„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

In seinem international weithin diskutierten Buch The University in Ruins (1996) stellte der US-amerikanische Kulturtheoretiker Bill Readings lesbischen und schwulen Akademiker_innen vor nun schon zwei Jahrzehnten die herausfordernde Frage, ob ihr Erfolg mit der Heraufkunft der „postnationalen Universität“ zusammenhänge. Also jener Universität, deren vorrangige Aufgabe nicht mehr die Produktion guter Bürger sowie die Tradierung nationaler Kultur und Identität ist, sondern die Bedienung marktgesteuerter Nachfrage. Readings hatte hier den akademischen Aufschwung von Queer Theory, aber auch von Lesbian and Gay Studies-Programmen an nordamerikanischen Universitäten vor Augen, den er im Kontext der Transformation der Institution Universität in eine unternehmerisch und kundenorientiert agierende Anstalt verortete.1)Mit dieser Transformation beschäftigt sich die Konferenz „GenderChange und unternehmerische Universität“, die am 23./24. April 2015 an der TU Berlin statttfindet. Man kann es auch so sagen: Queers – zusammen mit allen anderen „Anderen“ – erhalten in dem Moment Zutritt zur Universität, da der Staat diese Institution tendenziell preisgibt, sie nicht länger zentral ist für die Reproduktion staatlicher Hegemonie.

Als ich Readings Buch damals las, dachte ich, immerhin findet seine Frage Adressat_innen in der postnationalen Universität, also lesbische und schwule Wissenschaftler_innen, die ihm antworten können, ja ihm auf genau diese Frage sogar antworten sollten. Denn davon – also dass es Lesbian and Gay Studies-Programme, Zentren für Queer Theory oder dergleichen gibt – kann in der deutschsprachigen universitären Wissenschaftslandschaft auch 2015 nicht recht die Rede sein, gleichwohl damit nicht gesagt sein soll, Lesben existierten nicht als Subjekte der Wissenschaft. Anders als zu jenen wissenschaftlichen Zeiten, in denen Lesben und Schwule lediglich als beschriebene und besprochene, ver- und ausgemessene, abgewogene und ausgefragte Objekte die akademische Welt bevölkerten, fragen, sprechen, schreiben, messen und wiegen wir nun in allen Disziplinen selbst. Zudem blicken wir auch hierzulande auf rund dreißig Jahre lesbische, lesbisch-feministische, transgender und queere Forschung und Wissensproduktion zurück – die allerdings immer noch eher außerhalb oder an den Rändern der Akademie stattfindet als in deren zentralen Herzkammern. Und neuerdings gibt es mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sogar eine von der Bundesrepublik Deutschland errichtete und finanzierte Stiftung, deren Aufgabe es ist, „Bildungs- und Forschungsprojekte zu fördern und einer gesellschaftlichen Diskriminierung von Homosexuellen in Deutschland entgegenzuwirken“. Gefördert werden soll so „die Akzeptanz von Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung“ sowie von jenen „die sich nicht ausschließlich als Mann oder Frau definieren“. Angesichts einer neuen Welle der Feindlichkeit gegenüber LGBTIQ in Deutschland, für die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes besorgniserregende Anzeichen in allen Teilen der Gesellschaft sieht, scheint das Credo von Magnus Hirschfeld, „Per scientiam ad justitiam“, also durch  „Wissenschaft zu Gerechtigkeit“ zu gelangen, allerdings auch aktueller und dringlicher denn je.

