Kürzlich bekam ich eine Email von Karina, die mir den Link zu einem Text des Historikers und Literaten Paul Tiyambe Zeleza schickte, der auf dem Blog „Africa is a Country“ erschienen war. So einen Essay über „Ebola“ aus dem „Land Afrika“, der sich mit den Ängsten und Abwehrphantasien befasst, die die Seuche jenseits von Afrika hervorruft, hätte ich gern geschrieben. Aber ich hätte ihn nicht in dieser Weise schreiben können. Die Rede aus der Perspektive der ersten Person, die den erfahrungsgesättigten Beitrag des Autors bestimmt, der aus Malawi kommt und jetzt in den USA lebt, stünde mir in dieser Hinsicht nicht frei. Die Erfahrungen, die er gemacht hat, kann ich nicht machen. Auch Karina, die einen namibischen Pass hat, die dort geboren und aufgewachsen ist, kann, als weiße Frau, diese Erfahrungen nicht machen. Aber wir können das, was Zeleza berichtet, nachzuvollziehen versuchen und den Link weitergeben.
Paul Tiyambe Zeleza schreibt davon, was seine Beunruhigung durch Ebola bestimmt. Und das ist nicht identisch mit dem, was er in Gesprächen mit Bekannten und Kollegen und von der hysterisierten Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten wahrnimmt. Seine Befürchtungen gelten den rassistischen Projektionen, den selbstgewissen Zuschreibungen und homogenisierenden Unterstellungen, die durch die panische Angst vor einer Pandemie beflügelt werden. Sie sind bedrohlich, weil sie die Öffentlichkeit um etwas Wichtiges berauben:
„Ebola has robbed the American public of Africa´s multiple stories, of the continent´s splendid diversities, complexities, contradictions, and contemporary transformations.“ Der Essay endet mit dem Satz „As someone who earns a living as an educator, I am afraid of Ebola because it is an enemy of critical and balanced thinking about Africa, about disease, about our common humanity.“
Die weitreichenden Vorgänge der Horizontverengung, die Zeleza am Beispiel der Ebola-Hysterie in den USA nachzeichnet, sind sowohl symptomatisch als auch exemplarisch. Symptomatisch sind sie in der immer wieder besonders schnell zu mobilisierenden Bereitschaft, alle Vorsicht und Rücksicht fahren zu lassen, wenn es um Angelegenheiten oder Problematiken geht, die den afrikanischen Kontinent betreffen. Die rasche Regression auf stereotype Deutungsmuster zeigt an, in welchem Maße das kulturelle Vorbewußte von den Niederschlägen des Rassismus geprägt ist. In den USA auf andere Weise und mit anderen Facetten als in Europa. Exemplarisch sind dagegen die kognitiven Strukturierungen, die mit diesen politisch-psychologischen Prozessen einhergehen. Sie lassen sich auch in und im Blick auf andere(n) Weltgegenden und andere Diskurse als dem über Ebola beobachten.
Beraubung der Öffentlichkeit und die damit einhergehende Verengung von Wahrnehmungshorizonten sind Begleiterscheinungen globaler Krisenphänomene und Konflikte. Scheuklappendenken, Gruppenegoismen und feindselige Fundamentalismen aller Art sind in erschreckender Intensität aufgelebt. Vom grassierenden „Gruppismus“ spricht Rogers Brubaker in seinem lesenswerten Buch Ethnizität ohne Gruppen. Gruppismen können sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in der Fremdwahrnehmung dazu führen, dass individuierende Sichtweisen affektiv blockiert und/oder delegitimiert werden. Mich besorgt, dass derartige Strukturierungen nicht nur auf einer Seite bleiben, sondern auch die Formen der Kritik an diesen Entwicklungen beeinflussen können.
Differenzierende Einsichtnahmen in verbundene und verbindende Problemlagen geraten unter Verdacht und werden verpönt. Wenn nur das „rote Licht des Zorns“ (Virginia Woolf) leuchtet oder Angst den Weltbezug bestimmt, werden Grobschlächtigkeiten innerpsychisch, intersubjektiv und auch politisch funktional. Blockieren der Selbstreflexion, Denktabus und die Regression auf unterkomplexe Deutungen gehen Hand in Hand. Sich in die Schuhe der anderen zu stellen, wird deckungsgleich mit Überlaufen, Verstehen verwandelt sich umstandslos in Rechtfertigen. Dann erscheinen abwägende Gesellschaftsanalytiker als „Sympathisanten“ beliebiger Feinde der Gesellschaft, reflexive Feministinnen werden zu „Männerversteherinnen“, die den Feminismus „Zurück auf Los“ setzen wollen, nachdenkliche Männer zu warm duschenden „Frauenverstehern“, Kritikerinnen von Entscheidungen der israelischen Regierung zu antisemitischen „Pälastinenserversteherinnen“, oder, als jüngste Variante in diesem Kampf um Deutungshoheit und politische Grenzziehungen, Menschen, die sich auch selbstkritisch mit dem neuen kaltheißen Krieg in Europa auseinander setzen, zu „Rußlandverstehern“, die Putins völkerrechtswidrige und opportunistische Politik verteidigen. Allesamt sind sie „Gutmenschen“. Dass diese von den Nazis geprägte Formel heute in öffentlichen Debatten wieder so leichthändig benutzt wird, ist erschreckend.
