„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

… Teil drei der Reihe Berlin, Berlin und anderswo

Auf Augenhöhe

Am 9. Februar fand das Gespräch mit dem Vierer Team des Frauenzentrums Schleswig statt. Damit liegt der letzte Besuch einer frauen- bzw. geschlechterpolitischen Einrichtung an meinem neuen Wohnort in der Grenzregion zu Dänemark hinter mir. Verglichen mit der prekären Situation der ‚Internationalen Frauenwerkstatt Saheli’, von der ich im vorigen Blogeintrag berichtete, sind sowohl das Gleichstellungsbüro als auch das Frauenzentrum gegenwärtig institutionell gesichert. Das kommunale Gleichstellungsbüro, weil es eine gesetzlich mehrfach verankerte und vor allem im Gleichstellungsgesetz (GstG) des Landes Schleswig-Holstein inhaltlich definierte Aufgabe erfüllen soll, das Frauenzentrum, weil es in der Arbeitsteilung der verschiedenen Einrichtungen in Stadt und Landkreis wichtige Problemfelder abdeckt. Ein für mich erstaunliches Zeichen von Kooperation auf Augenhöhe: Das Frauenzentrum, eine Gründung aus den frauenbewegten 1970er Jahren, ist laut Bericht der Gleichstellungsstelle berechtigt, die städtische Gleichstellungsbeauftragte bei Abwesenheit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu vertreten. Aus großen Städten kenne ich so etwas nicht.

Die Schleswiger Gleichstellungsbeauftragte, Karin P.-N. macht einen patenten, aufgeschlossenen Eindruck. Von Haus aus Erzieherin und Diakonin hatte sie sich vor rund 15 Jahren auf die neu eingerichtete Stelle beworben, weil sie das Aufgabenfeld interessierte und sie sich beruflich mit einer Vollzeitstelle verbessern konnte. Engagiert erzählt sie von den verschiedenen Facetten ihrer Arbeit, dem learning by doing in und durch Praxis, den Anregungen, die sie aus dem vergleichenden Blick über die Grenze nach Dänemark gewinnt, von den Vorteilen der Übersichtlichkeit und der „kurzen Wege“ in einer Kleinstadt, die vieles erleichtern.

Die gegenwärtige Stimmungsmache gegen den vermeintlichen  ‚Genderismus’ und die Überbürokratisierung durch zu viele Gleichstellungsbeauftragte hält sie von sich aus nicht für erwähnenswert. Anstatt des Gegenwinds, bei dem man die Segel anders setzen kann, um vorwärts zu kommen, befürchtet sie eher die Gefahren einer Flaute. Und die droht von anderswo her: So sieht Karin P.-N. in Sparzwängen der Kommunen und in zeitlichen Verdichtungen der Arbeit Entwicklungen, die tendenziell die Bereitschaft tangieren, sich zusätzlich mit gleichstellungspolitischen Themen zu befassen. Vor allem der Bürokratievorwurf und der Verdacht der ‚Doppelarbeit’, wenn sie mit ihrer Querschnittsaufgabe in den Leistungsbereich anderer Abteilungen oder Beratungseinrichtungen gerät, seien bedenklich, da sie bei politischer Opportunität gegen ihre Arbeit ins Feld geführt werden können. Der gesetzliche Auftrag ist unter solchen Bedingungen, so sagt sie, immer noch ein starkes Argument.

