„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Wir gratulieren Carolin Emcke zum Erhalt des diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels! Die Schriftstellerin und Journalistin ist eine engagierte Stimme im feministischen und queeren Sinne. Ihre Arbeiten thematisieren immer wieder die unhintergehbare Verwundbarkeit und Entmenschlichung, zu der wir ebenso fähig sind, wie die Gesprächs- und Anerkennungspotenziale, die wir als Menschen auch haben. 
Im Heft 1/2014 zum Thema „Intimitäten“ haben Anna-Katharina Meßmer und Paula-Irene Villa ein langes Interview mit Carolin Emcke geführt. Darin äußert sich Carolin Emcke dazu, wie das Erzählen auch als politische Strategie des ‚Sich-Verletzbar-Machens‘ verstanden werden kann und wie schwierig – und notwendig – es ist, Intimität als politische Situation zu verstehen. 
Wir danken der Autorin für die Genehmigung, das Interview online zu stellen und wünschen eine anregende Lektüre.

Anna-Katharina Meßmer und Paula-Irene Villa im Gespräch mit Carolin Emcke

Carolin Emcke ist Publizistin und Autorin. Sie studierte Philosophie an der London School of Economics, in Frankfurt am Main und Harvard und promovierte über den Begriff „kollektiver Identitäten“. Seit 1998 berichtet Emcke weltweit aus Kriegsgebieten – in ihrem aktuellen Buch „Weil es sagbar ist“ (2013) geht sie der Frage nach, wie sich von Krieg und Gewalt erzählen lässt. Insbesondere ihre Bücher „Stumme Gewalt – Nachdenken über die RAF“ (2008) und „Wie wir begehren“ (2012) sind sehr persönliche Bücher, die einen bisweilen intimen Einblick in Denken und Empfinden der Autorin gewähren. Bewusst – wie Emcke im Interview erklärt. Anna-Katharina Meßmer und Paula-Irene Villa haben sie im Oktober 2013 per Email-Interview zu Strategien der Intimität und zur Bedeutung von Zeugenschaft befragt.

AKM / PIV: Bei Ihren Büchern fällt auf, dass Sie als Erzählerin stets einen radikal persönlichen Blick auf die Dinge werfen. Sie nähern sich dabei politischen Verhältnissen über die Darstellung eigener Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle. Inwiefern nutzen Sie die Schilderung von Intimität und, eng damit verbunden, auch das Herstellen von Intimität als Strategie?

CE: Ich würde zunächst einmal mit anderen Begrifflichkeiten arbeiten. Ich nähere mich politischen Verhältnissen mit einem philosophischen Blick, der durch ganz unterschiedliche Traditionen geschult und geformt ist. Der Zugriff auf politische Phänomene ist philosophisch, das, was mich umtreibt, sind normative Fragen. Als Publizistin besteht meine Aufgabe, so denke ich, in dreierlei: Kritik, Aufklärung und Zeugenschaft. Aber die Sprache der Kritik, die Form der Aufklärung, das Genre der Zeugenschaft können auch subjektiv sein. Das Einsetzen einer subjektiven Erzähl- oder Reflektionsform bedeutet dabei keineswegs eine Abkehr von der politischen oder philosophischen Ambition. Augustinus, Descartes, Rousseau, alles Autoren, denen niemand den radikal philosophischen Zugriff absprechen wollte, haben den Einsatz des „Ich“, die Meditation mit und durch das individuelle Subjekt, gewagt (übrigens keineswegs Autoren, die mir ansonsten nahelägen).

Das nur vorweg, um diesen vermeintlichen Gegensatz von subjektiv-intim vs. politisch-philosophisch aufzulösen.

Wenn Sie nun nach der Strategie fragen, dann ist das natürlich entscheidend. Einfach nur „ich“ sagen, einfach nur privatistisch Intimitäten ausplaudern, kann nicht zielführend sein. Die subjektive Form, das Reflektieren auf eigene Erfahrungen oder Wahrnehmungen braucht, meiner Ansicht nach, immer einen Grund, warum sie in einem bestimmten argumentativen, diskursiven Kontext eingesetzt wird.

