„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Homosexuals only

Seit Beginn der Ausstellung „Homosexualität_en“ Ende Juni lassen sich vor der Eingangstür des I.M. Pei-Baus des Berliner Deutschen Historischen Museum eindrucksvolle Szenenabfolgen beobachten. Besuchende des Museums in variationsreichen Konstellationen – Gruppen von Schüler_innen, Eltern und Kinder, Paare, Freund_innen – nutzen die Installation einer weißen Bank nicht nur zum Ausruhen und Verweilen, sondern fotografieren einander darauf und stellen sich so – gewollt oder nicht – in Bezug zu einem Objekt mit kontroversem Bedeutungsgehalt. Eine Bank, in zwei Bruchstücke gespalten, die von einander abgerückt aufgestellt sind, mit der Aufschrift „Homosexuals only“. Auf dem kleineren Bankbruchstück steht, wie eine Wiederholung und Bekräftigung, nur „only“.

In diesem Objekt materialisieren sich mehrere Bedeutungsschichten. Fraglos stellt die Bank Assoziationen mit den in den 1930er Jahren in allen deutschen Städten errichteten Beschilderungen von Ladengeschäften, Einrichtungen und Parkbänken her, mit denen jüdische Menschen in Deutschland diskriminiert und exkludiert wurden. Zugleich sind darin Bilder rassistischer Apartheid gespeichert, etwa der in öffentlichen Verkehrsmitteln vorgeschriebenen Sitzordnung für Schwarze und Weiße.

Die Beschriftung „homosexuals only“ ruft diese Bilder historischer Diskriminierung auf und konfrontiert sie mit der Geschichte von Separierung und Diskriminierung der Gruppe homosexueller Personen und dem Konzept von Homosexualität als „dem anderen“ einer Normalität. Jedoch fokussiert die Bank als Objekt nicht die Diskriminierung auf rechtlicher Ebene, also durch Gesetze, die eine Gruppe bevorzugt und andere dezidiert benachteiligt oder schädigt. Es geht vielmehr um Alltagspraktiken, die den öffentlichen Raum mitkonstituieren und in denen sich Diskriminierung materialisiert. Objekte wie öffentliche Sitzgelegenheiten sind in diese räumlichen Praktiken einbezogen. So zeigt sich an den mutmaßlich allgemein zugänglichen Orten des öffentlichen Raumes vorhandenes Diskriminierungswissen, indem die Diskriminierung immer wieder inszeniert wird.

Die in der Bankbeschriftung inkludierte und durch den Bruch in zwei Teile verdeutlichte Semantik der Ausgrenzung, des Otherings, und zugleich der Hervorhebung als Exzeptionelles im Sinne einer positiven Diskriminierung wird in den Akteursbewegungen um das Objekt deutlich. Der Sensationscharakter, das Vergnügen, sich darauf zu fotografieren und in Bezug zu stellen mit einer Gruppe und deren Diskriminierungsgeschichte, und des gleichzeitigen mimetischen Kokettierens – „das könnte auch ich sein“ – spiegelt aktuelle Debatten um Homosexualitäten zwischen Liberalisierung, fortgesetzter Diskriminierung und Inkorporierung „diverser“ Identitäten in einen marktgerechten Mainstream. Im Akt der Parodie werden die Akteur_innen ungeachtet ihrer Intention auch Teil des Sich-lustig-Machens über Diskriminierung.

Die Berliner Ausstellung „Homosexualität_en“ beginnt also schon vor dem Museum mit der Installation des dänisch-norwegischen Künstlerduos Elmgreen & Dragset. Die Künstler sind mit mehreren Exponaten in der Ausstellung vertreten und haben in Berlin bereits größere Aufmerksamkeit durch das von ihnen geschaffene „Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“ erlangt. In der Installation „Powerless Structures, Fig. 117“ (2001) verdichten sich programmatisch Konzept und Leitthesen der Ende Juni eröffneten Ausstellung „Homosexualität_en“, einer Kooperation des Schwulen Museum* Berlin mit dem Deutschen Historischen Museum. Initiiert durch das Schwule Museum*, versteht sich die Ausstellung als eine Auseinandersetzung mit Geschichte, Politik und Kultur der Homosexualität_en in den letzten 150 Jahren. In rechts-, wissens-, und sozialgeschichtlicher Perspektive werden „Homosexualität_en“ zugleich als Wissenskomplexe, als Identitäten und Lebensformen beleuchtet. Der Plural und der Ausdruck durch den Gender-Gap betonen die Multiperspektivität der Genealogien, Lebensweisen und den damit korrespondierenden Genderidentitäten und Subjektivierungen. Das Konstrukt „Homosexualität“ (im Singular) wird somit deutlich als Erfindung des 19. Jahrhunderts historisiert. Dadurch grenzt sich das Ausstellungskonzept auch klar von einer grundsätzlich essentialistischen Konzeption von „Sexualität“ ab, die nach wie vor in juristischen, biologischen oder psychiatrischen und psychoanalytischen Diskursen unternommen wird.