Karin P.-N. hat mir ihren Jahresbericht 2012/13 zu lesen gegeben, der Auskunft gibt über ihre Tätigkeit in jenem Jahr. Neben allgemeiner Beratung zu Themen wie flexible Arbeitszeiten, Wiedereinstieg in den Beruf oder Konflikte am Arbeitsplatz, z.B. Mobbing, spielt vor allem Aufklärungsarbeit eine Rolle, die wesentlich in Form von Vorträgen stattfindet, die sie in Gremien, Einrichtungen und Vereinen hält. Zurzeit bestehende Arbeitskreise, in denen spezifische Themen bearbeitet und Problemlösungsvorschläge entwickelt werden, sind u.a. der Arbeitskreis Alleinerziehende und interessierte Frauen, die AG Arbeitswelt, die AG Familientag und die AG Kinderarmut im Bündnis für Familie in der Region Schleswig-Flensburg. Die Umsetzung von Gender Mainstreaming auf der kommunalen Ebene ist ein zentrales Thema. So wurde in der Gleichstellungsstelle ein Gender-Leitfaden für die Kindertagesstätten erstellt und praktisch erprobt: alle städtisches Kitas nahmen an einer Schulung teil zu „Gender im Kita-Alltag.“ Damit ‚übersetzt’ Frau P.-N. Vorgaben aus den Bildungsleitlinien des Landes Schleswig-Holstein für Kindertagesstätten, in denen die Gender-Problematik einen wichtigen Baustein darstellt, in Praxisfelder der kommunalen Verwaltung. Solche ‚Übersetzungen’ genauer kennenzulernen, die in den verschiedenen geschlechterpolitischen Kontexten unterhalb der Ebene gängiger Pauschalcharakterisierungen von ‚Theorie’ und ‚Praxis’ stattfinden, ist für die Selbstreflexion feministischer Theorie meines Erachtens unverzichtbar.

Praxis mit und ohne Theorie

Im Tätigkeitsbericht ist auch das Anforderungsprofil der städtischen Gleichstellungsbeauftragten aufgeschlüsselt. Neben den allgemeinen Qualifikationen und Fähigkeiten, die für Managementaufgaben gefordert sind, findet sich ein Punkt „frauenpolitische Kompetenz“. Sie besteht aus den Elementen: „Frauenspezifische Interessenvertretung/Parteilichkeit, Engagement in Politik, Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen; Kenntnisse der Geschichte und der Positionen der Frauenbewegung, Fähigkeit zur feministischen Geschichtsanalyse, Gender Kompetenz; Kenntnis frauenrelevanter Gesetzeswerke.“ Haltungen, Aktivitäten, Erfahrungen, Kenntnisse und reflexives Vermögen sind in diesem Profil locker zusammengeführt. Die bewegungsgeschichtlichen Zerreißproben, die sich hinter den Komponenten „frauenspezifische Interessenvertretung/Parteilichkeit“ und „Gender Mainstreaming“ verbergen, erscheinen hier aufgehoben, bzw. der Praxis überlassen. Das erinnert mich wieder an einen Satz des holländischen Phänomenologen und Psychologen J.H. Van den Berg, der gesagt hat: „Wir leben beständig eine Lösung der Probleme, die für das Denken hoffnungslos unlösbar sind.“ Wie aber werden im ‚gelebten Leben’, wie es sich etwa in der Praxis eines Gleichstellungsbüros darstellt, die Probleme, wie sie das Denken gefasst und Sprache bezeichnet hat, bearbeitet? Und welches Denken bzw. ‚Wissen’ hat die Probleme als solche bestimmt?

