„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Seit heute können bei den Standesämtern Selbsterklärungen zum Geschlechtseintrag und Vornamen abgeben werden. Damit wird ein vom Bundesverfassungsgericht längst angemahnter Paradigmenwechsel von der geschlechtlichen Fremd- zur Selbstbestimmung vollzogen. Eine Einordnung des SBGG von der feministischen Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold.

Die folgende Passage ist ein Ausschnitt aus einem längeren Gespräch, das Aline Oloff mit Anna Katharina Mangold zur Bedeutung des SBGG geführt hat. Das vollständige Gespräch ist im aktuellen Heft der feministischen studien mit dem Schwerpunktthema Diverse Geschlechtlichkeiten nachzulesen.

Ich schätze das SBGG durchaus als Fortschritt ein. Um dies zu verstehen, ist es nötig, sich die Geschichte der Regulierung des rechtlichen Geschlechtseintrages anzusehen. Lange wurde angenommen, dass Geschlecht rechtlich binär zu konzipieren ist: Es existiere lediglich männlich und weiblich, zudem könne das Geschlecht am Anfang des Lebens einer Person zugewiesen werden, offensichtlich von Dritten, also etwa von den Eltern, Mediziner_innen oder Hebammen, und das sei im Laufe des Lebens unveränderbar. Alle diese Annahmen des Rechts über Geschlecht, die sich in der rechtlichen Regulierung, insbesondere des personenstandsrechtlichen Eintrags, niedergeschlagen haben, sind regelmäßig vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen worden. Das bedeutete jedes Mal, dass Einzelne, für die diese Annahmen nicht zutrafen, sich über viele Jahre durch die Instanzgerichte kämpfen, das Geld und die Nerven aufbringen mussten, bis das Bundesverfassungsgericht ihnen vielleicht, aber auch nicht in jedem Falle, geholfen hat. 

Die Geschichte nahm ihren Ausgang in den späten 1970er Jahren. Da hat eine Person eingewandt: Der mir bei Geburt zugewiesene Geschlechtseintrag ist nicht der richtige für mich, ich möchte den Eintrag wechseln können, ich habe mich unterdessen auch schon Operationen unterzogen, ich habe mein Erscheinungsbild dem anderen Geschlecht angepasst. Das Bundesverfassungsgericht beschied damals, wenn in der Tat diese Fremdbestimmung besteht und der Staat lediglich diese zwei Eintragungsmöglichkeiten vorsieht, dann muss er wenigstens die Möglichkeit gewähren, den Geschlechtseintrag zu wechseln. Damals war bereits ein Gesetzentwurf vorbereitet, der dann relativ rasch nach dieser ersten Bundesverfassungsgerichtsentscheidung verabschiedet wurde. Das war das TSG. Dem TSG liegt allerdings noch die Vorstellung zugrunde, dass Geschlecht binär codiert ist. Also gibt es nur das eine oder das andere Geschlecht, und der Wechsel, wenn er denn überhaupt notwendig sein sollte, darf nur in äußersten Zwangssituationen, bei psychischem Zwang – also Pathologisierung – gewährt werden. Ob eine solche Situation vorliegt, darf wiederum lediglich von zwei psychologisch-psychiatrisch ausgebildeten Personen, also von Dritten, begutachtet werden, die sich mit den »Problemen des Transsexualismus«, wie es im Gesetz heißt, auskennen. Das Gericht entscheidet anschließend, ob diesem Antrag stattgegeben wird. 