Durch Wissenschaft Gerechtigkeit zu schaffen, daran arbeiten Lesben in/der Wissenschaft in der Tat seit vielen Jahrzehnten. Wir vernetzen uns2)Beispielsweise auf den in den 1990er Jahren stattfindenden Symposien deutsch­sprachiger Lesbenforschung, dessen erstes Hanna Hacker und Sabine Hark 1991 in Berlin organisiert hatten. Und seit 2004 beispielsweise im lfq-Netzwerk (Netzwerk lesbisch-feministische-queere Forschung). ; wir präsentieren und publizieren unsere Forschung, veranstalten Tagungen und Workshops, gründen Archive und Forschungseinrichtungen, sind in Handbüchern und Lexika zu Gender Studies vertreten und werden gelegentlich aufs rote Sofa gebeten, um als Expert_in zu posieren oder gar als solche zu sprechen. Doch gemach gemach! Das heißt nicht, dass es für unsere (?) Fragen selbstverständlich/e akademische Orte gäbe. Denn all dies findet weitgehend statt in selbst organisierten Zusammenhängen ohne eine institutionelle Infrastruktur wie sie für andere Forschungsfelder unfraglich gegeben ist, und ohne nennenswerte beziehungsweise dauerhafte Forschungsförderung. Von akademisch etablierter Queer Theory, von eigenständigen Lesbian and Gay Studies-Programmen hierzulande jedenfalls keine dauerhafte Spur – ungeachtet der Frage, ob die Einrichtung eigenständiger Studienprogramme für Queer Theory überhaupt sinnvoll wäre. Auch in den seit Ende der 1990er Jahren vermehrt an deutschsprachigen Universitäten eingerichteten Studiengängen zu Frauen- und Geschlechterforschung ist die Präsenz von Lesbenforschung und/oder Queer Theorie eher marginal zu nennen, was allerdings den Grad der Rezeption lesbischer, lesbisch-feministischer bzw. queer-feministischer Erkenntnisse nur allzu deutlich widerspiegelt. Allein, ich will hier nicht wieder die alte Leier des „wir kommen nicht vor“ anstimmen. Denn allen beharrlichen akademischen Blockaden zum Trotz gibt es uns ja, wie gesagt, doch.

Damit stellen sich aber mindestens zwei Fragen: Wie gibt es uns, wie kann es uns geben? Und wen meine ich, wenn ich „uns“ schreibe? Dabei spreche ich im Folgenden insbesondere aus der Perspektive von Wissenschaftler_innen, die zeitweise oder sogar dauerhaft etabliert in wissenschaftlichen Organisationen arbeiten, nicht aus der Perspektive von Studierenden bzw. aus der von Wissen­schaftler_innen, die außerhalb von hochschulischen Institutionen arbeiten. Denn auch für das lesbische „wir“ in/der Wissenschaft gilt, was Judith Butler in Gender Trouble (1991) für das feministische konstatiert hatte, dass es sich nämlich um eine stets nur phantasmatische Konstruktion“ handelt, „die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ‚wir‘ verleugnet und sich nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht“ (Butler 1991, 209).3)Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Was es bedeutet, lesbisch in der Akademie zu sein, ist folglich ebenso wenig augenfällig wie darüber generalisierbare Aussagen getroffen werden könnten. Denn „uns“ gibt es ja in der Tat in einer unendlichen Reihe von Modellen: Wissenschaftler_innen, die lesbisch leben, in deren Forschung Fragen von Sexualität, Geschlecht, Heteronormativität aber keine Rolle spielen. Wissenschaftler_innen, die lesbisch leben und diese Fragen zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit gemacht haben. Wissenschaftler_innen, die zu Themen des lesbischen Lebenszusammenhanges arbeiten, selbst aber nicht lesbisch leben oder sich so identifizieren. Lesbische und/oder feministische Wissenschaftler_innen, für die Wissenschaft Teil des Projektes der Transformation heteronormativer, asymmetrischer Geschlechterverhältnisse ist. Solche, die nicht nur wissenschaftlich daran arbeiten, sondern sich dafür auch politisch engagieren. Oder Wissenschaftler_innen, deren Ziel der Nachweis ist, dass Lesben Frauen sind wie andere auch. Wissenschaftler_innen, die aufgrund ihrer lesbischen Themen keine Karriere gemacht haben. Diejenigen, die trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Themen in der Akademie nicht nur überlebten, sondern erfolgreich waren. Lesbisch lebende Wissenschaftler_innen, die inside out sind. Die im Versteck leben. Wissenschaftler_innen, für die die Frage, ob sie in der Akademie out sein wollen oder nicht, aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht von Bedeutung ist. Die mal out sind und mal nicht.

