„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Die sexualisierte Gewalt gegen Frauen* in der Silvesternacht insbesondere in Köln, aber auch Hamburg bestürzt, erfüllt mit Wut und Schmerz. Es geht darum, bei denen zu sein, die dieser Gewalt begegnet sind, durch sie verletzt wurden, es geht darum, die konkreten Gewalterfahrungen zu thematisieren und für diesen Ausgangspunkt der Debatte aufmerksam zu bleiben. Und gerade deshalb, weil es darum geht, diese Gewalt zurückzuweisen und ihr entschieden entgegenzutreten, gilt es, ihre sozialen Dynamiken und Logiken zu verstehen.

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen* hat eine andauernde Geschichte in patriarchalen Gesellschaften, in denen die Dominanz des zum ‚eigentlich Menschlichen‘ verallgemeinerten Männlichen in unterschiedlichen kulturellen, religiösen und (geo-)politischen Konstellationen in Ost und West, Norden und Süden praktiziert wird. Die Frage der Akzeptanz oder Verurteilung von sexualisierter Gewalt wird dabei unterschiedlich beantwortet. Es sind hier in erster Linie die jahrzehntelangen Kämpfe von Frauen*bewegungen und ihren Allianzen, durch die Gewalt in nicht-öffentlichen, ‚privaten‘ Räumen, in Verwandtschaftsbeziehungen publik gemacht und geahndet wurde und die immer wieder erneut den öffentlichen Raum als für alle Geschlechter zugänglichen Raum erstreiten (wird dieser doch allzu oft eben nicht nur Frauen* verwehrt). Die Versionen patriarchaler Dominanzen und Varianten ‚männlicher Herrschaft‘ (Bourdieu) sind vielfältig und sehr unterschiedlich in ihrer Intensität, physischen Gewalthaftigkeit und rechtlichen Absicherung bzw. Begrenzung; sie treffen diejenigen, die als ‚Frauen‘ klassifiziert werden, wie auch – mit ähnlichen und anderen Attacken und Regulierungen – jene, die für Geschlechter und Sexualitäten jenseits heteronormativer Legitimationen einstehen.

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen* konstruiert ‚Frauen‘ und markiert Körper in besonderer Weise als (physisch, psychisch und sozial) verletzbar und verletzungsoffen. Sie ist darauf aus, souveräne Handlungsmacht zu erlangen und die Adressatinnen* ohnmächtig, handlungsunfähig zu machen. Sexualisierte Gewalt ist eine Praxisform zwischen (heterosexuellen) Männlichkeiten, bei denen Frauen* und andere Andere zum Spiegel eigener Handlungspotenz und auf diese Weise instrumentalisiert werden.

Aktuell nehmen weltweit gewaltförmige Auseinandersetzungen zu – in Form von Bürgerkriegen, Kämpfen gegen Armut und soziale Ausbeutung, kulturalisierten und ethnisierten Konflikten, Frontstellungen religiöser Selbstverständnisse oder nationalistischen Identitätspolitiken. Sie ereignen sich zum Teil in Kriegshandlungen, die ganze Länder erfassen, zum Teil als einzelne Gewalt- und Terrorakte. Wenngleich die Gefährdung von Leben und die Massivität der Gewalt höchst unterschiedlich ist, ist keine Weltregion daran unbeteiligt.

Im Ringen um ökonomische Vormacht und die Dominanz eines spezifischen Verständnisses von ‚Moderne‘ sind die Länder des globalen Nordens in die Auseinandersetzungen eingebunden, in denen sie zwischen Bündnispartnern und gegnerischen ‚Anderen‘ unterscheiden. Die politischen Handlungen folgen mit dieser Schaffung einer Wir-Gruppe der Zugehörigkeit und der Betrauerbaren (bspw. der ’Europäer‘) und jenen Nichtbetrauerbaren, deren Leben nicht in gleicher Weise und mit der gleichen Dringlichkeit zählt, einer spezifischen Logik. Judith Butler hat dies sehr eindrücklich bereits anhand der Zäsur des 11. September 2001 für die US-amerikanische Politik unter George W. Bush herausgearbeitet: es ist die Logik des Krieges.

Mit Kriegserklärungen und Ausnahmezuständen antworteten Frankreich und Belgien auf die Terroranschläge in Paris und setzten damit das vermeintliche Zur-Rechenschaft-Ziehen der Verantwortlichen in Form einer Kriegshandlung durch. Mit der Verstärkung und Schließung von Grenzen, dem faktischen Außerkraftsetzen der Genfer Flüchtlingskonvention, der Aushöhlung des Asylrechts reagierten zahlreiche europäische Regierungen auf die Bewegung der vor Krieg und unerträglichen Lebensbedingungen Flüchtenden. Die Lager, in denen geflüchtete, entwurzelte und vielfach traumatisierte Menschen untergebracht werden, sind nicht allein Ausdruck der überforderten Kapazitäten aufnahmebereiter Gesellschaften. Sie konstituieren auch Wir-Gruppen und Abgegrenzte, die sich als integrationsfähig zu bewähren haben. In den privilegierten, dominierenden, geschonten Ländern – etwa Westeuropas – verbreiten sich Logiken, die nicht von ‚Außen‘ kommen, sondern die in den Gesellschaften lokalisiert sind: hier werden soziale Andere konstituiert – als ‚Flüchtlinge‘, als problematische ‚Muslime‘ etc. Gegenwärtig bestärken rassistische und antimuslimische Ausfälle diese Kriegslogiken und machen Geflüchtete zu bedrohlichen Anderen, deren Lebensrechte nicht selbstverständlich anerkannt werden, sondern zur Disposition stehen. Zugleich sind diese Prozesse nicht getrennt von weltweit zunehmenden Kriegslogiken, d.h. die Gewaltförmigkeit und Destruktivität der sozialen Verhandlungen kursieren in gleichermaßen lokalen und global geöffneten Räumen.

Die Expansion sexualisierter Gewalt gegen Frauen* ist Teil dieser politischen und sozialen Logiken, in denen die weltumspannenden Konflikte derzeit lokal ausgetragen werden. Insofern stehen die Übergriffe auf Frauen* zwar – worauf feministische Stellungnahmen hingewiesen haben – in einer langen Kontinuität alltäglicher sexualisierter Gewalt in patriarchalen westlichen Gesellschaften, zugleich ist sexualisierte Gewalt eine Praxis im Rahmen politischer Handlungslogiken, die sich in der Gegenwart konstituieren. Es sind diese Kriegslogiken, die die Frage von Geschlecht und sexualisierter Gewalt in besonderer Intensität thematisieren und aktualisieren.

Dies zeigt sich einmal in der Frage der Männlichkeit: der Krieg ist nicht nur ein Schauplatz der Artikulation und Reproduktion von Männlichkeit(-en). Unter den „ernsten Spielen“ der ‚männlichen Herrschaft‘ ist er der Ernsteste. Zu einem Zeitpunkt, zu dem diese ‚männliche Herrschaft‘ – etwa in der Sozialfigur des weißen, europäischen, heterosexuellen, (post-)kolonialen Mannes – ins Wanken gerät, d.h. in der die Herrschaft dieser unmarkierten und bislang geschonten Männlichkeit nicht unbefragt bleibt, ja konkurrierende Männlichkeiten die eigene Partikularität ausstellen, ist der Zugriff auf ‚Frauen‘ – als Adressatinnen* eigener Potenz und/oder als schützenswertem abhängigem ‚Gut‘ ein probates Instrument zur Wiedererrichtung einer zentrierten Männlichkeit.

Der zweite Punkt ist damit die Instrumentalisierung von Frauen* als Beutegut zwischen Männern/Männlichkeiten, denen – entsprechend der Kriegslogik – Handlungsmacht und Subjektstatus entzogen wird.

Was bedeutet das alles in Bezug auf die Silvesternacht in Köln? Ich antworte auf diese Frage als weiße Mittelschichtsfrau, deren soziale Existenz gesichert ist, die eine privilegierte Position in der postkolonialen Gegenwart innehat und die nicht der Verletzbarkeit einer Flucht- und/oder einer Kriegssituation ausgesetzt ist. Und insofern wäre noch einmal zu unterscheiden, in welchen Weisen und Konfigurationen Frauen* zum ‚Gegenstand‘ patriarchalisch-paternalistischer Politiken werden. ‚Weiße Frauen‘ sind sicher nicht von den kolonialen Politiken betroffen, die Gayatri Chakravorty Spivak früh (im Original 1988) für women of color treffend beschrieben hat: „Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“, sondern profitieren und partizipieren an postkolonialen Rassismen und Dominanzen. Dennoch werden auch die mit der Klassifikation ‚weiße Frau‘ Bezeichneten (d.h. die durch diese Klassifikation Bevorteilten, die zugleich Adressantinnen* von Sexismus sind) erneut zum Beschützenswerten zwischen ‚weißen Männern‘, wird ihnen Handlungsfähigkeit streitig gemacht. Genau zu analysieren wäre, wie in der gegenwärtigen Debatte Frauen* als ‚braune Frauen‘ (Spivak) adressiert werden – sicherlich ebenfalls ohne eigene Handlungsmacht, aber als gleichermaßen beschützenswert oder nicht; und/oder als ‚Frauen der anderen Männer‘?

Erfahrene Gewalt, Schmerz und Trauer ebenso wie die Zurückweisung von Sexismus und Gewalt und das Recht auf öffentlichen Raum werden aktuell für rassistische Zuschreibungen instrumentalisiert. Es geht daher auch darum, die Essentialisierungen und Kulturalisierungen von Tätergruppen, aber auch der Frauen* zurückzuweisen.

Und es geht zuvorderst darum, die Dynamiken des Krieges, der Kriegsführung und der Gruppenbildung und die damit verbundenen zerstörerischen Unterwerfungs-, Ohnmachts- Verletzungsdynamiken zu durchbrechen. Das hieße, (körperliche) Unversehrtheit auf der Grundlage der prinzipiellen Verletzbarkeit von Leben, und damit auch von allen Menschen gleich welchen Geschlechts, zu ermöglichen und gesellschaftlich zu halten. Es hieße der Verletzbarkeit, der Prekarität von Leben Beachtung zu schenken, sich ihr zuzuwenden: konkret, im Einzelfall und Überall.

Sicher geht es dabei auch um Schutz gefährdeter Leben, vor Gewalt, vor Verfolgung, vor Krieg, vor Diskriminierung, vor Sexismus, vor Rassismus; es geht um den Schutz von Menschen, deren Leben, Körper, Begehren nicht normativen Vorgaben entsprechen. Es wäre aber eine Art ‚Schutz‘, der sich auf Konvivialität, auf ein egalitäres Teilen von Welt (Irigaray), auf die Ermöglichung von nicht externalisierten Differenzen bezieht.

Doch solange wir (ein jeweils zu positionierendes ‚wir‘ queer-feministischer Allianzen) von einem Schutz sprechen, der patriarchal gewährt und verteilt wird, haben wir der kriegerischen Struktur der ernsten Spiele ‚männlicher Herrschaft‘, die Frauen* als Frauen konstituiert, noch nicht wirklich etwas entgegengesetzt.