Bereits das TSG war nicht auf der Höhe der damaligen sexualwissenschaftlichen Forschung, wie Gesetzgebung häufig hinter wissenschaftlichen Standards herhinkt und eher verbreitetes Wissen zugrundlegt. Magnus Hirschfeld war in der Zwischenkriegszeit in vielen Punkten weiter als das, was in den 1970er-Jahren als Wissen über Geschlecht für die Regelung im TSG herangezogen wurde! Das TSG ist in vielen einzelnen Fällen angegriffen worden, denn es war extrem restriktiv ausgestaltet. Es sollte von der in Ausnahmen zu gewährenden Möglichkeit des Wechsels des Geschlechtseintrags bloß keine Erschütterung für die Rechtsordnung ausgehen. Insbesondere galt es sicherzustellen, dass es nicht zu gleichgeschlechtlichen Ehen käme. Denn der §175 Strafgesetzbuch war noch in Kraft, der homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe stellte. Der Geschlechtswechsel sollte nicht so konzipiert werden, dass er eine Umgehung des strafbewährten Verbotes von Homosexualität zwischen Männern ermöglichte. Dies führte dazu, dass Menschen gezwungen wurden, sich scheiden zu lassen. Sie wurden zudem zur Sterilisation gezwungen, damit keine »unordentlichen« Abstammungsverhältnisse entstehen. Zudem wurde vorausgesetzt, dass sie tatsächlich ihr Erscheinungsbild dem anderen Geschlecht anpassen. Dies wirft natürlich die Frage auf, was es denn bedeutet, sich dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts anzupassen. Das öffnet stereotypen Vorstellungen Tür und Tor, wie echte Männer, wie echte Frauen zu sein haben. 

Insbesondere seit den Nullerjahren gab es progressive Entscheidungen: 2008 das Ende der Scheidungspflicht, 2011 das Ende der OP- und der Sterilisationspflicht, die schwerwiegende Eingriffe in körperliche Unversehrtheit sind. Peu à peu entwickelte das Bundesverfassungsgericht schließlich ein Konzept von Geschlecht, das eher auf Selbstbestimmung, auf der autonomen Entscheidung der Einzelnen beruht als auf der Körperlichkeit. 2017 hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung zur sogenannten dritten Option getroffen, die besagt, dass auch Menschen, die sich selbst als nicht-binär begreifen und eine Geschlechtsidentität jenseits von männlich oder weiblich haben, einen positiven Geschlechtseintrag haben sollen. Das Bundesverfassungsgericht formuliert in bewundernswerter Klarheit, dass nicht die körperlichen Bedingungen, sondern die empfundene Geschlechtsidentität ausschlaggebend ist. Das Gericht stellt also konsequent auf geschlechtliche Selbstbestimmung um, auf die autonome Entscheidung. In dieser Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht zudem an, dass die Gesetzgebung grundsätzlich auf den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister verzichten könne. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Dem folgte die Gesetzgebung jedoch nicht. Ende 2018 wurde mit §45b Personenstandsgesetz erstmal eine Minimallösung eingeführt. Demnach können Menschen, die eine »Variante der Geschlechtsentwicklung« aufweisen, bei Vorlage eines Attests ihren Geschlechtseintrag ändern. Nun kann nicht nur männlich und weiblich eingetragen werden oder, was seit 2013 möglich war, der Geschlechtseintrag offenbleiben, sondern es wurde als sogenannte »dritte Option« eine weitere Geschlechtskategorie mit dem Titel divers eingeführt. Diese war nun abhängig von einem ärztlichen Attest und von der Frage, was eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ eigentlich sei. Darüber entbrannte selbstverständlich sofort ein Streit. Auch ich habe mit den Kolleg_innen Cara Röhner und Nick Markwald ein Gutachten geschrieben, in dem wir argumentieren, dass eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ letztlich etwas ist, was jeder Mensch hat. Zudem wurde nicht weiter spezifiziert, welche Ärzt_innen das Vorliegen einer ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ attestieren können. Das haben viele trans Personen genutzt, um ohne gerichtliches Verfahren und vor allem ohne Fremdbestimmung und Fremdbegutachtung durch zwei psychiatrische Gutachten den gewünschten Geschlechtseintrag zu erreichen.