Nachdenklich gemacht hat mich besonders eine Passage des Ebola-Essays, in der sich Zeleza mit der Autorisierung von Sprechpositionen befasst, welche die Legitimität des Sprechens und den Wahrheits- und Glaubwürdigkeitsgehalt des Gesagten in Authentizitätszuschreibungen verankert. Für ihn gehören stereotype Authentisierungen, wie wohlmeinend auch immer, zum Arsenal der Komplexitätsvernichtung. Über epistemische Echtheitszertifikate schreibt er ironisch:
„I am afraid of Ebola because it is robbing me of my African authenticity when I fail to give special insight into the nature of the disease from inquiring collegues or the media. About the culinary delights of eating monkey meat that apparently sparked Ebola and the strange primeval customs that helped spread it like wildfire. The fact that I am not a medical doctor, or from the three affected countries, doesn´t matter. I am an African. Or have I become too Americanized to understand my African disease heritage? Maybe I am not Americanized enough to speak authoritatively about things I know little about, not even when it comes to that simple place with a single story called Africa.“
Komplexität im Blick auf Andere, auf sich selbst und die Gesellschaft immer wieder herzustellen, den Vermittlungen nachzugehen, die einen Sachverhalt bestimmen, ist aus meiner Sicht radikal. Auch Zelezas Plädoyer ist in diesem Sinne radikal. Öffentlichkeiten durch eine kontroverse, in demokratischen Prozessen zu bearbeitende Vielfalt von Gesichtspunkten zu bereichern, anstatt sie zu berauben, gehört zum besten Erbe der in Europa so schmählich verratenen Aufklärung. Die eigene historisch-gesellschaftliche Verortung und Verantwortung auf möglichst umfassende Weise zu begreifen und sich auch noch im Deutungskampf die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zu bewahren, sind aus meiner Sicht Voraussetzungen jeder Form emanzipatorischer Politik und Gesellschaftskritik. Aber diese Voraussetzungen sind ihrerseits voraussetzungsvoll. Sie sind nie einfach gegeben, sondern müssen gegen innere und äußere Widerstände durchgesetzt werden.
Die Geschichte des Feminismus liefert bis in die Gegenwart Lehrstücke dafür, wie kompliziert das Herstellen von Komplexität, wie schwer die Arbeit an Differenz und wie schmerzhaft die Auseinandersetzung mit der Frage der Ungleichheit unter vermeintlich oder „irgendwie“ Gleichbetroffenen sein kann. Zugleich ist sie ein Lehrstück dafür, wie überlebensnotwendig und bereichernd diese Arbeit ist.
Zelezas Essay thematisiert Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Ausbreitung von Angst und Unsicherheit, der Regression auf stereotype Weltdeutungen und auf ebenso stereotype Zuschreibungen authentischer Expertise. Er beschreibt sie als Phänomene der Komplexitätsvernichtung und Beraubung der Öffentlichkeit. Ich habe den Eindruck, dass es auch paradoxe Formen der Komplexitätsvernichtung und Beraubung der Öffentlichkeit gibt, die Begleiterscheinungen von Intentionen der Kritik und sogar der Selbstkritik sind.
Ich sehe einen zumindest in den Effekten vergleichbaren Zusammenhang in der seit seiner einiger Zeit beliebten Verknüpfung der Rede vom „situierten Wissen“ (Donna Haraway) mit Aufzählungen sozialkategorialer Positionierungen (race, class, gender, religion, age, ability …). Darin manifestiert sich zuweilen eine verquere Dialektik von Aufklärungsintention und Komplexitätsvernichtung. Habe ich mich schon „situiert“, wenn ich diese Kästchen aufrufe? Für was stehen sie jeweils, welche Lebenswirklichkeiten und Machtverhältnisse sollen sie anzeigen, wie sind sie durch einander vermittelt, welche Bezüge zwischen Erfahrungen und Erfahrungsverarbeitung unterstellen sie? Diesbezüglich sind die Fragen immer noch größer als die Antworten, die die Wissenschaft bislang beisteuert. Das spricht für Zurückhaltung, nicht für discourse-policing, das mit Selbstbezichtigungsritualen beantwortet wird. Was sollen die anderen denken, wenn eine Person ihr Sprechen mit einem Bekenntnis einführt? Zum Beispiel: „Ich als teilprivilegiertes weißes, heterosexuelles, ableisiertes, katholisches Arbeitermädchen vom Lande“? Wie kommt jemand dazu, sich als Individuum auf diese Weise in der Selbstbezeichnung zu entnennen? Zur Entnennung wird das Benennen von „Positionierungen“, wenn es selbstgenügsam bleibt. Dann läuft es Gefahr, auszublenden, dass Individuation und Vergesellschaftung zwei Seiten eines Zusammenhangs bilden, die nicht deckungsgleich sind.
