sie nach der Orangenen Revolution erfahren mussten, dass ‚normale’ Frauen als revolutionäre Akteurinnen in der Erinnerungspolitik fast gar nicht vorkamen. Später, als die sogenannte Anti-Terror-Operation (ATO) begann, schlossen sich Frauen als Freiwillige, Journalistinnen oder medizinisches und militärisches Personal im Krieg um den Donbass den Frontlinien an.

Die Revolution der Würde brachte die Frauen in der Ukraine dazu, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie traten in der Öffentlichkeit stärker als Handelnde in Erscheinung und drängten darauf, Probleme der Ungleichheit zu thematisieren und Geschlechtergerechtigkeit herzustellen. Die Kämpferinnen für Frauenrechte erhoben den bei den Euromaidan-Protesten artikulierten Wert der Menschenwürde zum Maßstab des Handelns.

In meiner Arbeit zu diesen Fragen habe ich mich um eine ausgewogene Darstellung der Partizipation von Frauen bemüht, indem ich Probleme und Erfolge gleichermaßen berücksichtigt habe. Manche Wissenschaftler:innen meinen, ich sei zu optimistisch, denn die meisten Studien zu Gender und Staatenbildung gehen in ihren Analysen aus einer äußerst kritischen Perspektive an die Probleme heran. Dabei bleiben jedoch kleinere Schritte und Verbesserungen häufig verborgen. Wir erwarten schnelle Veränderungen und beachten nicht, was sich allmählich an schrittweisem Zugewinn ergibt. In Situationen radikaler gesellschaftlicher Umwälzungen, wie sie der Krieg darstellt, sind jedoch kleine Veränderungen besonders wichtig, um den Widerstand zugunsten der Menschenrechte und der Gleichstellung der Geschlechter aufrecht erhalten zu können.

Geschlecht und Krieg in der Ukraine 

Im Bereich der öffentlichen Soziologie, den ich vertrete, wird Wert darauf gelegt, auf die Stimmen der von uns untersuchten Personen zu hören und sie zu verstehen. Auch wenn diese Personen uns bei der Untersuchung von Problemen der Geschlechterdiskriminierung um Hilfe bitten, wollen sie sich doch keineswegs als Opfer fühlen. Nicht die Opferrolle, sondern Handlungsfähigkeit ist der Schlüsselbegriff, wenn man verstehen will, wie sich, insbesondere nach der großen russischen Invasion, der Widerstand ukrainischer Frauen entwickelt hat. Werte wie Würde und Gleichheit sind mit dem europäischen Vektor der sogenannten „zivilisatorischen Wahl“ (zwischen Europa und dem „Russkiy Mir“) verbunden, für den die Ukraine sich seit Beginn der Euromaidan-Proteste entschieden hat. Die Hauptadressat:innen meiner Forschung – Frauen im ukrainischen Militär – benötigen Handlungsfähigkeit, um ihre Stärken unter Beweis zu stellen und zu zeigen, welche Herausforderungen sie meistern können. Ich beziehe mich auf das 2015 begonnene soziologische Forschungsprojekt in der Ukraine namens „Invisible Bataillon“, aus dem eine größere Kampagne für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen und Männern hervorgegangen ist.

Im Sommer 2015 schlug Maria Berlinska, eine als Spezialistin für Luftaufklärung tätige Freiwillige, vor, eine soziologische Untersuchung zur Beteiligung von Frauen an der Anti-Terror-Operation (ATO) durchzuführen. Wir bildeten mit den Soziologinnen Anna Kvit und Hanna Hrytsenko zusammen ein wissenschaftliches Team. Seit 2015 haben wir bereits fünf soziologische Projekte abgeschlossen. Es war nicht einfach, das Thema Geschlechterdiskriminierung in der ukrainischen Armee anzusprechen. Wir wurden von allen möglichen Seiten kritisiert: Aus dem Sicherheits- und Verteidigungssektor hieß es, wir übertrieben mit dem Problem; einige Militärangehörige behaupteten sogar, wir hätten das Problem erst geschaffen, während der politischen Rechten unsere Absage an traditionelle Geschlechterrollen missfiel. Und einige andere – hauptsächlich radikale oder sogenannte kritische – Feministinnen warfen uns vor, die Frauen zu „militarisieren“ und ihnen Gewaltstrukturen aufzudrängen.

Gleichzeitig gewann ein weiteres Thema in unserer öffentlich-soziologischen Forschung an Bedeutung, nämlich die Interaktion zwischen unterschiedlichen Gruppen und deren Kooperation. Seit 2015 kommunizieren wir deshalb häufiger sowohl mit Frauen und Männern im Militär als auch mit verschiedenen NGOs, die an der Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit arbeiten sowie mit NGOs mit anderem Schwerpunkt.

