„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Der 41. Jahrgang der FS steht in Gänze im Zeichen des Erinnerns. In beiden Heften und in Blog-Beiträgen widmen wir uns Fragen des Erinnerns. Wer, wie, was, wozu und warum und für wen erinnert wird, gehört seit jeher zu den zentralen Fragen machtkritischer feministischer Forschung und Politik. Anliegen des Jahresschwerpunktes ist es daher, gegenwärtige und vergangene Praktiken und Politiken des Erinnerns und Vergessens aus feministischer Perspektive zu theoretisieren, sie in ihrer sozialen und historischen Situiertheit zu untersuchen und exemplarisch zu analysieren. Den Auftakt im Blog macht ein Beitrag von Luki Schmitz. Luki Schmitz arbeitet und promoviert am Soziologischen Institut der Goethe Universität Frankfurt zu Commons und Commoning.

Queeres Erinnern: empathische Bezugnahmen

Luki Schmitz

Erinnern ist immer ein Prozess, in dem die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart heraus gestaltet und nur vermeintlich Vergangenes in die Gegenwart gezogen wird. Erinnern geschieht in unterschiedlichen Kontexten, verschiedenen Reichweiten und Formen, beispielsweise im individuellen Erinnern, durch Familiengeschichten, im kollektiven Gedächtnis, durch Erinnerungskultur, aber auch im Vergessen. Erinnern gestaltet Identitäten, Erinnern ist politisch, denn mit dem, was und wer wie erinnert wird, definieren Personen, Gruppen und Gesellschaften ihre Identität und prägen ihr Zusammenleben. 

Was aber meint in diesem Zusammenhang queeres Erinnern? Ich plädiere hier für ein Verständnis von queerem Erinnern, das nicht allein auf die Geschichte von LGBTIGA*+-Personen und vermeintlich feste Identitätskategorien abzielt. Vielmehr möchte ich eine Perspektive stark machen, die queeres Erinnern als Bearbeitung von Brüchen versteht und so zu einer Möglichkeit für eine aufrichtige Form von Empathie und Zuhören werden kann. 

Beginnen möchte ich mit einer Geschichte: Ein Freund erzählte mir von seinem Leben als 17-jähriger. Er erinnert diese Zeit als eine Art Puzzlezeit. Da waren nicht nur die Herausforderungen der Pubertät zu bestehen; er war auch damit beschäftigt, drei unterschiedliche Geschichtsschreibungen zu sortieren, sich selbst darin zu verorten und nach den Verbindungsstücken zu suchen. Wie bei falsch gesteckten Puzzleteilen schien nichts richtig zusammenzupassen: das, was im Geschichtsunterricht vermittelt wurde, passte nicht zu den Erzählungen der mütterlichen Seite seiner Herkunftsfamilie, in der andere Geschichten, Symbole, Gesten und Fetzen eine Rolle spielten und die im Schulunterricht nicht vorkamen. Da war auch die erste Teilnahme am Christopher Street Day, an dem ältere Queers ihre Geschichten erzählten. Das Gewahr-Werden, dass dies fortan Teil auch seiner eigenen queeren Geschichte und deren Erzählung sein würde. Während das erste Puzzleteil Teil der gesellschaftlichen Erinnerungskultur ist, das zweite zu seiner Herkunftsfamilie gehört, schien das dritte Teil plötzlich und unerwartet hinzugekommen zu sein. Da waren die Erzählungen über die frühen CSDs oder den Verlust von Freund:innen während der AIDS-Krise Ende der 1980er. Auch die Stonewall-Riots 1969 oder die Verbrechen im Nationalsozialismus (Klöppel 2014) wurden als Geschichte für ihn sichtbar und zugleich in gewisser Weise Teil der eigenen Geschichte. Er fragte sich: „Habe ich die Geschichte adoptiert oder die Geschichte mich?“. Mit der ‚Adoption‘ begann eine neue Phase und mit ihr entwickelte sich ein neues Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft. Queere Geschichte wird nicht durch ‚klassische‘ Familie weitergegeben, sondern von queeren Menschen tradiert und  immer wieder neu entdeckt. Sie hat eine andere Genealogie und eine andere Generationalität. Sie schafft dadurch neue intim-familiäre Beziehungsweisen jenseits biologischer Abstammungszuschreibungen oder der Herkunftsfamilie (Horvat 2021). 