Bei dem Buch Von den Kriegen war die subjektive Form natürlich, denn dieses Buch war nie als Buch geplant, sondern entstand tatsächlich aus Briefen an Freunde, denen ich eben als subjektive, vertraute Person gegenübertrat. Aber das Bedürfnis, Briefe zu schreiben, das Bedürfnis, die Erfahrung von Krieg und Gewalt noch einmal anders zu reflektieren, hatte auch mit dem Zwangskorsett des naiven Anspruchs an (Pseudo-) Objektivität zu tun, in dem sich der Nachrichten-Journalismus der klassischen Medien (mindestens damals noch) befand/befindet. Die Subjektivität des Textes war ein Gegen-Entwurf zu der behaupteten Neutralität und behaupteten Distanziertheit im Journalismus, der suggeriert, in Kriegsgebieten als distanzierter Beobachter – ohne jedwede kulturelle Vorprägungen, ohne religiöse oder ästhetische Reflexe, ohne eigene politische oder emotionale Intuitionen – andere Menschen oder Konflikte beobachten und beurteilen zu können.

Das halte ich im günstigsten Fall für eine naiv-unreflektierte Illusion, im schlimmsten Fall für eine selbstgefällig-eitle Lüge einer Zunft, die meint, damit ihre Autorität und Glaubwürdigkeit schützen zu können.

Sich selbst als subjektive Beobachterin zu beschreiben, entspringt insofern keineswegs einer de-politisierenden Haltung. Sich selbst als subjektive Beobachterin zu beschreiben, als jemand, die sich irren kann, der bestimmte Grausamkeiten unwahrscheinlich erscheinen, schlicht, weil die eigene Psyche sich nicht vorstellen will, dass sie geschehen, als jemand, die bedroht oder bedrängt wird, ist stattdessen eine Form des Sich-Verletzbar-Machens, des Sich-Angreifbar-Machens, um sichtbar zu machen, wer das ist, die so oder so urteilt und schreibt.

Bei meinem Buch Stumme Gewalt – Nachdenken über die RAF entsprang die Wahl der subjektiven Form einer ganz anderen Überlegung. Der öffentliche Diskurs über die RAF operierte und operiert bis heute mit einer Zuschreibung der Kollektivität: hier, die dämonischen Täter der RAF, dort die Opfer und Angehörigen der Opfer. Bzw. hier die dämonischen Mächtigen und Repräsentanten, dort die politisch rechtschaffenen Widerständler. Es werden nicht nur Eigenschaften zugeschrieben, sondern auch politische Überzeugungen, die so nicht stimmen oder nicht gestimmt haben.

Ich wehre mich gegen die machtvolle Konstruktion von Kollektiven, von Zuschreibungen kollektiver Identität, gegen die Negation von Individualität, weil ich darin den Ursprung von Ausgrenzung oder Gewalt antizipiere. Mit dem Unsichtbarmachen von Individualität und Vielfalt, mit der Repression von Differenzen, mit dem Erfinden von Normen und Codes, die manche ein- und andere ausschließen, beginnen jene Mechanismen von Exklusion, die aus manchen Menschen weniger wertvolle, weniger schutzwürdige Menschen machen.

In der Auseinandersetzung mit der RAF haben sich beide Seiten, die RAF wie der sie verfolgende Staat, dieses de-individualisierenden Blicks schuldig gemacht. Die RAF, indem sie sich als kollektives Subjekt verstand, aber auch, indem sie sich das Recht zuschrieb, individuelle Menschen hinrichten zu dürfen, weil sie sie nicht mehr als Individuen, sondern nur noch als Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes verstand. Die Bundesanwaltschaft, indem sie darauf verzichtete, einzelne Schuldnachweise auch tatsächlich einzelnen Personen zuzuweisen.

Hier diente die subjektive Form einem Versuch, das paradoxe Bündnis der früheren Gegner, die jeweils an diesem Kollektiv-Zwang festhielten, zu unterwandern. In einem solchen diskursiven Kontext bedeutete die Subjektivität, das Persönliche auch eine Absage an diese mimetische Beziehung, in der sich RAF und staatliche Behörden eingerichtet haben. Aus dem Zirkel des Schweigens und der Gewalt konnte, so schien mir, nur ausbrechen, wer „ich“ sagt.

Ein wunderbares Beispiel für diese Strategie ist Ulrike Edschmids Roman Das Verschwinden des Philip S. – wirklich der erste Text zur RAF, der mich tief beeindruckt hat, weil sich in dieser Form, in dieser persönlich-politischen Form des Nachdenkens über die eigene Geschichte endlich einmal Erklärungen finden, wie jemand sich der Gewalt nähert, aber vor allem, wie jemand es schafft, sich davon wieder zu entfernen. Ein grandioses Buch, das das Preisgeben oder Erzählen des Privaten-Intimen als aufklärerische und politische Strategie verfolgt.

