Aktuell

Subjektivierungsweisen des Digitalen

(Heft 2_2022)

Einleitung
Von Hannah Fitsch, Katrin M. Kämpf und Elisabeth Klaus

In den letzten Jahren sind im Bereich digitaler Technologien eine Fülle an neuen Anwendungen entstanden, die durch schnellere Rechenleistungen und immer effizientere Algorithmen digitale Prozesse revolutionierten. Künstliche-Intelligenz-Algorithmen ermöglichen es, nie gekannte Datenmengen in kürzester Zeit zu durchforsten und Daten miteinander in Relationen zu stellen. Daraus sind digitale Anwendungen hervorgegangen, die unser Leben, aber auch die Art und Weise verändern, wie wir uns und andere als Subjekte wahrnehmen und zu Subjekten werden. Der Informatiker Joseph Weizenbaum hat bereits in der ersten großen K.I. Welle Ende der 1970er Jahre, unter Rückgriff auf einen von Max Horkheimer geprägten Begriff – vor dem Überhandnehmen der darin implementierten instrumentellen Vernunft gewarnt (vgl. Weizenbaum 1990). Instrumentelle Vernunft meint hier in aller Kürze: eine technisch vermittelte Zweckrationalität. Also die Unterwerfung körperlicher, gesellschaftlicher und sozialer Belange unter die Logik der Zahl, der Statistik und der Verwaltung. Durch die mit digitalen Technologien ermöglichte Intensivierung, Daten individualisierter und verkörperter Subjekte zu sammeln, entstehen neue Zugriffspunkte für verschiedene Ökonomisierungs-, Regierungs- und Herrschaftspraktiken, aber auch Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung, denen dieses Heft nachspürt.

Die damit verbundenen Fragen werden unter anderem auch in den feministischen Science und Technology Studies diskutiert, deren Kernelemente Katrin M. Kämpf und Hannah Fitsch im ersten, vertiefend in die Thematik einführenden Beitrag skizzieren. Daran schließen sich „Schlaglichter“ von Gabriele Gramelsberger, Isabell Lorey, Gerald Rauning und Jutta Weber an, die zentrale Begriffe in den Fokus rücken, die mit Subjektivierungsweisen im Digitalen verbunden sind.

In „Daten ohne Personen: Der Fetischismus personenbezogener Daten und die Ideologie von Big Data“ greift Antoinette Rouvroy der Digitalisierung eingeschriebene erkenntnistheoretische Grundannahmen auf. Ausgehend von der Metapher des Prozesshaften und Fließenden zeigt sie, dass die Digitalisierung von der Berechnung nicht-linearer Prozesse und der Verwertung dieser sich im Fluss befindenden Prozesse geprägt wird, die zugleich die Grundlage für eine allumfassende Produktion von Daten darstellen. Sie beschreibt die mit Big Data entstehenden neuen Wahrheitsregime, in denen Daten und Wissen in eins gesetzt werden. Diese In-Eins-Setzung unter den Prämissen des algorithmischen Wahrheitsregimes, so Rouvroy, und der Fokus auf den Schutz sogenannter personenbezogener Daten lenke davon ab, dass Profiling, eine Art algorithmische Kategorisierung von Risiken und Chancen unter Ausklammerung konkreter Subjekte, die gravierendsten Auswirkungen auf die Individuen habe. Der von Regine Othmer aus dem Französischen übersetzte Beitrag erscheint hier erstmals auf Deutsch.

Was sind letztlich die wichtigsten Eckpfeiler digitaler Subjektivierungsweisen? Und wie lassen sich Diskussionen über Mehrwert oder Gefahr durch die Digitalisierung auffangen? Diskurstheoretisch inspirierte Untersuchungen von Subjektivierungsweisen liefern hier Ansatzpunkte – dies zeigt der Beitrag von Daniela Wentz „Tales from the Loop. Autismus, Technologien und Subjektivierung“.  Sie thematisiert am Beispiel von sogenannten Autismus-Apps, die Neuerfindung eines heteronormativen Neuro-Subjekts. Die auf Künstlicher Intelligenz basierenden Technologien bestrafen neurodiverses und belohnen neurotypisches Verhalten und orientieren sich hierbei an als normal oder abweichend markierten Verhaltensmustern. Die Apps bedienen sich nicht nur eines techno-ableistischen Blickregimes, sondern sind Teil eines Sozialisierungsprogramms, das mittels behavioristischer Normalisierungen standardisierte Subjektpositionen zur Verfügung stellt.