Queer archives / queering archives

Auf insgesamt über 1600m2 an den zwei Standorten DHM und Schwules Museum* lokalisiert, verbindet die Ausstellung historische und künstlerische Auseinandersetzungen um Homosexualität_en und erreicht dabei stets eine Verflechtung vergangener, zeitgenössischer und zukünftiger Zeitebenen. So wird im DHM in zehn Räumen und auf zwei Etagen die Geschichte der Homosexualität_en thematisiert. Die Räume im unteren Stockwerk fächern eine Auseinandersetzung mit queeren Archiven und queerer Historiographie auf. Gleich eingangs zeigt „Das erste Mal“ inmitten eines Diskurswaldes – an Säulen gebrachte Zitate eines queeren literarischen Kanons – die Produktion eines queeren Videoarchivs. Anhand eines selbstgewählten persönlichen Gegenstandes erzählen Personen über die eigene Homosexualität in ihrer Biographie oder ihren persönlichen Zugang zum Thema. Ihre Lebenserzählungen spiegeln den Umgang mit Coming-out-Narrativen und deren Notwendigkeit für die Produktion homosexueller Personkonzepte und Communities. Daran schließt sich „Das zweite Geschlecht“ an, eine Sammlung von (Selbst)Portraits weiblicher Künstler_innen und verschiedener berühmter Personen, die unter einem „anderen“ Blick quer durch verschiedenste Zeit-Räume in einen neuen Bedeutungszusammenhang gerückt werden. Bezugnehmend auf Simone de Beauvoirs Diktum „der Frau“ als zweites Geschlecht und damit in Abweichung vom männlichen Standard das per se „andere“, wird hier deutlich, wie sich in den Bildern eigene weibliche Subjektivierungsweisen konstituieren.

Der dritte Raum zeigt eine Auswahl von Exponaten aus der Sammlung Sternweiler, dem Archiv eines Mitbegründers des Schwulen Museums*, Andreas Sternweiler. Die in einer Petersburger Hängung präsentierten „Anderen Bilder“ zeigen Fotografien von Crossdressern, Transvestiten, Trans*personen, Schwulen und Lesben aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Das fokussierte Objekt dieser Darstellungsweise ist das Sammeln und Archivieren selbst: Wie können Spuren der Homosexualität_engeschichte in den hegemonialen Erzählungen zurückverfolgt, gesammelt und ausgestellt werden? Der daneben liegende Raum „Wildes Wissen“ versucht eine Antwort auf diese Herausforderung. Eine alphabetisch geordnete Sammlung von Artefakten homosexueller Geschichte, an Gitterregalen angebracht, präsentiert sich in der Gestalt eines physischen Archivs. Diese Sammlung illustriert den gegenwärtigen Forschungsstand der Homosexualität_engeschichte. Bisher überwiegen einzelne exemplarische Untersuchungen, die das „andere“ der Geschichte erzählen. Forschungsarbeiten, die systematisch Homosexualität_engeschichte als Teil allgemeiner Geschichte begreifen und nicht als ihren Zusatz, werden erst ansatzweise und perspektivisch möglich. In dieser Perspektive muss der Konstruktionscharakter der allgemeinen, also aus Position der Definitionsmacht bedeutsamen Geschichte stärker hinterfragt werden als bisher. Somit dürfte sich hoffentlich das an vielen Stellen in den Geisteswissenschaften noch immer präsente Abraten von Homosexualität als Forschungsgegenstand, wenn es um die längerfristige Planung von Wissenschaftskarrieren geht, bald erledigen.