In Wie wir begehren diente die subjektive Form dem Sicht- und Hörbarmachen einer Lebensform, eines Begehrens, und, ja, einer sexuellen Subjektivität, die lange unterdrückt wurde und die auch heute noch beschwiegen wird. Weibliche Homosexualität, lesbisches Begehren wurde historisch ja nicht einfach nur unterdrückt, es wurde oftmals gar nicht als eigenes Begehren registriert.

Auch, und das ist ein weiterer Punkt, befremdet mich die Art und Weise, in der über Homosexualität, über Sexualität überhaupt in der Öffentlichkeit gesprochen und geschrieben wird. Und da kommt tatsächlich Intimität noch einmal anders ins Spiel. Ich wollte mir in einem öffentlichen Diskurs, in dem meine Sexualität, mein Begehren in einer bestimmten Weise verhandelt wird (gleichsam als ein allgemeines Gut, als ein Marker meiner Identität, als das entscheidende Merkmal meiner Person, als Definition meiner Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität, aber Symptom oder Ursprung meiner vorgeblichen Andersartigkeit) in diesem Diskurs, in diesen eingeübten Formen des Sprechens über Homosexualität wollte ich versuchen, eine eigene Sprache zu finden, eine, die tatsächlich so genau, so präzise, so zart, so leise ist, dass ich darin mein Begehren ausdrücken kann.

Damit wollte ich nicht Sexualität als Politikum bestreiten, damit sollte Sexualität und Begehren als Konfliktfeld sichtbar bleiben, anhand dessen und in dem sich Techniken und Mechanismen der Macht und Exklusion manifestieren – aber es sollte eben auch eine andere Art der Erzählung angeboten werden, eine andere Art des Nachdenkens über das Entdecken des eigenen Begehrens, eine andere Sprache für die Sprache des Begehrens.

AKM / PIV: Wie funktioniert aber Intimität als öffentliche Strategie? Kritischer gefragt: Läuft die Intimisierung (als konsequente Individualisierung) einer Perspektive nicht z.B. Gefahr, sich gegenüber der Diskussion, d.h. Kritik oder schlicht anderen Erfahrungen zu immunisieren?

CE: Das ist ein wichtiger Einwand. Denn darin besteht, in der Tat, eine Gefahr. Deswegen würde ich auch niemals in Intimisierung oder subjektiver Erzählform per se eine vernünftige politisch-philosophische Strategie sehen. Wenn sie misslingt, ist sie nur egozentrisch und peinlich. Wenn sie überdreht, ist sie nur privatistisch und verschleiert die strukturellen Bedingungen von Ungerechtigkeit und Exklusion. Sie muss deswegen entweder in systematische oder politische Argumentationen eingebettet oder so ästhetisch klug sein, dass sie ihre Wirkung entfaltet.

Um es an einem Thema zu illustrieren, das für mein eigenes Schreiben und Denken zentral ist: Wenn es um die Kritik von Gewalt und Entmachtung oder Unterdrückung des Individuums geht, kann ich ganz unterschiedliche Texte nennen, die mich gleichermaßen beeinflusst und die mir tiefe Erkenntnis in die Phänomenologie und Mechanik von Gewalt und Entrechtung vermittelt haben: Jean-Paul Sartres Betrachtungen zur Judenfrage, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Tsvetan Todorovs Die Eroberung Amerikas. Oder die Entdeckung des Anderen, Michel Foucaults Überwachen und Strafen, Wendy Browns States of Injury aber eben auch Christa Wolfs Medea, Aleksandar Tismas Die Schule der Gottlosigkeit, Peter Nadas’ Parallelgeschichten und natürlich auch Paul Celans Sprachgitter und Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit.

Das sind theoretische oder literarische Annäherungen an die Frage der Gewalt und der Negation des Individuums, es sind Texte, die subjektiv und poetisch daherkommen oder wissenschaftlich – und gleichwohl bieten sie alle, aus unterschiedlichen Perspektiven, Ansichten und Thesen an, gegen die sich nicht einfach immunisieren lässt und mit oder gegen die sich diskutieren lässt.