Doch was genau verrät ein Blick auf diese Puzzlezeit? Und was ging dem voraus, dass kein Gesamtbild, sondern Teile, Fragmente rekombiniert werden müssen? Ein hierfür passendes Bild stellt für mich der Bruch da, wie zerspringendes Geschirr. Und nicht nur während eines Coming-Out kann es zu Erwartungsbruch und Enttäuschungsschmerz kommen, auch in anderen Familienkonstellationen und -Dynamiken kommt es zu Verwerfungen, Brüchen, Enttäuschungen. Immer dann, wenn  eine ‚Abweichung‘ von der Herkunftsfamilie und von der Dominanzgesellschaft sichtbar wird. Queer und Queerness möchte ich daher als Störung oder Irritation fassen (Perko 2005). All dies produziert Brüche in unterschiedlicher Gestalt: viele kleine Teile, die weit versprengt sind mit zackigen Kanten und Risse aufweisen, die sichtbar sind, die Teile jedoch nicht auseinanderfallen. Der Bruch macht eine Auseinandersetzung mit etwas bisher Unbekanntem notwendig, das darauf drängt, Teil des eigenen Lebens zu werden. Es bedarf der Auseinandersetzung und Integration. 

Stellen Sie sich die Risse und Teilchen vor und halten Sie nun das Bild an, frieren Sie es ein. Sichtbar werden nun die Lücken, der Raum zwischen den Teilen. Und selbst mit dem besten Kleber werden die Teile nie mehr so verbunden sein wie zuvor. Neue Verbindungen entstehen. Puzzleteile werden angepasst und die Lücken bieten Platz für anderes und andere. Die Erfahrungen und Brüche sind nicht gleich, aber sie schaffen in dem Erzählt-Werden Verbindungen von Nähe und Verständnis. Beispielsweise wenn eine gegenseitige empathische Verständigung zwischen einer Person, die ihre Eltern enttäuscht hat, weil diese sich durch das Coming-Out in ihrem Enkelkinderwunsch unterbrochen sehen, und einer Person, deren jüdische Eltern ihr Unverständnis über die Wahl eines Partners, dessen nicht-jüdische Eltern im Iran geboren wurden, ausdrücken (hier bitte nicht in Generalisierungen denken!). Der Bruch und die damit entstehenden Lücken haben einen doppelten Charakter, sie sind ambivalent und dialektisch, denn Schmerz, Scham, Verlust, Orientierungslosigkeit, neue Perspektiven und Möglichkeiten sind untrennbar miteinander verbunden. Ein Bruch hat nie nur negative Konsequenzen, nicht alles ist unwiederbringlich kaputt. Ein Bruch kann auch positive Folgen haben in Form von Zeit und Raum, die Rekombinationen hineinbringt: neue Perspektiven werden sichtbar, neue Personen mit eigenen Geschichten treten hinzu. Der Bruch schafft eine neue Beziehung zu sich und zur Welt. Brüche schaffen nicht Beziehungslosigkeit, sie verändern Beziehungen. 