Die obere Ausstellungsebene fokussiert die Produktion von Homosexualität_en an den Schnittstellen Strafjustiz (bis hin zu Verfolgung und Vernichtung), Wissenschaft und Psychiatrie. In Form eines Tribunals wird die Kriminalisierung und Bestrafung von Sodomie und Homosexualität in verschiedenen historischen Epochen entlang des Strafgesetzparagraphen 175 erzählt. Gerahmt wird der Raum von einer Kartierung der gegenwärtigen globalen Rechtssituation in Bezug auf homosexuelle Lebensweisen. Der zweite große Flügel der Etage zeigt die Konstituierung der Homosexualität_en in den Wissenschaften. Ausgehend von Psychiatrie, Medizin und Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts, präsentiert der Ausstellungsraum „In der Matrix“ in drei miteinander verwobenen Erzählsträngen die Erfindung von Homosexualität / Heterosexualität, von Geschlecht und den Paradigmenwechsel im Denksystem Zweigeschlechtlichkeit durch Diskurse um Trans- und Intersexualität. Neben berühmten historischen Figuren wie Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld und der von ihnen begründeten Sexualwissenschaft nehmen die Entwicklungen in den Gender und Queer Studies der letzten 30 Jahre einen umfangreichen Platz ein. So entsteht in diesem Ausstellungsraum eine erstmalige Musealisierung queerer Theoriegeschichte, vor allem repräsentiert durch die Arbeiten von Judith Butler.

Die Konstitutierung der Homosexualität_en in Justiz und Wissenschaft erhält eine räumliche Rahmung durch zwei gegenüberliegende Bereiche der Ausstellung, die Materialisierungen von Gewalt thematisieren. Die im Eingangsbereich liegende Klanginstallation „Schimpf und Schande“ besteht aus mehreren Sitznischen, in denen über Lautsprecher Zitate verschiedenster aneinandergereihter Hate-Speech-Beiträge gesendet werden. Ohne eine Zuordnung zum Kontext vorzunehmen, entsteht so eine Rede homophober, sexistischer und rassistischer Gewalt, vertreten durch Politiker_innen, Kirchenfunktionären, Künstler_innen und Publizist_innen aus verschiedenen Kontinenten und kulturellen Räumen. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigt der Gedenkraum „Im Rosa Winkel“ in exemplarischen schwulen und lesbischen Biographien die Verfolgung und Vernichtung homosexueller Menschen im Nationalsozialismus. Durch diese Darstellung muss der wenig produktive Streit um den unterschiedlichen Opferstatus von Lesben und Schwulen in der NS-Zeit an dieser Stelle nicht fortgesetzt werden.

Im Zentrum all dieser Diskursproduzenten laufen die jeweiligen Perspektiven dramaturgisch in ein Kunstwerk des_r kanadischen Künstler_in Heather Cassils zusammen. Die Installation „The Resilience of the 20 %“ (2013) ist nach der Live Performance “Becoming an Image” produziert, die Cassils zuerst 2012 im ONE National Gay & Lesbian Archives LA aufführte. Ein 2000 Pfund schwerer Block aus Lehm wurde von Cassils mit Box- und MMA-Kampftechniken bearbeitet. Die 27 minütige Performance lief in völliger Dunkelheit ab und wurde nur beleuchtet durch das Blitzlicht einer anwesenden Fotokamera. Die in späteren Aufführungen erzielten Bilder und eine der so entstandenen Tonskulpturen, ergänzt um die Tonaufnahmen der während der Performance zu hörenden Atem- und Stimmgeräusche von Cassils, bilden die im DHM ausgestellte Installation. „20 %“ ist eine Referenz auf die um die gleiche Zahl in 2012 angestiegene weltweite Mordrate an Transpersonen. In dieser Darstellung materialisieren sich Gewalterfahrungen durch sexistische, homo- und transphobe Diskriminierungen, die immer im Zusammenspiel von Täter_innen, Zeug_innen und Beobachtenden entstehen. Diese Perspektive auf die Wirkungsweisen struktureller Diskriminierung bildet das dramaturgische Zentrum der Ausstellung, die schon in Elmgreen & Dragsets weißer Bank angedeutet wurde. Zugleich bietet Cassils Installation den Zugang zu einem produktiven Umgang mit Diskriminierung: indem das Subjekt handlungsfähig wird und bleibt, sich auseinandersetzt und selbst Diskurse und Bilder produziert. Ein weiteres Beispiel ist die ebenfalls ausgestellte Arbeit „Cuts. A Traditional Sculpture“, aus der auch das Motiv für das vieldiskutierte Plakat zur Ausstellung entnommen wurde.