Um anders auf Ihre Frage zu antworten: Texte, die Intimes oder Persönliches bloßlegen, werden dadurch nicht unangreifbar, sondern sie bieten eine Position gerade als verletzliche, be-zweifelbare an, um dadurch auf einen blinden Flecken im Diskurs hinzuweisen oder um eine bestimmte Dogmatik der Form oder Form der Dogmatik aufzubrechen.

AKM / PIV: Was würden Sie dann Sennetts These von der „Tyrannei der Intimität“ entgegnen? Sennett beklagt in diesem Zusammenhang den ‚Verfall’ der Öffentlichkeit zugunsten einer privatistischen und gefühligen Intimisierung, die wesentlich eine Entpolitisierung bedeutet.

CE: Ich schätze Sennett sehr – und auch hier sehe ich mich mit dem bisher Gesagten nicht im Widerspruch. Das, was Sennett kritisiert, meint ja eine Form des Zurschau-Stellens von Intimität, die dem Intimen nur entgegensteht.

Aber es sollte eben auch nicht vergessen werden, was Hannah Arendts Einsicht in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft war: dass totale Herrschaft sich auch darin manifestiert, dass sie den öffentlichen Raum zu okkupieren sucht, dass das Private ins Öffentliche gedrängt oder mindestens überwacht und durchdrungen wird. Die religiöse, sexuelle, soziale, ästhetische Freiheit, die es zu verteidigen gilt, aus der Perspektive der Ausgesonderten, der Abweichenden, der Minderheiten, ist die, selber entscheiden zu dürfen, wie und wann die individuellen Neigungen oder Weisen des Denkens und Fühlens politisch und öffentlich verhandelt werden müssen und sollen.

AKM / PIV: Kann Intimität möglicherweise als etwas verstanden werden, das sich der „Zurichtung“ durch Normen entzieht? Besitzt sie womöglich so etwas wie einen unverfügbaren Rest? Oder ist dies eine romantische, zutiefst bürgerliche Illusion, die es kritisch zu hinterfragen gilt? Diese Frage ist aus geschlechterwissenschaftlicher, auch aus feministischer Sicht besonders brisant. Denn so wie ‚Privatheit’ als zutiefst vergeschlechtlichtes Konstrukt der Moderne verstanden werden kann, so könnte Intimität sich auch erweisen als Ort und Form der geschlechtlichen und sexualpolitischen Ordnung, nicht zuletzt auch der Gewalt. Zugleich könnte Intimität aber ja ein Erfahrungsraum sein, der solche Ordnungen irritiert und Erfahrungen jenseits der Normierung ermöglicht.

CE: Was wir mit „Intimität“ meinen ist kein unverfügbarer Rest. Was wir als „intim“ verstehen ist immer schon kulturell, religiös, medial und schließlich familiär-biographisch konditioniert. Meinen Sie in Ihrer Frage mit „Intimität“ das, was in bestimmten Kontexten oder Zeiten als „unzeigbar“ oder „unaussprechbar“ verstanden wird? Unser Verhältnis zu unserer Nacktheit und wie sie gesehen wird von einer oder einem Anderen? Zu unseren Körpern und wie sie gesehen werden von einer oder einem Anderen? Unserem Geschlecht?

Oder meinen Sie mit „Intimität“ etwas anderes, nämlich Arten sich zu berühren, zu begehren? Dann würden Sie fragen: Reproduzieren wir, auch in unseren intimsten, zweisamen oder einsamen Momenten, im einander Begehren, in der Lust, im Verlangen all jene Normen und Codes, die wir doch gerade hier unterwandern wollen?

Natürlich reichen all die traditionellen Rollenbilder, all die medial verbreiteten Normen und Codes über Männlichkeit und Weiblichkeit in uns und durch uns hindurch, natürlich sind wir mit-geprägt in unseren Berührungen von den Vorstellungen, was als Sexualität zählt, was als gelungene Sexualität zählt, wie symmetrisch oder asymmetrisch, wie uferlos oder gierig, wie wandelbar unser Begehren und unsere Lust sein darf oder sein soll, … gleichwohl bleibt die Sprache der Lust eine, die sich immer wieder eben diesen Zurichtungen zu entziehen sucht, eben weil sie, wenn sich einander Liebende auf die Hinwendung zueinander einlassen, alles Zwanghafte, Entfremdete, bloß Routinierte abzuwerfen sucht.