Der Bruch hat also eine zentrale Bedeutung für queeres Erinnern, denn die damit einhergehende Selbstirritation und Neuausrichtung kann zu einer größeren Offenheit gegenüber den Brüchen, die andere erlebt haben, führen. Letztlich ist, mit Ayşe Güleç und Johanna Schaffer (2017) gesprochen, Empathie die Wegbereiterin. Es ist das Einlassen auf das je situierte Wissen und die Erzählungen der anderen, aber auch das Einlassen auf die Emotionalität und die symbolisch weitergetragenen Erinnerungen (schöne wie schlechte). Empathie kann Räume, „Phantasie, Imaginationen, Emotionalitäten“ (Güleç/Schaffer 2017: 57) und Szenen erzeugen, die über die Herkunftserinnerungen hinausweisen, die eine Verbindung zu anderen schafft. Queeres Erinnern ist dann das Weitertragen von Erinnerungen, auch an die Brüche, Identitäten jenseits nur der eigenen Lebensgeschichte. In diesen Beziehungsweisen kann eine Art Prothetic Memory (Landsberg 2004) für andere entstehen, indem man in sich trägt oder offen artikuliert, was andere – auch aufgrund des Schmerzes – nicht aussprechen können. Beziehungsweisen, die durch Zuhören und Anteilnahme getragen sind und nicht durch beliebige Aneignung von Geschichten und Erinnerungen. Oder wie Stuart Hall es formuliert: „The Future belongs to the impure. The future belongs to those who are ready to take in a bit of the other, as well as being what they themselves are“ (Hall 2021[1998]: 338). 

Doch Empathie ist keine einfache Beziehungsform, sie fordert Energie. Oft greift daher ihr Gegenteil: Ignoranz. Ignoranz nicht verstanden als Übersehen, sondern als aktive Verweigerung des Zuhörens, des Einlassens: „Ignoranz ist also anders gesagt nicht ein passiver Zustand der Abwesenheit, nicht simpler Informationsmangel: dieses Nichtwissen besteht aus einer aktiven Dynamik der Verneinung, eine aktive Verweigerung der Information“ (Felman 1987: 78f. Zitiert nach Güleç/Schaffer 2017: 60). Diese Ignoranz ist es, die greift, wenn marginalisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Umgekehrt kann Empathie dann eine Ressource für Zusammenleben sein. 

Queeres Erinnern kann somit mehr bedeuten als nur sexuelle oder geschlechtliche Identität. Es ist eine Haltung, die Geschichtsschreibungen jenseits der dominanten Erinnerungskultur versteht. Die nicht auf Überidentifikation mit den Opfern steht, sondern auf Empathie für die Erzählungen, die Brüche, Trauer und Scham. Die den Bruch als umspannendes Moment nimmt, ohne dabei unzulässige Gleichsetzungen zu vollziehen. Erfahrungen und Geschichten sind nicht gleich, nicht linear, sie sind queer, es gilt sie zu hören und darin eine empathische Solidarität aufzubauen. 

Literatur: 

Felman, Shoshana (1987): Jacques Lacan and the Adventure of Insight: Psychoanalysis in Contemporary Culture. Cambridge: Harvard University Press.

Güleç, Ayşe/Schaffer, Johanna (2017): Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen. Gemeinsam an der Auflösung des NSU-Komplexes arbeiten. In: Karakayalı, Juliane/Kahveci, Çağrı/Liebscher, Doris/Melchers, Carl (Hrsg.): Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: transcript-Verlag, 57-80.

Hall, Stuart (2021[1998]): Subjects in History. In: Gilroy, Paul/Wilson Gilmore, Ruth (Hr.) Selected Writings on Race and Difference – Stuart Hall. Durham/London: Duke University Press, 329-338.

Horvat, Anamarija (2021): Screening Queer Memory : LGBTQ Pasts in Contemporary Film and Television. London: Bloomsbury Publishing Plc., 1-13. 

Klöppel, Ulrike (2014): Intersex im Nationalsozialismus. In: Schwartz, Michael (Hrsg.): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945. De Gruyter Oldenbourg, 107-114.

Landsberg, Alison (2004): Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. Columbia University Press.

Perko, Gudrun (2005): Queer-Theorien: ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens. Köln: PapyRossa-Verlag. 


[1] Das Ausbleiben der Geburt von Enkelkindern muss real nicht der Fall sein, aber der Bruch bringt diese Phantasie, als Sorge der Wünschenden erst zutage.