Ich versuche, acht Jahre unserer Forschungsarbeit in Zusammenarbeit mit anderen sogenannten Akteur:innen des Wandels im ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungssektor zusammenzufassen: Im Laufe des mittlerweile zehn Jahre andauernden russisch-ukrainischen Krieges ist die Zahl der Frauen, die im Sicherheits- und Verteidigungssektor arbeiten, deutlich gestiegen. Der Eintritt von Frauen in die Armee ist heute selbstverständlicher Bestandteil der politischen Agenda. In der Armee werden die Werte Würde und Professionalität mit der Integration von Frauen und der Implementierung von Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter verbunden. Dieser Prozess verläuft in mehrere Richtungen: Es gibt einen Top-Down-Ansatz als Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter auf offizieller Ebene und einen Bottom-Up-Ansatz, den NGOs und Basisaktivist:innen verfolgen. Frauen im Militär, von denen sich einige NGOs und anderen Gruppen – etwa der Bewegung der Veteraninnen – angeschlossen haben, sind darauf vorbereitet, für ihre Rechte zu kämpfen.

Die Kampagne „Invisible Bataillon“ ebnete den Weg für positive Veränderungen sowohl im Sicherheits- und Verteidigungssektor selbst als auch in der öffentlichen Wahrnehmung von Soldatinnen bei der Verteidigung der Ukraine. In den Jahren danach haben sich die Rahmenbedingungen für den Status weiblicher Militärangehöriger erheblich verändert: Nach und nach wurden Positionen in kämpfenden Verbänden für Frauen geöffnet, ihnen wurde die Zulassung zu Militärschulen und höheren militärischen Bildungseinrichtungen gewährt und in den Streitkräften sind die allgemeinen Grundsätze zur Gleichstellung der Geschlechter eingeführt und gesetzlich verankert worden. 

Obwohl das Problem der horizontalen und vertikalen Segregation in den Streitkräften weiterbesteht, lässt sich doch konstatieren, dass verschiedene Akteure (darunter das Verteidigungsministerium der Ukraine) während der Kriegsjahre eine Reihe von Verbesserungen bewirkt haben, nämlich: Gleichstellung der Geschlechter in der Militärgesetzgebung, Zugang von Frauen zu militärischen Berufen (einschließlich der Positionen in kämpfenden Verbänden), Anerkennung von Frauen als Veteraninnen, zunehmende Anerkennung des Problems geschlechtsbasierter Gewalt, Zugang zu militärischer Ausbildung für Mädchen auf allen Ebenen, Schulung und Aufklärung des Personals zu Geschlechterfragen und soziologische Forschung zu verschiedenen Aspekten der Umsetzung von Gleichstellungsmaßnahmen.

Untersuchung der Verletzbarkeit von Frauen in den ukrainischen Streitkräften

Dennoch bleiben einige Fragen im Hinblick auf die Gewährleistung gleicher Rechte und Chancen für Frauen im militärischen Bereich ungelöst, darunter die Prävention und Bekämpfung in Bezug auf sexuelle Belästigung. Die Zahl der Klagen von Opfern sexueller Belästigung durch Militärangehörige nimmt zu, was auf ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für dieses Problem hindeutet. Allerdings bleibt das Thema immer noch in gewisser Weise tabu, so dass die Täter insbesondere in der aktiven, anhaltenden Phase der Kampfhandlungen ungestraft davonkommen.

Die öffentliche Soziologie achtet auch auf eine interdisziplinäre Perspektive. Für unser Projekt war es zum Beispiel wichtig, auf historische Parallelen zum Zweiten Weltkrieg und die Beteiligung von Frauen am Krieg, insbesondere in Kampfverbänden, einzugehen. Andere Wissenschaftler:innen haben bereits darauf hingewiesen, dass es in den Archiven zwar Kriegserzählungen von und über Frauen in der Armee gibt, dass sie aber, wie im jetzigen Krieg, weitaus geringere Beachtung finden als die Erzählungen männlicher Militärangehöriger. Im Hinblick auf die Integration von Frauen in die Streitkräfte haben wir Wissenschaftlerinnen uns also dafür eingesetzt, die gleichberechtigte Teilnahme ukrainischer Frauen am russisch-ukrainischen Krieg in den Medien und im öffentlichen Diskurs deutlicher sichtbar zumachen. 