Das Verfassungsgericht hatte in der Entscheidung 2017 allerdings gefordert, dass es einen Geschlechtseintrag geben müsse, der der Geschlechtsidentität der Person selbst entspricht. Divers ist aber unzweifelhaft eine Sammelbezeichnung und nichts, was eine Person über sich selbst sagen würde. Also ich kenne keine Person, die von sich sagt, »ich bin divers«. Geschlechtsidentität divers, das ist Quatsch. Damit hat sich schon die Frage gestellt, ob § 45b Personenstandsgesetz eigentlich eine zutreffende Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war. Noch in derselben Legislaturperiode haben die Grünen und die Liberalen dann jeweils fast gleichlautende Gesetzentwürfe vorgelegt, um zu testen, ob ein SBGG möglich wäre, das tatsächlich nur noch einen Sprechakt vor dem Standesamt vorsieht, um den Geschlechtseintrag zu ändern. Beide Entwürfe haben aber an der Vorstellung festgehalten, dass der Staat Geschlecht erfasst und einträgt. Die Variantenbildung männlich, weiblich, divers oder nichts wurde ebenfalls in beiden Entwürfen fortgeschrieben. Dann ist die sogenannte Fortschrittskoalition angetreten, von der hätte erwartet werden können, dass so ein Gesetz ein Selbstläufer wird. Im Koalitionsvertrag war das SBGG vereinbart, alle schöpften Hoffnung. Aber dann dauerte es endlos, bis das Gesetz auf den Weg gebracht wurde, und jeder einzelne Schritt war extrem umstritten. Konservative bis Erzreaktionäre versuchten zu verhindern, dass Menschen einfach zum Standesamt gehen und selbst erklären, was sie für eine Geschlechtsidentität haben. Insbesondere die sogenannten TERFs, die Trans Exclusionary Radical Feminists, die sehr laut argumentieren, dass trans Frauen keine richtigen Frauen seien, haben die Solidarität in der feministischen Bewegung mit dem Argument aufgekündigt, dass trans Frauen den von ihnen empfundenen echten biologischen Frauen etwas wegnehmen würden. Dies geschah auch mit den wilden Unterstellungen, dass Männer sich im Standesamt umdeklarieren würden, um Vergewaltigungsdelikte in Frauenräumen zu begehen. Das ist absurd, da es in unserer Gesellschaft kein Mann nötig hat, erst zum Standesamt zu gehen, um dann Frauen zu vergewaltigen. Diese atemberaubenden Unterstellungen haben das Unrecht, was trans Personen in unserer Gesellschaft geschieht, wahnsinnig vertieft. Ich war wirklich schockiert über die erzreaktionären Äußerungen. Denn letztlich führen sie zurück zur Aussage: Frauen sind Frauen, weil sie gebärfähig sind. Nach meinem Verständnis war es lange Zeit ein feministisches Grundanliegen, Frauen nicht auf ihre Gebärfähigkeit zu reduzieren. 

Mit dem SBGG kam also die Grundidee, dass Personen beim Standesamt erklären können, was ihr Geschlechtseintrag sein soll. Im Laufe des langen Gesetzgebungsverfahrens wurden jedoch sehr viele Konzessionen an diese ultrakonservativen erzreaktionären und wirklich transfeindlichen Stimmen im öffentlichen Diskurs gemacht, sodass der Gesetzentwurf an vielen Stellen sehr verwässert wurde. Die Einfachheit, die ist verschwunden. Ganz abgesehen davon würde ich als liberale Verfassungsrechtlerin immer auch fragen, warum es diesen Geschlechtseintrag überhaupt braucht. Ich sehe keine Rechtfertigung, ihn in dieser Allgemeinheit für alle Rechtsbereiche zu erheben. Aber das war überhaupt nicht mehr Gegenstand der Diskussion. Mit diesem ausführlichen Blick in die Geschichte versuche ich zu erklären, warum meine Bewertung dieses Gesetzes gemischt ausfällt. Es ist ein riesiger emanzipatorischer Schritt, weil wir von der Vorstellung weggehen, dass alleine das Körpergeschlecht das rechtliche Geschlecht bestimmt, und davon, dass es eine unauflösliche Beziehung zwischen den Körpern und dem gäbe, was das Recht dann als rechtliches Geschlecht anerkennt. Aber in diesem Gesetz gibt es an vielen Stellen noch verfassungs- und menschenrechtlich ausgesprochen fragwürdige Regelungen. Ich bin zudem davon ernüchtert, wie sehr es erzkonservativen Stimmen gelungen ist, den Gesetzentwurf zu verändern.