Gesellschaft geht nicht auf in Gruppenhierarchien und Individuen gehen nicht auf in den ihnen zugedachten und selbstbezüglichen identities. Ich lese solche konventionalisierten Reihen als Reflexionsformen des „Gruppismus“. Diese verbinden sich in der Gegenwart auf merkwürdige Weise mit den individualisierenden Anrufungen neoliberaler Ideologien und identity-talk. Das Individuelle nimmt selbst gruppistische Züge an. Wenn sich Kategorienlisten ohne das Scheitern zumindest andeutende „etcetera“ (Judith Butler) noch mit Vermutungen über Wissensprivilegien auf der einen und unausweichlichen Bornierungen auf der anderen Seite verbinden, liegen epistemische Kurzschlüsse nahe. So offenkundig es Zusammenhänge zwischen Erfahrungen der Selbstbetroffenheit und Motiven des intervenierenden Wissenwollens gibt, so problematisch sind Annahmen, die beides nur verklammern, ohne mit gleichem Engagement die Kluft und die Möglichkeitsräume auszuloten, die zwischen sozialem Sein und Bewußtsein bestehen. Epistemische Kurzschlüsse vernichten Komplexität durch stereotype Konstruktionen von Differenz, durch simplifizierende Vorstellungen von „Positionierung“ und Erfahrung sowie durch die unvermittelt-moralisierende Konfrontation von Einzelnen mit dem Überhang an Objektivität, wie ihn historische Konstellationen von Macht, Herrschaft und Ungleichheit darstellen.
In meine Leseerfahrungen mit Zelezas Essay mischten sich widersprüchliche Eindrücke aus dem feministischen Kontext. Zum einen von der Eröffnungstagung des „Göttinger Centrum für Geschlechterforschung“ am 17. Oktober diesen Jahres, wo es auf einem der Panels um die Frage „Macht, Differenzen und situiertes Wissen“ ging. Dabei wurden auch Phänomene des discourse-policing problematisiert. Zum anderen von einer im Netz zugänglichen Podiumsdiskussion anläßlich der Premiere von „Anfangen“, dem Film über Christina Thürmer-Rohr, am 13. Oktober. In der Premierendiskussion zum Film steuerte Nivedita Prasad einprägsame Beispiele für Perspektivendifferenzen im Feminismus bei. Etwa die unterschiedliche Bedeutung von „Heimatlosigkeit“ im Diskurs weißer deutscher Feministinnen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsgeneration, die sich an den Gräueln des Nationalsozialismus abarbeiteten, und afrodeutscher Feministinnen, für die der Begriff mit ganz anderen Erfahrungen und Konnotationen verbunden war. Es sind solche Formen der Komplexitätsherstellung und Bereicherung der Öffentlichkeit, die die gesellschaftliche Relevanz eines polyperspektivischen Feminismus erfahrbar machen. Aber es gab auch eine Intervention aus dem Publikum, die die Ehrung Christina Thürmer-Rohrs nicht gestört sehen wollte durch die kritischen Stimmen von „Anderen“.
Ich finde es unmöglich, wenn – 2014 – noch jemand davon ausgeht, eine Repräsentantin des (frühen) Feminismus könnte reflexionslos gefeiert werden. Eine solche Affirmation wird Christina Thürmer-Rohr nicht gerecht. Sie hat ja selbst einiges zur Perspektivenerweiterung des Feminismus beigetragen und auf dem Podium erneut plädiert für die Offenheit auch gegenüber konträren Positionen. Gleichzeitig finde ich es schwer, kurzschlüssige und selbstgerechte Formen, die das Situieren, Positionieren und Intervenieren von Fall zu Fall annehmen kann, zu kritisieren, ohne zugleich die richtige Intention zu diskreditieren, die dahinter steht.
Dieser Blogeintrag ist schon viel zu lang, die 6000-Zeichen-Empfehlung der Redaktion deutlich überschritten. Und doch bin ich mit den hier notierten Gedanken und Assoziationen immer noch weit davon entfernt, den angesprochenen Sachverhalten gerecht werden zu können. Vielleicht können die Notizen dazu beitragen, eine Diskussion darüber zu forcieren, was ich vorhin, angeregt durch den Essay von Paul Tiyambe Zeleza, als Dialektik von Aufklärungsintention und Komplexitätsvernichtung bezeichnet habe. Sie ist die der Selbstreflexion zugewandte Kehrseite von Aufklärungsabwehr, Privilegiensicherung und Beraubung der feministischen Öffentlichkeit.
Axeli Knapp
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