Im Zusammenhang mit Fragen der Gesetzgebung, die für Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter von großer Bedeutung sind, arbeiten wir eng mit der NGO „Analytical and Advocacy Center Legal Hundred“ und deren Expert:innen zusammen. Bei unseren Untersuchungen stellen wir auch eine Liste mit Empfehlungen für verschiedene politische Akteure zur Verfügung. Dies ist sehr hilfreich für unsere Präsentationen, da wir die aktuelle Situation nicht nur kritisch analysieren, sondern auch Vorschläge machen bzw. eine Vorstellung davon präsentieren können, welche Dinge wie verändert werden sollten. Als Beispiel möchte ich auf die Empfehlungen unserer dritten Studie zum Problem sexueller Belästigung und geschlechterbasierter Gewalt in den Streitkräften der Ukraine hinweisen.

Rechte und Politik: Warum ukrainische Studien in der Gender- und Kriegsforschung mehr Aufmerksamkeit verdienen 

In der Situation realer militärischer Bedrohung und angesichts einer Großinvasion finden Vorstellungen, Frauen gleichberechtigt in die Streitkräfte einzubeziehen, erheblich mehr Unterstützung als zuvor. Das liegt auf der Hand, da es jetzt angebracht zu sein scheint, alle Humanressourcen miltärisch einzusetzen, unabhängig vom Geschlecht. Ähnliches gilt bezüglich der Einstellung gegenüber LGBT-Personen im Allgemeinen und LGBT-Militärpersonal im Besonderen. Bei der Wahl zwischen den beiden Zivilisationen, dem sogenannten „Russkiy Mir“ (der sich auf traditionelle Geschlechterrollen und Homophobie stützt) und westlichen Maßstäben von Gleichheit und Inklusivität entscheiden sich sowohl die ukrainische Bevölkerung als auch die politischen Eliten des Landes eindeutig für die zweite Option. In diesem großen Krieg, in dem verschiedene Gruppen (darunter Frauen und LGBT-Personen) zum Sieg beitragen und sich an verschiedenen Formen des Widerstands (einschließlich der militärischen Verteidigung) beteiligen, erwarten die Menschen mehr Inklusivität und mehr Möglichkeiten, für ihre Rechte zu kämpfen.

Um die Ukraine und den starken Widerstand der ukrainischen Gesellschaft gegen den russischen Angriffskrieg zu verstehen, ist die analytische Entfaltung der Geschlechterperspektive hilfreich. Empirische Daten, die in den letzten Jahren in der Ukraine gesammelt wurden, insbesondere zu den Themen Gleichstellung und Geschlechtervielfalt, bieten die Möglichkeit, westliche Konzepte des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Staatenbildung bzw. Geschlecht und Krieg zu überdenken. Für ukrainische Frauen und Männer ist ihre nationale Identität wichtig, da sie seit Jahrhunderten für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Gleichzeitig unterstützen diese Menschen mit starker nationaler Identifikation auch Vorstellungen von der Gleichheit der Geschlechter und Gleichberechtigung von LGBT-Personen. In den westlichen soziologischen Theorien zu Geschlecht, Nationalismus und Krieg aber sind diese Themen offenbar nur schwer miteinander zu vereinbaren. Hier könnte der Fall der Ukraine und die Erfahrungen der Ukrainer:innen während der vergangenen Kriegsjahre einen wichtigen Beitrag zu europäischen Debatten über Demokratisierung und die Prozess der Geschlechtergleichstellung sein, denn hier zeigt sich, dass diese Prozesse nicht notwendigerweise sukzessiv oder immer stufen- oder schrittweise verlaufen müssen. Vielmehr wurden in den letzten Jahrzehnten in der Ukraine viele Anstrengungen unternommen, um Fragen der Gleichstellung zu mehr Sichtbarkeit und Bedeutung zu verhelfen. Die Ukraine hat die wichtigsten internationalen Dokumente zur Gewährleistung gleicher Rechte und gleicher Chancen für Frauen und Männer unterzeichnet: das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die Erklärung von Peking zum Status der Frau und die Aktionsplattform von 1995, die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates und neun weitere Resolutionen des UN-Sicherheitsrates zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“, die Ziele für nachhaltige Entwicklung, und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Im Jahr 2022 wurde das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbul-Konvention) ratifiziert.

Um diese, während des Krieges gesammelten soziologischen Daten besser zu verstehen und zu erklären, braucht es Konzeptionen und Theorien, deren Ausarbeitung allerdings noch einige Zeit benötigen wird. Aber schon heute können wir fragen, was genau uns diese Daten und Informationen zeigen und welche Schlussfolgerungen sich aus ihnen noch ziehen lassen. Man muss bei der Untersuchung der ukrainischen und der russischen Gesellschaft den Fokus verschieben, er liegt nicht mehr unter einem gemeinsamen postsowjetischen Dach. Es besteht begründete Hoffnung, dass die jüngsten Erfolge bei der Umsetzung einer Politik der Gleichberechtigung und Chancengleichheit in der Ukraine anhalten und sich für den laufenden Prozess der Aufnahme in die Europäische Union als vorteilhaft erweisen werden. Die Betonung demokratischer Werte und einer europäischen Gegenwart und Zukunft für die Ukraine scheint zu einer positiveren Einstellung gegenüber LGBT-Gemeinschaften und der Gleichstellung der Geschlechter im Allgemeinen beigetragen zu haben. Die russische Gesellschaft hingegen bewegt sich in eine andere Richtung, getreu dem Motto ‚Wenn die Gleichstellung der Geschlechter als gescheiterte Politik der Vergangenheit dargestellt wird, dann können traditionelle Familienwerte auch als alternative Moderne der Zukunft angesehen werden‘.

Schließlich ist es mir ein Anliegen, als Wissenschaftlerin aus der Ukraine einigen westlichen Wissenschaftler:innen und feministischen Aktivist:innen die geopolitischen Aspekte des Krieges zu erklären und deutlich zu machen, warum Frieden ohne Sieg und Gerechtigkeit in dieser Situation eines genozidalen Krieges, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hat, nicht möglich ist. Hier muss die ukrainische Perspektive sichtbar und den ukrainischen Stimmen Gehör verschafft werden. Der ukrainischen Soziologin Nataliya Chernysh zufolge entstehen „neue globale soziale Bewegungen, vor allem eine Bewegung, die Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck bringt“. Jedoch erwarten ukrainische Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen mehr „informierte Solidarität“ und sie erklären, dass „die Einstellung von Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu ‚Frieden mit friedlichen Mitteln‘ führen, sondern Putins autoritärem Regime eine Pause bieten würde, um seine Aggression gegen die Ukraine zu erneuern.“ Chernysh stellt zudem die Vorstellung von der Opferrolle ukrainischer Frauen im Krieg in Frage und erklärt, dass „Frauen in Wirklichkeit eine Schlüsselrolle in Widerstandsbewegungen spielen, sowohl an der Front als auch an der Heimatfront“. Die feministischen Wissenschaftlerinnen Iryna Zamuruieva und Darya Tsymbalyuk stellen heraus, dass Pazifismus in der Ukraine tödlich ist: „Es war für uns keine leichte Entscheidung, um militärische Unterstützung zu bitten. Aber an diesem Punkt würde ein pazifistischer Standpunkt die vorhandene Gewalt nur perpetuieren. Pazifismus tötet. Untätigkeit tötet. Jeder Tag dieses Krieges bedeutet, dass immer mehr Leben verloren gehen – und nicht nur Menschenleben.“

Schlussreflexion – Im Krieg über den Krieg forschen

Forschung zu Geschlecht und Krieg in einem nun bereits zehn Jahre andauernden ‚wirklichen’ Krieg durchzuführen, ist keine leichte Aufgabe. Einerseits hat man die Möglichkeit, in einem realen (empirischen) Feld mit weiblichen und männlichen Militärangehörigen, NGOs und politischen Entscheidungsträger:innen, Pädagog:innen und anderen zu kommunizieren. Dabei geht es nicht um eine Studie, die am Schreibtisch erledigt werden kann und für die alle nötigen Informationen und Theorien aus den Medien zu beziehen sind. Es ist eine sehr praktische Arbeit, die zur Veränderung der politischen Leitlinien führt. Andererseits bleibt durch das ständige Eingebundensein in die Forschung nicht genug Zeit und Energie für die theoretische Reflexion. Es ist schwierig, während eines Krieges neue Theorien zu Geschlecht und Krieg zu entwickeln.

In dieser Situation sind Solidarität und Verständnis gefragt. Die Aufgabe, an der Verbesserung der Menschenrechte in einem Land zu arbeiten, in dem es in erster Linie ums Überleben geht, ist eine große Herausforderung. Es ist nicht so einfach, im Rahmen des Wiederaufbauprojekts „Vision der Ukraine 2030“ eine Zukunftsvision zu entwickeln, denn dazu braucht man Frieden. Aber im Fall der Ukraine ist Frieden ohne Sieg nicht möglich – diese Überzeugung teile ich mit meinen Heldinnen (den Frauen im ukrainischen Militär) und auch die Hoffnung, dass er bald möglich sein wird.

