„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

„When, if, she grows up”

Die Fotostrecke sprang mich an und hielt mich beim Text. Bilder einer Frau* in langem, leuchtend rotem Gewand, weiße Strähnen im langen dichten Haar, dramatisch geschminkt mit graublauschwarzen Lippen, die Posen theatralisch. Die Kamera fängt sie ein, als würde sie fliegen oder fallen. Sie liegt im Bett, sie thront im Rollstuhl mit Haarkrone und Szepter-Gehstock. Neben, auf, unter ihr eine stattliche Ansammlung von Medikamentenpackungen und ein hoher Stapel Bücher, deren Cover der feministischen Leser*in vertraut erscheinen. „Sick Woman Theory“ betitelt Johanna Hedva, US-amerikanische Schriftsteller*in und Künstler*in mit nordkoreanischer Familiengeschichte, ihre kürzlich online publizierte offensive Selbstpositionierung als chronisch krank, rebellisch und prekarisiert.

Bettlägrig während der Blacklivesmatter-Proteste („Attached to the bed, I rose up my sick woman fist, in solidarity“) streitet sie für einen Begriff von Aktivismus, der eigene Präsenz im öffentlichen Raum nicht zur Voraussetzung hat; ihr Text prangert koloniale und rassistische Geschichte als eingeschrieben in die Krankheitsbiografien nicht-weißer Menschen an und die Logik des Umgangs von Polizei und Psychiatrie mit Frauen* und Schwarzen. Sie beschreibt ihre eigenen physischen und psychischen Erkrankungen und argumentiert schließlich Verletzlichkeit als ein wesentliches Merkmal von Körpern. Manchmal höre die Notwendigkeit von Care nicht einfach wieder auf, auch wenn neoliberale Politik Fürsorgebedarf höchstens als vorübergehende Normabweichung toleriert.

    „The Sick Woman is anyone who does not have this guarantee of care.“
    „The Sick Woman is a black man killed in police custody, and officially said to have severed his own spine.”
    „And, crucially: The Sick Woman is who capitalism needs to perpetuate itself.”

Hedva schließt an die Künstler*in Audrey Wollen an, die in ihrem Projekt „Sad Girl Theory“ die Figur der melancholischen jungen Frau* als kulturelles Zeichen weiblicher Unterdrückungsgeschichte re-inszeniert. In inhaltlicher Nähe zu affekttheoretischen Konzepten der „racial“ und der „postcolonial melancholia“,1)Z. B. Cheng, Anne (2001): The Melancholy of Race. New York; Cvetkovich, Ann (2012): Depression. A Public Feeling. Durham; Gilroy, Paul (2004): Postcolonial Melancholia. New York; Muñoz, José Esteban (2006): Feeling Brown, Feeling Down: Latina Affect, the Performativity of Race, and the Depressive Position. In: Signs, 31, 3, 675–688. fragt Hedva, „what happens to the sad girl when, if, she grows up”.

Endlich mal ans Alter denken?

Politisch rebellische, Paradigmen aufbrechende Analyse ist aus vielen minorisierten Positionen ausgearbeitet: Queer Politics, Crip Theory, Mad Studies, Whiteness-Kritik … Sie alle haben Gesellschaft, Kultur, Subjektivität und nicht zuletzt verschiedene Formen der Ungleichheit radikal neu begreifbar gemacht. Alle diese Ansätze entstanden in großer Nähe zu postmodernem Zweifel an Fortschritts- und Identitätspolitik, verdanken sich sozialen Bewegungen und einer anti-neoliberal orientierten Politik der Allianzen. In ihren besten Versionen verstehen sie sich als feministisch und intersektionell.