Womit wir bei der Frage nach dem wie sind. Denn was bedeutet überhaupt out sein in der Akademie? Ist es für jede_n eine Option? Gibt es einen Zusammenhang zwischen „Sein“ und „Wissen“? Heißt out sein, zu lesbischen bzw. queeren Themen publizieren? Die entsprechenden Texte im offiziellen Veröffentlichungsverzeichnis aufzuführen? Im Seminar zu deklarieren, ich lebe lesbisch? Geht das die Studierenden etwas an? Bedeutet es etwas dafür, wie ich diesen oder jenen theoretischen Text verstehe bzw. welche Lesart ich den Studierenden nahezubringen suche? Oder geht es darum, zum Neujahrsempfang der Präsident_in oder zu privaten Einladungen im Kolleg_innenkreis mit Frau* zu erscheinen? Unter welchen Bedingungen kann eine überhaupt in Universitäten out sein angesichts der auch dort virulenten Homophobie? Was garantiert eigentlich Sichtbarkeit? Ist sie um jeden Preis erstrebenswert? Ist es das, worum es tatsächlich geht? Ist es eine Handlung, die in den Händen derjenigen ist, die sich entschließt out zu sein? Welche Risiken sind beispielsweise damit verbunden, als Dozent_in im Seminar out zu sein? Trägt es umgekehrt dazu bei, für lesbische und schwule oder transgender Studierende einen risikoärmeren Raum zu schaffen, wenn die Dozent_in out ist? Hat es gar Vorbildfunktion? Was aber bedeutet es für die eigene Forschung, in der Regel mit lesbischen oder queeren Themen im Kolleg_innenkreis intellektuell isoliert zu sein? Was bedeutet es, innerhalb der männlich codierten, heteronormativen Geschäftsordnung der Wissenschaft für die Möglichkeit, als Wissenschaftler_in mit Autorität zu sprechen, wenn beispielsweise der eigene geschlechtliche Status durch eine inkorrekte Adressierung gefährdet werden kann?

Welche Konflikte entstehen vor diesen Hintergründen aus den beiden widerstreitenden Antrieben, nämlich als Wissenschaftler_in Teil des Ganzen und zugleich kritischer Rand oder gar das ganz Andere sein zu wollen? Was sind die Herausforderungen und Beschränkungen, mit denen diejenigen von uns, die lesbisches, lesbisch-feministisches, queeres, queer-feministisches Wissen produzieren, gegenwärtig konfrontiert sind? In einer Institution, die womöglich eher darauf zielt, existierende Machtrelationen, die auf Geschlecht und ‚Rasse‘, Nation, Klasse und geopolitische Positionierung, Kultur und Sexualität rekurrieren, intakt zu halten statt diese zu verändern? Wie können wir gerade die Prozesse verstehen und ihnen zugleich widerstehen, die eine_n als akademisch privilegiertes, aber inside der Akademie auch als marginalisiertes, intellektuell oft extrem isoliertes Subjekt konstituiert haben – marginalisiert in und durch die diskontinuierlichen, aber verknüpften Register (unter anderem) von Sexualität und Geschlecht? Und kann genau diese Tatsache, nämlich innerhalb der akademischen Welt als relativ marginalisiertes Subjekt konstituiert zu werden, das als Akademiker_in dennoch einen gesellschaftlich relativ privilegierten Platz einnimmt, im Sinne einer in Gesellschaft eingreifenden (Wissens-)Praxis genutzt werden? Dass dies schon allein deshalb keine bloß rhetorischen Fragen sind, liegt daran, dass sie nicht nur in durchaus existentieller Weise die Frage des Über/Lebens in akademischen Organisationen betreffen, sondern auch, weil Teilhabe die prekäre Voraussetzung für Veränderung ist.

Fußnoten

Fußnoten
1 Mit dieser Transformation beschäftigt sich die Konferenz „GenderChange und unternehmerische Universität“, die am 23./24. April 2015 an der TU Berlin statttfindet.
2 Beispielsweise auf den in den 1990er Jahren stattfindenden Symposien deutsch­sprachiger Lesbenforschung, dessen erstes Hanna Hacker und Sabine Hark 1991 in Berlin organisiert hatten. Und seit 2004 beispielsweise im lfq-Netzwerk (Netzwerk lesbisch-feministische-queere Forschung).
3 Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp.