„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Elisabeth Klaus, Mona Motakef

Artikulationen von Klasse sind unüberhörbar geworden. Nachdem Klassenkonzepte lange Zeit als reduktionistisch und unzeitgemäß galten, ist spätestens seit der Finanzkrise 2007/2008 die Analyse von (antagonistischen) Klassen und Verteilungskämpfen wieder fester Bestandteil der Gesellschafts- und Kulturanalyse. Angesichts wachsender Ungleichheiten wird eine Zunahme prekärer Lebensverhältnisse konstatiert, die überproportional migrantisierte, alte und alleinerziehende Frauen* betrifft. Klassen-bezogene Ungleichheiten haben in den öffentlichen Debatten an Sichtbarkeit gewonnen. Zugleich aber haben politische, gewerkschaftliche und andere demokratische Organisationen an Strahlkraft verloren, die diese Konflikte bündeln.

Doch wie wird Klasse derzeit im Verhältnis zu Geschlecht und Geschlechterverhältnissen artikuliert, de- und re-artikuliert? Etwas zu artikulieren, bedeutet im Sinne von Stuart Hall das Konzept und seine empirischen Erscheinungsformen auszusprechen und es zugleich mit etwas anderem zu verknüpfen, es in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Diskursen zu setzen. Was wird thematisiert, was de-thematisiert und welche Verhältnisse von Macht und Unterordnung treten dabei zu Tage? In welchem Verhältnis stehen Armut, Prekarität, soziale Ungleichheiten, Milieu und Schicht theoretisch und empirisch zum Klassenbegriff? Welche Praxen der Repräsentation fixieren das Verhältnis von Klasse und Geschlecht auf der ökonomischen, politischen, sozialen, medialen, kulturellen oder auch affektiven Ebene?

Gesellschaftsanalyse und Kapitalismuskritik haben im Feminismus eine lange Tradition. Das zeigen Überlegungen zur „Arbeiter- und Frauenfrage“ (Zetkin, Kollontai), Forderungen nach einem „Lohn für Hausarbeit“ (Federici) oder das Konzept der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt). Über Care-Arbeit ist der Emanzipationskampf der Geschlechter weiterhin eng mit Klassenfragen verknüpft, wie auch in der Coronapandemie deutlich zutage getreten ist. Das aus dem „Black Feminism“ stammende Intersektionalitätskonzept weist auf die Verschränkungen von „gender, race, class“ hin. Doch bleibt die Kategorie „Klasse“ in den gegenwärtigen (intersektionalen) Studien oft bloßes Desiderat, während zugleich Klassentheorien und -analysen aus den 1970er Jahren, ihre Weiterentwicklung und Öffnung für kulturelle Fragen (etwa durch Laclau und Mouffe) in Vergessenheit zu geraten drohen.

Oft sind es feministische Künstler*innen, die – häufig biografisch inspiriert – die Ambivalenzen sogenannter sozialer Aufstiege und „Klassenübergänge“ (Chantal Jaquet) thematisieren. Dafür stehen Klassiker*innen wie Tove Ditlevsen, Leslie Feinberg und Annie Ernaux. Didier Eribons viel besprochenes Buch „Rückkehr nach Reims“ ist neben den Arbeiten von Pierre Bourdieu besonders auch durch Ernauxs Schaffen geprägt. Mit Erfahrungen der Scham, der Abwertung, Ausbeutung und Entfremdung gibt es heute eine breite künstlerische Auseinandersetzung, wie etwa in den Werken von Bernardine Evaristo, Dilek Güngor, Katja Oskamp, Eva Müller und  Christian Baron. 

Auch in anderen sozialen und kulturellen Feldern sind Prozesse der Selbstermächtigung und der Intervention in den Klassendiskurs zu beobachten. Mehr Wissenschaftler*innen legen ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse offen und reflektieren Erfahrungen von Fremdheit. In sozialen Medien, so etwa unter dem Hashtag #armutsbetroffen, thematisieren Menschen ihre alltäglichen existentiellen Nöte, protestieren gegen Klassenscham, fordern Solidarität, Respekt und Umverteilung. Ganz vereinzelt schließen sich auch selbsternannte „Überreiche“ diesen Forderungen an. 

Wir möchten also über Klasse sprechen und dazu einladen, feministische Ansätze und die Verbindung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen weiter und wieder ins Gespräch zu bringen. Wir freuen uns über Abstracts zu theoretischen oder empirischen Beiträgen, die an folgenden Fragestellungen arbeiten: 

  • Wie und in welchen Medien werden Klassenverhältnisse derzeit re-artikuliert und de-artikuliert? Mit welchen Bildern und Metaphern werden Klassenverhältnisse beschrieben? Wo geraten bisherige Konzepte, die vor allem lineare Auf- und Abwärtsdynamiken beschreiben, an ihre Grenzen?
  • Wer kommt in den Repräsentationen von Klasse und Klassismus zu Wort und wer nicht? In welchen sozialen Räumen sind Artikulationen von Klasse möglich? Wessen Erfahrungen werden dadurch thematisiert, wessen de-thematisiert? Wie werden Verbindungen von Klasse mit Geschlecht und „Race“ verhandelt? 
  • Wie werden Artikulationen von Klasse und Geschlecht von Rechten instrumentalisiert und vereinnahmt?  Welche feministischen und sozialpolitischen Gegenentwürfe werden dem entgegengesetzt? 
  • Welche „classics“ und „hidden classics“ der feministischen Klassentheorien sind hilfreich zur Beschreibung, Analyse und Kritik der Gegenwart und wie müssten diese weiterentwickelt werden?
  • Welche neuen und alten Koalitionen werden mit Verweis auf Klasse und Geschlecht ermöglicht oder verhindert und mit welchen sozialen Folgen?

Die Zeitschrift feministische studien für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung Nr. 1_2025 wird 6 bis 8 Beiträge zum Schwerpunkt „Artikulationen von Klasse und Geschlecht“ enthalten. Dazu zählen Aufsätze (bis 40.000 Zeichen) sowie Diskussionsbeiträge (bis 25.000 Zeichen, incl. Leerzeichen), die nach einem double blind peer-review-Verfahren begutachtet werden. Gerne können auch künstlerische Beiträge für unsere Rubrik „Bilder und Zeichen“ eingereicht werden.

Bis zum 15.3.2024 können Abstracts von bis zu 2.000 Zeichen bei den Herausgeber*innen des Schwerpunktheftes, Prof. Dr. Elisabeth Klaus (elisabeth.klaus@plus.ac.at) und Prof. Dr. Mona Motakef (mona.motakef@tu-dortmund.de) sowie bei manuskripte@feministische-studien.de eingereicht werden.

Erwünscht sind auch Vorschläge für Tagungsberichte sowie Rezensionen oder Sammelrezensionen zu Veröffentlichungen, vorzugsweise aber nicht ausschließlich zum Schwerpunkt des Heftes.