AKM / PIV: Von Ihnen stammt der Satz: „Mein Begehren ist so privat und intim, wie für viele religiöse Menschen der Glaube“ – Eröffnet dieser Vergleich vielleicht die Möglichkeit, dem Intimen als Begriff nachzuspüren? Was eint die Intimität von Glauben und Begehren?

CE: Ich glaube, zunächst einmal eint Glauben und Begehren, dass beide in gewisser Hinsicht unverfügbar sind. Ich kann nicht beschließen zu begehren, ich kann über Erotik oder Lust nicht entscheiden, es liegt außerhalb meines Zugriffs, und ich vermute, ein Teil dessen, was wir daran so aufregend finden, ist genau dieses Gefühl des Ausgeliefertseins an das Begehren. Ich kann auch nicht beschließen zu lieben oder aufzuhören, jemanden zu lieben. So sehr wir uns das manchmal auch wünschen, wenn wir leiden an einer Liebe oder einer obsessiven Lust. Und so lässt sich der Glaube auch nicht beschließen. Ich kann nicht sagen „So, ab heute glaube ich an Gott oder Allah“, so wie ich nicht sagen kann „Ab heute glaube ich nicht mehr daran“. Wenn das möglich wäre, hätte Hiob sicherlich weniger gelitten. Aber der Glaube (wie die Liebe und die Lust) entsteht nicht im rational choice-Verfahren.

Das ist, warum mich die alten Theorien des Gottesbeweises stets ein wenig belustigten. Nicht, weil ich dächte, Gotte ließe sich nicht beweisen oder es ließe sich die Nicht-Existenz nicht beweisen. Sondern weil es beim Glauben eben gerade nicht um einen Beweis geht. So geht es auch beim Begehren oder Lieben nicht um etwas, das sich rational begründen ließe.

Mit dem Satz „Mein Begehren ist so privat und intim, wie für viele religiöse Menschen der Glaube“, wollte ich aber auch noch auf etwas anderes hinweisen: Es hat sich in der Öffentlichkeit eine Art und Weise des Sprechens über den Islam und über Sexualität eingebürgert, die mir zutiefst suspekt ist. Beides, Glauben wie Begehren, haben mit meinen Gefühlen zu tun, im einen Fall: dem der Frömmigkeit, dem metaphysischen Glauben, im anderen mit meiner Lust, meinem Wollen eines anderen Körpers, einer anderen Person, es sind jeweils sehr…ja,…intime Sprachen, mich und meine Sehnsucht nach Hingabe an etwas oder jemand anderen zu artikulieren – und mir ist suspekt, dass diese sehr individuellen, zarten, zerbrechlichen Weisen des Sprechens und Fühlens öffentlich vergemeinschaftet und verortet werden als: besser oder schlechter, perverser oder krimineller, moderner oder vormoderner, ansteckend oder bedrohlich, fremdartiger oder devianter.

Und dann muss man sich taktisch entscheiden: ob man sich auf die Art des Sprechens einlässt und auf derselben ästhetisch-politischen Ebene das kritisiert oder ob man versucht, sich die Begriffe und Worte, die Gesten und Sprachen wieder anzueignen und zu verwandeln.

AKM / PIV: Mit dieser Frage der „Wiederaneignung“ von Sprache beschäftigen Sie sich auch in ihrem aktuellen Buch Weil es sagbar ist. Inwiefern spielt hier Intimität für Sie eine Rolle? Würden Sie sagen, dass sie in der Auseinandersetzung mit Zeugenschaft auch nach Momenten der Intimität suchen?

CE: Ich spüre Momenten der Dissidenz in extremen Grenzsituationen, also Zuständen der extremen Entrechtung und Gewalt, nach. Mich interessiert, welche Abwehrmechanismen Opfer von Gewalt und Entrechtung ausbilden, welche Dinge oder Techniken Menschen helfen, die eingesperrt und gefoltert, misshandelt und vergewaltigt, die vertrieben und vergessen werden. Und dabei lassen sich mehrere Instrumente des Widerstands ausmachen: Manchmal helfen Gewohnheiten und Rituale, die Zeit der Ohnmacht zu überstehen. Manchmal helfen geliebte Objekte und Dinge, die an die Zeit vorher, an das Leben vorher, die an die Person erinnern, die man einmal war. Und manchmal helfen kleine Augenblicke der Intimität, manchmal wird eine erotische Geste, eine wie auch immer bescheidene Form der Sexualität zu einem Akt des Widerstands und der Dissidenz. In den Gefängnissen und Lagern, die sich nur auf die Negation des Individuums richten, die jede Individualität, jede Humanität vernichten wollen, bildet Intimität genau die Form des Dialogischen, die ansonsten zerstört werden soll.

AKM / PIV: Judith Butler sprach 2011 in einem Heft der feministischen studien über Verletzbarkeiten. „In this way, we might understand politicization as motivated by an intelligent vulnerability, a transformation of receptivity into action where action does not »take the place« of receptivity, but sustains it as its most vital condition.“ Sie ergänzen diesen Gedanken in Weil es sagbar ist um die Aufforderung, diese Verletzungen und Verletzbarkeiten zu übersetzen. Sie schreiben: „Wenn wir also Mechanismen der Exklusion unterwandern wollen, wenn wir Strategien der Inklusion entwickeln wollen, dann müssen wir an der Genauigkeit unserer Sprache arbeiten, dann müssen wir uns wieder und wieder bemühen, unsere Trauer, unseren Zorn, unsere Verzweiflung zu übersetzen in Geschichten und Bilder, die nachvollziehbar machen, was diese Normen und ihre Anwendungen bedeuten.“ Wohin führt uns diese Forderung?

CE: Nun, politische und soziale Kritik artikuliert sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachen. Das Bundesverfassungsgericht oder der akademische Diskurs adressieren vielleicht dieselben Strukturen von Diskriminierung, aber in unterschiedlichen Sprachen und mit unterschiedlichen Mitteln.

Man könnte sagen: Was müssen wir da noch lange erklären. Steht doch alles drin im Grundgesetz oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Was braucht’s da noch? Nun, kurioserweise müssen wir dennoch über Jahrhunderte erläutern, wer alles als Mensch zählt. Eben nicht nur weiße, heterosexuelle, christliche, bürgerliche Männer, sondern alle anderen auch.

Der Witz ist doch: Rassisten denken in den seltensten Fälle von sich selbst, dass sie rassistisch denken. Das Perfide an Ideologie ist doch, dass sie sich selbst nicht als Ideologie versteht. Wenn Sie mal einen Skinhead interviewt haben, werden Sie feststellen, dass der Ihnen sagt, warum Juden dreckig seien oder mächtig oder lügen, warum Schwarze minderwertig oder Muslime kriminell seien – aber er wird in den seltensten Fällen diese Ansichten als rassistisch verstehen.

Als Publizistin fühle ich mich verpflichtet, mit sprachlichen Mitteln jene ideologisch aufgeladenen Bilder und Begriffe, jene Assoziationsketten und Vorstellungen aufzubrechen, die Ressentiments gegenüber Frauen oder Homosexuellen, Gehörlosen oder Jüdinnen, Linkshändern oder Schalke-Fans transportieren. Und dazu gehört dann, dass wir normative Begriffe in Erfahrungen übersetzen, dass wir das, was uns wütend oder verzweifelt zurück lässt, verstehbar machen für diejenigen, die diese Erfahrungen nicht teilen. Dass wir Empathie schüren bei denen, die gar nicht mit uns empathisch sein wollen oder bislang schlicht an mangelnder Vorstellungskraft litten. Mangelnde Vorstellungskraft ist ein ebenso mächtiger Widersacher von Gerechtigkeit und Emanzipation wie Ideologie und Ressentiment.

Wir müssen es den Rassisten und Sexisten schwer machen, an ihren Vorstellungen festzuhalten, wir müssen sie bedrängen, indem wir ihnen Begriffe wegnehmen, Bilder wegnehmen, oder sie mit anderen Bedeutungen und Geschichten aufladen, indem wir kreativ und ironisch und ernst und leise uns nicht abbringen lassen davon, unsere Weisen des Denkens und Fühlens und Liebens zu erzählen und zu leben.
Wohin das führt?

Ich weiß noch nicht.

AKM / PIV: Die Frage, die sich hier stellt, ist auch die, von wem erwarten wir zu sprechen? Von wem erwarten wir, Erfahrungen zu übersetzen?

CE: Nur von denen, die es können und wollen.

Das Interview erschien erstmals in feministische studien, Jg. 32, Heft 1, Mai 2014.