Wentz zeigt, wie eine vorrangig nur einem Sinn, dem Auge, verpflichtete Wahrnehmung die Bildhaftigkeit von Wissen und Erfahrungen priorisiert und eine Logik des Kategorisierens, des Rankings und der Bewertung neue Erfahrungen und Materialitäten hervorbringt. Damit demonstriert der Beitrag exemplarisch: Es braucht innovative Herangehensweisen, die sich mit den konkreten Bedingungen digitalisierter Subjektivierung – seien sie technischer, oder auch psychoanalytischer Natur – auseinandersetzen, um das grundlegend ‚Neue‘ digitaler Räume und Erlebniswelten zu entschlüsseln.

Um durch den Cyberspace in bestimmten marginalisierten Gruppen entstehende Subjektivierungsweisen zu charakterisieren, entwickelt Pinar Tuzcu aus den bekannten Konzepten der Cyborg und der Subalternity den Begriff „Cybaltern“. Die damit verbundenen Subjektpositionen bewegen sich an der Schnittstelle von bereits verallgemeinerten, aber am Individuum abgelesenen Onlinedaten sowie den rassifizierten, vergeschlechtlichten und klassistischen Daten der Offline-Sphären und bestimmen sich gleichzeitig über die Zugangs- und Partizipationsbedingungen des digitalen Raums. Um politische Handlungsfähigkeit unter digitalen Bedingungen herauszuarbeiten, sucht Tuzcu nach einer Subjektivität, die im Zusammenspiel von Online- und Offline-Räumen entsteht und weder eine Subalterne noch eine Cyborg ist, sondern wie ein Cursor, der sich zwischen diesen beiden bewegt.

Auch in der Kunst sind in den letzten Jahrzehnten wichtige Verhandlungsräume für das komplexe Verhältnis von verkörpertem Subjekt und Data Double entstanden. Seit den 1980er Jahren befasst sich Julia Scher mit der Verquickung von Körpern, Daten, Intimität und Subjektivität und hat immer wieder auf neue (Selbst)Regierungsweisen digitaler Technökologien aufmerksam gemacht. In ihren Installationen kombiniert sie Closed-Circuit-TV, Audio- und Videorecorder, Livestreaming, Überwachungs- und Kontrollarchitekturen, Betten, Sensoren und Bewegungsmelder, um die gravierenden Auswirkungen der beständigen und zunehmend veralltäglichten Intra-Aktionen von verkörperten Subjekten mit Datenbanken und Überwachungssystemen plastisch werden zu lassen. Wir konnten sie für ein Interview gewinnen.

Einen experimentellen Zugang zu Körper und Subjekt im Digitalen bietet Tatsiana Licheuskaya in der Rubrik Bilder und Zeichen mit ihrer künstlerisch forschenden Arbeit Zero degree of subject: intra-actions with motion capture technology. Ausgehend von Karen Barads Konzept des agentiellen Realismus entwickelt Licheuskaya eine Reflektion über die Intra-Aktionen von Körpern und Motion-Capture-Technik und bricht zugleich mit den Grenzziehungen zwischen Performance und theoretischer Arbeit.

Der Beitrag von Lisa Bor in der Rubrik „Aus laufender Forschung“ über „Digital vermittelte Haushaltsreinigung“ wirft die Frage auf, ob und inwiefern digitale Praktiken neuer, interdisziplinärer methodischer Ansätze bedürfen, mit denen die Machtpositionen digitaler Materialitäten und die damit einhergehenden Subjektpositionen, die sich im Geflecht technischer, symbolisch-semiotischer, gesellschaftspolitischer sowie ökonomischer Dispositionen herauskristallisieren, untersucht werden können.

Linda Siegel rezensiert ein 2021 erschienenes Buch von Wendy Hui Kyong Chun. Darin untersucht die kanadische Expertin, ob und inwieweit sich Diskriminierungen und Stereotype aus den Entwicklungen algorithmisierter und datenbasierter Technologien ergeben bzw. durch sie verstärkt werden. „Abschließend zusammenfassen kann man Chuns Buch wohl am passendsten mit ihrer hoffnungsvollen Forderung, Verschiedenheiten anzuerkennen und auszuhalten (245 ff.), denn ‚to be recognized as levelly human is to defy pattern recognition or discrimination. It is to live in difference‘ (246)“, so Siegel.