Beitrag IV von Maryna Shevtsova

Zum Einstieg

Zu den eindrucksvollsten und aufschlussreichsten Erfahrungen, die ich beruflich während des russischen Angriffskrieges in der Ukraine gemacht habe, gehören die ersten Monate nach dem 24. Februar 2022, als meine Kolleg:innen und ich mit Erstaunen beobachten mussten, dass manche unserer westlichen Kolleg:innen vielfältige Praktiken der Ausgrenzung und des Schweigens gegenüber ukrainischen (feministischen) Wissenschaftler:innen entwickelten. Ein Beispiel dafür ist das berüchtigte Manifest „Feminist Resistance Against War“, das im März 2022 veröffentlicht und von vielen prominenten westlichen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen unterzeichnet wurde. Die Autor:innen forderten darin den Westen auf, die Ukraine nicht länger mit Waffenlieferungen zu unterstützen und stattdessen Friedensverhandlungen mit Russland zu suchen. Ich glaube, es genügt zu sagen, dass dieses Manifest die Ansichten und Lebensbedingungen der ukrainischen Frauen völlig außer Acht ließ und ihnen ihre Handlungsfähigkeit und ihr „Recht auf Widerstand“ absprach, wie der Titel des feministischen Manifests lautete, mit dem ukrainische Frauen eine Antwort verfassten und das viele von ihnen unterzeichneten.

Diese und viele ähnliche Erfahrungen führten zur Entstehung eines ganzen Korpus‘ feministischer Literatur, die meine ukrainischen, mittel- und osteuropäischen und zentralasiatischen Kolleginnen nicht nur über diesen Krieg und seine Gegebenheiten, sondern auch über den gegenwärtig in der Region stattfindenden Entkolonialisierungsprozess verfassten. An einigen Orten, wie in der Ukraine, verläuft dieser Prozess blutig und tragisch, an anderen, wie in Zentralasien, findet er immer noch hauptsächlich in feministischen, aktivistischen und wissenschaftlichen Räumen statt. Wenn ich Beispiele für die Schriften nennen sollte, die mein Denken in dieser Zeit beeinflusst haben, wären das Madina Tlostanova Can the post-Soviet think? On Coloniality of Knowledge, External Imperial and Double Colonial Difference und What Does it Mean to Be Post-Soviet? Decolonial Art from the Ruins of the Soviet Empire und dann die großartige von Irina Zherebkina, herausgegebene Aufsatzsammlung Transnational Feminist Solidarity with Ukrainian Feminists. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch den im Januar 2024 bei Lexington Books erscheinenden Band Feminist Perspectives on Russia’s War in Ukraine: Hear Our Voices, den ich selbst herausgegeben habe. Der Band enthält zwölf Kapitel von ukrainischen und mittelosteuropäischen Wissenschaftlerinnen, die sich mit verschiedenen Aspekten dieses Krieges befassen. 

Eine der positiven Veränderungen, die mit den schrecklichen Kosten dieses Krieges verbunden sind, ist der zunehmende Dialog zwischen mittel- und osteuropäischen Wissenschaftler:innen, das Nachdenken über unsere Rolle in der internationalen feministischen Literatur, darüber, wie unsere Erfahrungen unser Schreiben prägen und beeinflussen, und ob unser Schreiben dazu führen kann, die Welt um uns herum zu verändern. Dies ist jedoch nur der Anfang, da wir weiterhin mit Problemen konfrontiert sind wie dem, dass lokale Expert:innen, Wissenschaftler:innen und/oder Aktivist:innen über ihre Kenntnisse ausgefragt werden, worauf dann – ohne die Beteiligung einer einzigen Ukrainer:in – Panels über die Ukraine (oder irgend ein Land) stattfinden, oder uninformierte Appelle wie das eingangs erwähnte Manifest folgen. Daher schätze ich Gelegenheiten wie dieses Forum sehr, die den lokalen Akteur:innen Raum und Stimme geben und sie als gleichberechtigte, informierte Diskussions- und Reflexionspartner:innen behandeln und nicht als Opfer, die gerettet werden müssen, oder als weniger kompetente Personen, denen man beibringen und sagen muss, was sie tun sollen.

Gewalt und Gefährdung

Nachdem die Welt im Frühjahr 2022 die Gräueltaten von Bucha und Irpin gesehen hatte, ist viel – doch immer noch nicht genug – über die kriegsbedingte und geschlechterbasierte Gewalt der russischen Besatzer vor allem gegen ukrainische Frauen und Mädchen, aber auch gegen Männer und Jungen gesagt und geschrieben worden. Gleichzeitig wird über andere Arten von Gewalt im Zusammenhang mit diesem Krieg wenig gesagt und getan. Homo- und transphobe Gewalt wird zum Beispiel nach wie vor nur von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentiert und gemeldet. Im Jahre 2022 erschien ein Bericht der für die Rechte von LGBTQ kämpfenden NGO Nash Svit über mehr als sechzig Fälle solcher Gewalttaten. Dabei waren die Täter beinahe in der Hälfte der Fälle Repräsentanten der Polizei oder der territorialen Verteidigungskräfte. Man kann davon ausgehen, dass die Toleranz gegenüber LGBTQ-Personen in der Gesellschaft zwar zunimmt, dies aber nicht automatisch zu weniger homo- und transphober Gewalt führt. Es kann außerdem auch sein, dass manche Menschen diese Art Gewalt unter den Bedingungen des Krieges für akzeptabel halten, und wahrscheinlich gelangen diese Menschen heute eher als früher in den Besitz von Waffen. In Gesellschaften, die sich im Krieg befinden, ist auch sexuelle Gewalt und Belästigung von Frauen (und Männern) im Militär ein Tabuthema. Dank der Arbeit feministischer Wissenschaftlerinnen und Expertinnen aus dem Projekt Invisible Batallion gibt es zu diesem Thema eine anhaltende öffentliche Diskussion. Das Verteidigungsministerium hat jedoch trotz wiederholter Anträge die vorgeschlagene Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von sexueller Belästigung im Militär nicht angenommen. 

Kriege sind in der Regel mit einem Anstieg der häuslichen Gewalt verbunden, die Ukraine wird diesbezüglich keine Ausnahme darstellen. Es gibt bei uns Tausende von Veteranen und Soldaten, die mit PTBS und anderen psychischen Problemen nach Hause kommen; vermutlich wird dies für ihre Familienmitglieder und sie selbst tragische Folgen haben. Zwar werden Gesundheitsfragen auf der Ebene der nationalen Politik diskutiert, und auch das Problem der psychischen Gesundheit von Veteranen ist nicht unbekannt, die dafür bereitgestellten finanziellen und personellen Ressourcen sind jedoch immer noch sehr gering.

Hinzu kommt, dass noch viel mehr Untersuchungen notwendig sind, um die Bedürfnisse und Anforderungen der verschiedenen gefährdeten Gruppen einschätzen zu können. In den Berichten großer Organisationen wie UN Women, UNHCR, FAO und anderer großer humanitärer Akteure werden diese Gruppen zwar erwähnt (z. B. Roma, ältere Frauen, HIV-infizierte Frauen usw.), aber es gibt nur wenige oder gar keine Daten zu ihrer tatsächlichen Situation. Manche NGOs erheben spezielle Daten, aber das reicht nicht aus, da ihre Ressourcen begrenzt sind – die meisten Geber unterstützen keine Forschung. Da die Gruppen zudem gewöhnlich diskriminiert und marginalisiert werden, ist es nicht einfach, sie zu erreichen und Informationen über ihre Lage zu sammeln. Infolgedessen gibt es lediglich Annahmen darüber, wer von humanitären Bemühungen ausgeschlossen ist. Diese werden jedoch nicht durch solide Daten gestützt, was häufig zu uninformierten Strategien und Maßnahmen führt. Mit anderen Worten: Es sind zwar mehr aufeinander abgestimmte Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung verschiedener Arten von Gewalt und Diskriminierung nötig, aber zuerst brauchen wir in der Ukraine vor allem mehr Erhebungen zu spezifischen Zielgruppen.

Bleiben und Weggehen 

Ich möchte mich in meiner Antwort beschränken auf LGBTQ-Personen und ihre Entscheidung, ob sie das Land oder den Ort, den sie vor dem Krieg „Heimat“ nannten, verlassen oder dort bleiben sollen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, unter anderem als ein „Krieg der Werte“ dargestellt wird, in dem Russland vorgeblich die so genannten „traditionellen christlichen Werte der Familie“ schützt, während der Kreml die Regierung der Ukraine als Marionette des Westens bezeichnet, die der Bevölkerung LGBTQ-Rechte aufzwingen will. Aufgrund dieser Tatsache und der Gefahr homo- und transphober Gewalt, die bei bewaffneten Konflikten unweigerlich zunimmt, fühlten sich LGBTQ-Personen nach Beginn der Großinvasion besonders bedroht, und viele beschlossen, ihr Zuhause zu verlassen und in sicherere Gebiete oder ins Ausland zu fliehen. Das Land zu verlassen, war nicht für alle eine Option, denn für schwule Cis-Männer gelten zum Beispiel dieselben Einschränkungen wie für die meisten Männer zwischen 18 und 60 Jahren: Sie dürfen das Land im Ausnahmezustand nicht verlassen (Homosexualität gilt in der Ukraine nicht als Grund für eine Befreiung von der Wehrpflicht). Deshalb sind die meisten ukrainischen LGBTQ-Flüchtenden, die nach dem 24. Februar 2022 das Land verlassen haben, Personen, deren Geschlecht in ihren offiziellen Dokumenten als weiblich bezeichnet wird, oder Trans-Personen, die ein entsprechendes ärztliches Dokument haben. Es ist nicht einfach, dieses Dokument zu erhalten, da es im ukrainischen Gesundheitssystem nach wie vor transphobe und homophobe Praktiken gibt. Aber selbst wenn ihre Dokumente in Ordnung waren, haben viele Trans-Personen beim Grenzübertritt, der ihnen zunächst gelegentlich mehrfach verwehrt wurde, Diskriminierung und Demütigung erfahren. 

Man muss jedoch feststellen, dass viele LGBTQ-Personen sich entschieden haben, das Land nicht zu verlassen, viele LGBTQ-Aktivist:innen setzten ihre Arbeit fort. Sie leisten humanitäre Hilfe für Bedürftige, sammeln Spenden für das Militär, führen Aufklärungsveranstaltungen durch und betreiben Lobbyarbeit. Auch beim Militär gibt es viele LGBTQ-Personen. In den letzten anderthalb Jahren hat ihre Sichtbarkeit stark zugenommen, da sich queere Menschen, die die Ukraine verteidigen, in den sozialen Medien und in den Nachrichten öffentlich geoutet haben. Während 2018 bei der ersten Fotoausstellung in Kiew, bei der Fotos von LGBTQ-Personen im Militär gezeigt wurden, die Menschen auf allen Fotos ihre Gesichter noch verbargen, gibt es 2022-2023 auf der offenen Facebook-Seite Viys’kovi LGBT+ (LGBT+ Militär) fast jede Woche neue Posts mit Fotos von queeren Militärangehörigen, die ihre Geschichten erzählen und sich für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Land einsetzen. Ich glaube, dass dieses Phänomen zusammen mit der größeren Akzeptanz der sogenannten europäischen Werte in der Gesellschaft dazu geführt hat, dass sich die gesellschaftliche Unterstützung von LGBTQ-Personen nach einer vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie durchgeführten soziologischen Umfrage im Vergleich zu 2016 verdoppelt hat. Dies hat auch wesentlich dazu beigetragen, dass der Gesetzesentwurf zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zustande kam. Interessanterweise ernannte die ukrainische Regierung im Jahr 2023 Sarah Ashton-Cirillo, eine Transfrau aus den USA, zur Sprecherin der ukrainischen Territorialverteidigung, etwas, das noch 2021 unmöglich gewesen wäre. Sie wurde allerdings im September 2023 aufgrund von Äußerungen, welche die Militärhierarchie nicht bestätigen wollte, ihres Amtes enthoben.

Die Erfahrungen der geflüchteten LGBTQ-Personen, die sich derzeit in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten aufhalten, sind sehr unterschiedlich. Zusammen mit der in Dnipro ansässigen NGO Gender Stream habe ich eine qualitative Studie mit mehr als vierzig LGBTQ-Flüchtenden durchgeführt, die nach dem 24. Februar 2022 die Ukraine verlassen haben und sich nun in ganz Europa aufhalten (der vollständige Text der Studie ist online im Open Access verfügbar). Wir haben herausgefunden, dass LGBTQ-Personen aus der Ukraine in einigen EU-Ländern wie der Slowakei oder Polen nicht selten mit dem gleichen – manchmal sogar mit einem höheren – Maß an Diskriminierung und Homophobie konfrontiert sind wie in ihrer Heimat. Die Diskriminierung als ukrainische Flüchtende und als queere Personen kommt einer doppelten Gefährdung gleich, da sie häufig Isolation und Depressionen zur Folge hat. Zusätzlich zu den üblichen Hindernissen, mit denen Flüchtlinge zu kämpfen haben, wie Sprache oder eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sicherem Wohnraum, können sich LGBTQ-Ukrainer:innen auch von ihrer eigenen – ukrainischen – Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen, vor allem, wenn diese Gemeinschaft, wie es oft der Fall ist, sich um eine Kirche gruppiert. In Ländern wie Deutschland, Österreich oder den Niederlanden ist die Situation deutlich besser, insbesondere für LGBTQ-Paare mit Kindern, die nun offen über ihre Beziehungen sprechen können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen ihr Kind weggenommen wird. Gleichzeitig haben wir viele beeindruckende Beispiele von Selbstorganisation und Lobbyarbeit erlebt. So wurde in Deutschland vor einigen Monaten von ukrainischen Flüchtenden eine ukrainische NGO für LGBTQ-Rechte, Kwitne Queer, gegründet. Die Mitglieder bieten psychologische Unterstützung an, führen öffentliche Veranstaltungen durch und arbeiten daran, das Bewusstsein für die Probleme von LGBTQ-Flüchtenden zu schärfen. Die ukrainische NGO Gender Streamzog im Frühjahr 2022 um und ist seitdem in der Slowakei aktiv, sie organisiert Unterkünfte für LGBTQ-Personen, sammelt Spenden für die LGBTQ-Gemeinschaft in der Ukraine und hilft Flüchtlingen, die Grenze zu überqueren, sich in der Slowakei niederzulassen oder in ein anderes EU-Land zu ziehen. Dies sind meiner Meinung nach großartige Beispiele für das Mobilisierungs- und Aktionspotenzial der ukrainischen LGBTQ-Gemeinschaft, sowohl innerhalb der Ukraine als auch außerhalb ihrer Grenzen. 

Rechte und Politik

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist tief in der Geschichte und im geopolitischen Kontext verwurzelt. Betrachtet man die langen Jahre des Krieges, beginnend mit der Annexion der Krim im Jahr 2014, kann man nachvollziehen, wie sich der Krieg zwischen der Ukraine und Russland vor dem Hintergrund der Annäherung zwischen der Ukraine und der Europäischen Union entwickelt hat; und wie es auf gesellschaftlicher Ebene zunehmend zu Veränderungen kam, die sich später in Änderungen auf dem Feld von Recht und Gesetz niederschlugen. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese rechtlichen Änderungen sowohl vor als auch nach dem 24. Februar 2022 zum einen auf die beharrliche Arbeit ukrainischer zivilgesellschaftlicher Aktivist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen zurückzuführen sind, und zum anderen auf den politischen Druck der Europäischen Union, der besonderen Nachdruck bekommt, seit die pro-europäische Regierung der Ukraine zunehmend mehr auf die Unterstützung des Westens angewiesen ist. Zu den Änderungen gehören die Verabschiedung des nationalen Mechanismus zur Gleichstellung der Geschlechter, ein Gesetz zur Bekämpfung von Diskriminierung, Änderungen im Arbeitsrecht, das jetzt die Diskriminierung von LGBTQ-Personen am Arbeitsplatz verbietet und anderes mehr.

Während der Großinvasion setzte sich dieser Trend fort, da die Regierung sich noch stärker bemühte, ihr Engagement für den Beitritt zur Europäischen Union unter Beweis zu stellen. Die NATO und die Zivilgesellschaft nutzten dieses Momentum, um den Wandel voranzutreiben. Ein Ergebnis war, dass die Ukraine die Istanbul-Konvention ratifizierte, die von mehreren konservativen und religiösen Gruppen jahrelang blockiert worden war. Der Gesetzentwurf zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen wurde ins Parlament eingebracht, das Parlament verabschiedete ein Gesetz zum Verbot homophober Hassreden in den Medien. All diese Veränderungen erschienen vor 2022 als unmöglich. Angesichts der russischen Großoffensive gegen die Ukraine hat sich gezeigt, dass weder die ukrainische Regierung noch die ukrainische Gesellschaft so konservativ sind, wie einige politische Gruppierungen sie darstellen wollen. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, ob diese rechtlichen Änderungen ordnungsgemäß umgesetzt werden und ob sie nachhaltig sein werden. Feministische Wissenschaftler:innen haben viel darüber geschrieben, dass Nachkriegszeiten häufig durch eine Retraditionalisierung der Gesellschaft, die weitere Marginalisierung gefährdeter Gruppen und das Verstummen der Stimmen von Frauen (ganz zu schweigen von LGBTQ-Personen) gekennzeichnet sind. Aus diesem Grund halten ukrainische Feministinnen es für unerlässlich, Vertreter:innen gefährdeter und diskriminierter Gruppen und der Zivilgesellschaft ebenso wie Frauenrechts- und LGBTQ-Aktivisten in die Diskussionen und Pläne zum Wiederaufbau der Ukraine einzubeziehen. Andernfalls besteht die große Gefahr, dass diese Gruppen erneut übergangen und vergessen werden und dass die während des Krieges erzielten Fortschritte verloren gehen.