Mich, die ich mich als Theoretiker*in und als Aktivist*in crip, queer, antirassistisch und feministisch verorte, sick, sad, mad oder auch frail/debile zu Teilen ebenfalls, immer darauf insistierend, „site“, den geopolitischen Ort, mitzudenken – mich verlangt es nach einem radikalen Zugang zu jener Differenz, für die „age“ (in deutschsprachigen Texten oft: „Alter[n]“) als eine arg ungenügende Bezeichnung erscheint. Ich suche nach einem Analyseansatz, der Lebensalter-Kategorisierungen nicht nur als kulturelle Konstrukte, situierte Narrative und so weiter begreift,2)Z. B. Buchen, Sylvia/Maier, Maja S. (Hg.) (2008): Älterwerden neu denken. Wiesbaden; Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan (Hg.) (2009): Die jungen Alten. Frankfurt – New York; Hartung, Heike et al. (Hg.) (2007): Graue Theorie. Die Kategorie Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Köln; Woodward, Kathleen (1991): Ageing and ist discontents. Bloomington. sondern sie in ihrer Gewaltförmigkeit erkennbar macht. Der sie zugleich verflüssigt und diesen einen Schritt weiterdenkt, der aus Dis/ability Studies Crip Theory werden ließ oder aus lesbischschwuler Analyse Queer Theories. Ein Ansatz, der die unmarkierte Position in ähnlicher Weise herausfordert, wie dies in Whiteness-Kritik geschieht oder im Konzept der „compulsory able-bodiedness“. Der eine Strategie gegen all die ständig aufpoppenden Situationen eröffnet, in denen es für wahrgenommenen Ageismus und seine Verletzungsmacht keinerlei verbindliches Vokabular zu geben scheint.

Queere und postkoloniale Theorien eröffnen Möglichkeiten, haben sie doch Zeitlichkeit re-theoretisiert und Affekten wie „shame“ konzeptionellen Raum gegeben.3)Z. B. Ahmed, Sara (2004): The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh; Edelman, Lee (2004): No Future. Durham; Halberstam, J. Jack (2010): The Queer Art of Failure. Durham. Ihr Interesse an Temporalität bezieht sich auf Schlingern, Zögern, Stolpern. Die queere und entwicklungskritische Bejahung von „failure“ bietet sich zudem als Assoziation an, sobald eine* an den erschreckend gängigen Ausdruck des „erfolgreichen Alter(n)s“ gerät. Ein Text von Elizabeth Kelsey Henry führt „queer time” – „that could grasp the complexities of straight time well enough to not repeat its mistakes, namely a prioritization of the young, the healthy, and the disembodied” (S. 148) – über ins Bild der „wrinkled queer time“.

Durcheinanderbringen, Beugen, Verrunzeln anstatt einer glatten Entwicklungslinie Sad Girl – Sick Woman – Senile Lady* also. Critical Disability/Crip Studies fokussieren ihrerseits auf Körper und Subjektpositionen, die sich dem neoliberalen Imperativ der „Flexibilität“ entziehen, und differente Temporalität ist auch in Crip Theory ganz zentrale Analyseperspektive. Die Derrida‘sche Idee der „de-composition“ hat Potenzial als Form crippen Widerstands; Konzepte wie „debility“ versus „capacity“ schließen hier an.4)Davis, Lennard J. (2002): Bending Over Backwards. New York – London; McRuer, Robert (2006): Crip Theory. New York – London; Puar, Jasbir K. (2009): Prognosis Time: Towards a Geopolitics of Affect, Debility and Capacity. In: Women & Performance, 19, 2, 161 – 172.

Ent-Falten: Elemente einer queer-feministischen „gray theory“

Mich reizt nun allerdings, was queere und crippe Theoretisierungen mit ihrem positiven Besetzen der Zeit-Falten faktisch verdecken. Alter/n als „Chiffre oder Metapher für Strategien der Inszenierung von Temporalität und Wandelbarkeit“:5)Mehlmann, Sabine/Ruby, Sigrid (2010): Einleitung. In: dies. (Hg.): „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ Bielefeld, 15–32 (19). ja, aber mir genügt das nicht; nicht in jener Perspektive, die ich „gray theory“ nenne, da ich mich schlichtweg nicht traue, meine ursprüngliche Begriffswahl „senile theory“ beizubehalten (wer vermöge „senil“ anders denn als Beleidigung zu verstehen?).
Ich schlage vor, dem Potenzial einer „Senilisierung“ neoliberal geprägter Körper, Handlungsweisen und Symbole nachzugehen. Dies müsste, durchaus spekulativ, bedeuten:

Auszugehen ist von der Frage nach der Formierung von Herrschafts- und Machtbeziehungen entlang von Altersmarkierungen, von Kritik an „compulsory anti-ageing“ und an ageistischer Gewalt; zugleich aber vom Begehren des Ausgeschlossenen, von (möglichen) Momenten einer Sehnsucht nach „Senilität“.

Die Perspektive der (Befürwortung von) Senilisierung würde sich mit den Brüchen beschäftigen, die Lebensalter und Alter/n für die Ordnung der Sprache bedeuten, für die Matrix des Erinnerns, für personelle Kontinuität, für Verhaltensregime im Privaten und im Öffentlichen, für gesellschaftliche Abwehr von Unberechenbarkeit.

Anzuknüpfen wäre nicht nur an verwundete weibliche Figuren wie Sad Girls und Sick Women, sondern auch an „starke“ Subjektentwürfe in der feministischen Theorie: Haraways „Cyborg“, Anzaldúas „Mestíza“, Wittigs „Lesbe“; Figuren, die Teresa de Lauretis „exzentrische Subjekte“ nannte.6)De Lauretis, Teresa (1990): Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness. In: Feminist Studies, 16, 1, 115–150; vgl. auch Hacker, Hanna (2014): Körper der Utopie: Feministin, Nicht-Frau, Cyborg, Mestíza. In: Juridikum, 2, 230–239. Diese scheinen keine eindeutige Altersmarkierung aufzuweisen. Vielleicht lassen sie sich als Formen von Wissen deuten, mittels derer kulturelle Zeichen von „Alter“ gelesen werden können.

„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“

Keine Theorie ohne Bezug auf Bewegung, auf Protest und Engagement. In der „Alternsforschung“ wird gern der Begriff des „dis-engagement“ verwendet: der (als adäquat begriffene) Rückzug aus sozialen und „produktiven“ Zusammenhängen. „Zu den Symptomen des Alterns gehört neben der Verlangsamung und dem Rückzug auf gesicherte Gebiete auch ein ökonomisches Verhältnis zur Zeit“, schreibt Silvia Bovenschen und erwidert sogleich, sie habe diesen „Zeitgeiz“ nie leiden mögen.7)Bovenschen, Silvia (2007): Älter Werden. Notizen. Frankfurt/M., 22. Johanna Hedvas Text erscheint über weite Strecken als ein flammendes Plädoyer für inklusiven aktivistischen Protest, verblüfft (mich) am Ende dann aber mit dem nicht unbedingt schlüssigen Statement: „The most anti-capitalist protest is to care for another and to care for yourself.“ Das ist mir zu wenig. Was wäre „senilisiertes“ Engagement? Zwar lässt sich das so allein am Schreibtisch nicht aus-denken. Miteinander können’s Hacker*innen aber vielleicht sogar vom Bett aus.

Fußnoten

Fußnoten
1 Z. B. Cheng, Anne (2001): The Melancholy of Race. New York; Cvetkovich, Ann (2012): Depression. A Public Feeling. Durham; Gilroy, Paul (2004): Postcolonial Melancholia. New York; Muñoz, José Esteban (2006): Feeling Brown, Feeling Down: Latina Affect, the Performativity of Race, and the Depressive Position. In: Signs, 31, 3, 675–688.
2 Z. B. Buchen, Sylvia/Maier, Maja S. (Hg.) (2008): Älterwerden neu denken. Wiesbaden; Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan (Hg.) (2009): Die jungen Alten. Frankfurt – New York; Hartung, Heike et al. (Hg.) (2007): Graue Theorie. Die Kategorie Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Köln; Woodward, Kathleen (1991): Ageing and ist discontents. Bloomington.
3 Z. B. Ahmed, Sara (2004): The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh; Edelman, Lee (2004): No Future. Durham; Halberstam, J. Jack (2010): The Queer Art of Failure. Durham.
4 Davis, Lennard J. (2002): Bending Over Backwards. New York – London; McRuer, Robert (2006): Crip Theory. New York – London; Puar, Jasbir K. (2009): Prognosis Time: Towards a Geopolitics of Affect, Debility and Capacity. In: Women & Performance, 19, 2, 161 – 172.
5 Mehlmann, Sabine/Ruby, Sigrid (2010): Einleitung. In: dies. (Hg.): „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ Bielefeld, 15–32 (19).
6 De Lauretis, Teresa (1990): Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness. In: Feminist Studies, 16, 1, 115–150; vgl. auch Hacker, Hanna (2014): Körper der Utopie: Feministin, Nicht-Frau, Cyborg, Mestíza. In: Juridikum, 2, 230–239.
7 Bovenschen, Silvia (2007): Älter Werden. Notizen. Frankfurt/M., 22.