In den das Heft begleitenden Blogbeiträgen geht es um digitale Lehre in pandemischen Zeiten. Inga Nüthen, Radwa Khaled-Ibrahim und Constanze Stutz zeigen am Beispiel digitaler Lehre beziehungsweise der Möglichkeit digitaler feministischer Räume und Praktiken auf, mit welchen Hoffnungen die Digitalisierung unter den Bedingungen einer erschwerten physischen Zusammenkunft am Anfang der Pandemie aufgenommen, dann aber nach und nach wieder verworfen wurde. Woran, so fragen sie, fehlt es dem Digitalen, dass es in manchen Bereichen höchstens zum Desiderat gereicht, zum notwendigen Kompromiss, aber kaum zur Alternative? Katharina Liebsch setzt in ihrem Beitrag „Von den Kacheln in den Räumen und dazwischen – fundieren und weiterdenken“ die Reise fort. Sie setzt die Erfahrungen mit digitaler Lehre in den Kontext einer Tradition der Medien- und Wahrnehmungsforschung einerseits und der (post-)phänomenologischen Soziologie andererseits, die schon lange der Frage nachgehen, wie Sozialität, Wirklichkeit und Erfahrung im Digitalen organisiert werden und in welchem Verhältnis digitales Erleben und Offline-Weltwahrnehmung stehen.

Wenngleich nicht direkt mit dem Schwerpunkt verknüpft, bietet der Diskussionsbeitrag von Patricia Purtschert doch auch interessante Anknüpfungspunkte für die feministischen Science and Technology Studies, da sie die Möglichkeit aufzeigt, den Fokus der Gender Studies auf Sex und Gender durch andere kategoriale Beziehungen zu erweitern. Purtscherts Beitrag ist eine Replik auf Tanja Paulitz‘ Kritik an der „Zwei-Phasen-Erzählung“ der Gender Studies, die in Heft 2/2021 erschienen ist. Purtschert folgt der Spur der Trennung in Sex und Gender bzw. der Genealogie des Begriffs Gender. Sie arbeitet dabei wesentliche Punkte heraus: Erstens zeigt sie, dass Gender als Begriff bereits seit den 1950er Jahren in der klinischen Forschung an intergeschlechtlichen und trans Menschen Verwendung fand. An Texten u.a. von Rubin und Haraway wird deutlich, dass in der feministischen Forschung seit den 1970er Jahren, die konstitutive Verwobenheit von Sex und Gender durchgängig ein Thema war. Drittens wirft Purtschert die Frage auf, warum dem Verhältnis von Sex und Gender in der feministischen Theorie ein Primat eingeräumt wird, denn möglich wäre auch die Diskussion anderer Beziehungen, etwa die von Körper und Fleisch, Sex und Race, Geschlecht und Klasse. Wir würden uns freuen, wenn die Debatte um die Geschichtsschreibung und Kanonisierung in den Gender Studies und die Diskussion um umstrittene und problematische Genealogien auch von anderen Leser_innen mit eigenen Beiträgen aufgegriffen würde.

In Heft 1/2022, Woher wir kommen, hatten wir angekündigt, uns im nächsten Heft „mit Beiträgen zum Krieg in der Ukraine einer gegenwärtigen Katastrophe“ zuzuwenden. Daraus ist ein von Katharina Liebschund Uta Ruppert zusammengestelltes Dossier in der Rubrik „Aus aktuellem Anlass“ entstanden, das sie unter der Frage „Aus feministischer Perspektive auf den Krieg in der Ukraine blicken?“ einleiten. Sie haben verschiedenen Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen ein Set von gleichen Ausgangsfragen zum Krieg und zu einem möglichen Frieden vorgelegt und sie gebeten, sich von ihren je unterschiedlichen Positionen aus damit zu befassen. Daraus sind die hier abgedruckten vier Beiträge hervorgegangen: Die Politikwissenschaftler_innen Hanna Mühlenhoff und Marijn Hoijtink diskutieren das Thema Waffenlieferungen mit Blick auf die internationalen Beziehungen, Rhadwa Khaled-Ibrahim kritisiert Kriegsfolgen aus einer Weltentwicklungsperspektive, Vanessa Thompson analysiert und politisiert die Kriegsaktivitäten in der Ukraine mit einem abolitionistischen Blick und Eva Senghaas-Knobloch mobilisiert die Tradition der feministischen Friedensforschung. Diese Beiträge sind ein erster Versuch, Austausch und Diskussion zu dieser schwierigen und komplexen Thematik zu initiieren, die uns noch lange beschäftigen wird. Weitere Beiträge dazu, ob für das Heft oder den Blog der feministischen studien, sind willkommen.

Ganz herzlich bedanken sich die Herausgeberinnen bei den Gutachter_innen, die für dieses dieses Heft tätig waren.

Literatur

Weizenbaum, Joseph (1990): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft [1978]. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Post-Pandemische Betrachtungen: Digitale Lehre

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Fünf Fragen

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