Heather Cassils Advertisement: Homage to Benglis , 2011 c-print 40 x 30 inches  edition of 3  photo: Heather Cassils with Robin Black Courtesy Ronald Feldman Fine Arts, New York

Heather Cassils
Advertisement: Homage to Benglis , 2011
c-print
40 x 30 inches
edition of 3
photo: Heather Cassils with Robin Black
Courtesy Ronald Feldman Fine Arts, New York

Eine Fortführung dieser Perspektive ist die Thematisierung homosexueller Selbstdarstellung „Das private ist politisch“ im letzten Raum des DHM-Ausstellungsteils, zugleich ein Brückenschlag zum anderen Standort im Schwulen Museum*. Nach der Auseinandersetzung mit Historiographie, Diskurs- und Wissensgeschichte der Homosexualität_en fokussiert der zweite Teil gegenwärtige und zukünftige queere Zeiten. Vielfältige künstlerische Arbeiten von Künstler_innen wie Elaine Sturtevant, Monica Bonvicini, Henrik Olesen, Goodyn Green oder Julian Rosefeldt beschäftigen sich mit Transgressionen in Lust Begehren und Geschlechtern. So zeigt etwa Rosefeldts Film „Deep Gold“ (2014) eine Reinterpretation von Bunuels „L’age d’Or“ versetzt in ein Berlin der 1920er Jahre als imaginativen Ort der Lüste, voller Anspielungen auf feministische Kunst und inszeniert in einem Kinosaal.

In einem weiteren Videoarchiv, erstellt aus dem Interviewprojekt „What’s next?“, sprechen queere, in Berlin lebende Aktivist_innen über Leben, Arbeiten, und Politiken jenseits der Heteronormativität und entwerfen so queere Utopien.

Auf der Suche nach Queer History

Was ist das Neue an der Ausstellung für die Homosexualität_en als Thema historischer Forschung? In ihrer Betrachtung der Homosexualität_en als Verflochtenheit von Subjekt – und Objektpositionen und Wissenssystemen erzielt die Ausstellung neue Perspektiven, die ich im Folgenden in vier Punkten skizzieren möchte. Zunächst wird eine konsequente Pluralität der Lebensweisen abgebildet. Konzeptionell und ausstellungspraktisch werden Schwule und Lesben, Subjekte verschiedenster Geschlechter gemeinsam dargestellt. Damit wird auch das tradierte Verständnis von Homosexuellen als schwulen Männern aufgebrochen, eine klar formulierte Intention des Kuratoriums. Zweitens kristallisiert sich ein Paradigmenwechsel in der Darstellung von Lesbengeschichte heraus. Der Blick auf Lesben ist nicht mehr länger – wie noch bis in die historische Forschung des 21. Jhs. hinein – einer auf „frauenliebende“ Frauen, die entweder Teil der Frauenbewegung waren oder bei der Gruppe Schwuler Männer mitgemeint waren. Vielmehr gelingt es der Ausstellung, die Lebenswelten verschiedenster Lesben von binären Geschlechterkonzepten abzulösen und in ihrer Vielfalt sichtbar zu machen, sei es in der lesbischen Aktivist_innenkultur im „Wilden Wissen“ oder in der Dyke-Porn-Videoinstallation im „Satisfy Me“-Raum des Schwulen Museums*, ohne den historischen Zusammenhang der Subjektivierung „Frau“ und „Lesbe“ in der Geschichte des Feminismus zu vernachlässigen. Die Verwobenheit von Geschichte und Kunst in der gesamten Ausstellung ist drittens eine historiographisch spannende Perspektive. Der Umgang mit Kunstobjekten erfolgt konsequent nicht illustrativ, sondern in der Verflechtung von Objekten und Repräsentationen gelebten Lebens. Kunst ist als Ausstellungsobjekt selbst Teil homosexueller Geschichte, eine positivistische Trennung in „historische Quellen“ einerseits und Kunst andererseits gibt es nicht. Viertens durchbricht die Ausstellung in ihren heterogenen Raumstrukturen die Chronologie als normative Erzählweise und verweigert sich dergestalt den Zeitstrukturen hegemonialer Geschichtswissenschaften. Dadurch gelingt eine multiperspektivisches Erzählen queer zu den Masternarrativen.

Es hat den Eindruck, als würde die Ausstellung eine der Utopien, die sie inhaltlich thematisiert, selbst bereits verwirklichen, nämlich Erzählungen zu formulieren und Bilder zu liefern, die es ermöglichen, Lebensformen abseits heteronormativer zweigeschlechtlicher Ordnung zu denken, ohne nahezulegen, dass Identitätspolitiken in dieser Utopie nicht mehr notwendig wären.

Homosexualität_en
Schwules Museum* und Deutsches Historisches Museum
26.6. – 1.12.2015
Kuratiert von Birgit Bosold, Dorothée Brill und Detlef Weitz unter Mitarbeit von Sarah Bornhorst, Noemi Molitor und Kristine Schmidt
Gefördert von der der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder
Ausstellungskatalog: Birgit Bosold, Dorothée Brill und Detlef Weitz im Auftrag des Schwulen Museums* und des DHM: Homosexualität_en. Dresden: Sandstein Verlag 2015. 224 Seiten, 25,- Euro.