Zweifellos sind in die Problemdefinitionen, in deren Horizont Karin P.-N. arbeitet, über die sie Vorträge hält oder die sie in Form von Schulungen umsetzt, feministische Einsichten und Befunde der Frauen- und Geschlechterforschung eingeflossen. Wie vermittelt auch immer. Im Glossar, das den Tätigkeitsbericht der Gleichstellungsbeauftragten abschließt, finden sich kurze, prägnante Erläuterungen zu den Stichworten „Antidiskriminierung/Diskriminierung“, „Feminismus“, „Frauenquote“, „Gender“, „Gender Mainstreaming“, „Gender Pay Gap“, „Gleichstellungspolitik“, „Gender-Kompetenz“ und „Geschlechterforschung/Gender Studies“. Auch in diese Erläuterungen fließen Einsichten aus dem wissenschaftlichen Diskurs ein. Dennoch sagt sie in unserem Gespräch, dass Geschlechterforschung und feministische Theorie in ihrer täglichen Arbeit keine Rolle spielen würden. Aktuelle Ergebnisse empirischer Forschung nähme sie schon mal zur Kenntnis, aber „am liebsten in einer Kurzzusammenfassung.“ Gelegentlich, so die Antwort auf meine Nachfrage nach feministischer Theorie, würden studentische Praktikantinnen Impulse aus dem akademischen Diskurs ins Spiel bringen. So zum Beispiel die Diskussionen um geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Sprache. Gefragt, welche der im Umlauf befindlichen Varianten sie verwendet, ob Binnen-I, Unterstrich, Sternchen oder anderes, antwortet sie, dass es darum gehe, Frauen überhaupt erst einmal sichtbar zu machen und dass sie männliche und weibliche Sprachformen verwendet. Die konstruktivistische Grundlagendiskussion über die Verdinglichung der Zweigeschlechtlichkeit, etwa durch Gender Mainstreaming, ist für sie – anders, als die kritische Reflexion von Geschlechterstereotypen, die Frauen und Männern zuschreiben, wie sie sind und was sie zu tun und zu lassen haben – sehr weit weg. Das Thema Intersektionalität, das ich als Beispiel für die jüngere feministische Theoriediskussion bringe, übersetzt sie spontan in die Formel des „ganzheitlichen Denkens“, in dem sie geübt sei: „Als Diakonin konnte ich von den jeweiligen unterschiedlichen Lebensbedingungen auch nicht absehen. Das ist für mich selbstverständlich.“ In einem Punkt wird Wissenschaft für sie allerdings aktuell bedeutsam: als geplante Begleitforschung eines Experiments in der Leitung des städtischen Bauamts. Nachdem die bisherige Leiterin wegen der Geburt eines Kindes auf Teilzeitarbeit gewechselt hat, soll das Amt in einer Zweierbesetzung mit einer weiteren Frau in Teilzeit, d.h. ‚familienfreundlich’, geführt werden. Da es sich um den ersten Versuch dieser Art in Norddeutschland handelt, der zudem, angesichts enormer Herausforderungen in der Stadtentwicklung, nicht unumstritten ist, liegt ihr das Gelingen des Projekts und seine Akzeptanz besonders am Herzen. Da erhofft sie von der Wissenschaft empirisch gestützte Belege für den Sinn und die – erwarteten – positiven Wirkungen des Experiments.

Von Frauen für Frauen

Während kommunale Gleichstellungsbüros, wenn auch erkämpft durch Engagement ‚von unten’, strukturbezogene Aufgaben auf der Führungsebene der Kommunalverwaltung wahrnehmen und insofern (zumindest auch) top down agieren, repräsentieren Einrichtungen wie das Frauenzentrum Schleswig e.V. inhaltlich und institutionell noch ein Stück der autonomen Tradition der Frauenbewegung: dem Selbstverständnis nach feministisch geprägt, mit dem Ziel des empowerment von Frauen und einer nicht-hierarchischen Teamstruktur. Aber seit den Anfängen in den frauenbewegten Selbsthilfegruppen und der Notrufarbeit der 1970er Jahre hat sich auch Vieles verändert. Einige Stichworte und Zahlen spiegeln die Geschichte des Zentrums als eine der Ausweitung, Konsolidierung und vor allem zunehmender Professionalisierung: Seit 1979 ist das Frauenzentrum Schleswig als gemeinnütziger Verein eingetragen. Seit 1989 ist die Frauenberatungsstelle bei häuslicher und sexueller Gewalt in der Trägerschaft des Vereins, seit 1995 die Schwangerschaftskonfliktberatung und schließlich seit 2000 auch KIK Schleswig-Holstein, ein Kooperations- und Interventionskonzept für alle Institutionen und Einrichtungen, die mit häuslicher Gewalt befasst sind. Seit März 2000 unterstützt zudem ein Förderverein die Arbeit des Frauenzentrums, das finanziert wird aus Landes- und kommunalen Mitteln sowie aus Eigenmitteln des Vereins.

Das Team des Frauenzentrums besteht zurzeit aus drei Frauen, die ein sozialpädagogisches Studium absolviert und Zusatzqualifikationen im beraterischen und sozialtherapeutischen Bereich erworben haben, sowie einer Verwaltungskraft. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt, was sich auch in der Verteilung der Stundenkontingente ausdrückt, im Feld von Frauenberatung bei sexualisierter Gewalt/Notruf/KiK, aber auch die Schwangerenkonfliktberatung nimmt breiten Raum ein. Dass das Frauenzentrum bei finanziellen Notlagen Gelder aus der Bundesstiftung „Mutter und Kind“ verteilen kann, gibt diesem Bereich zusätzliches Gewicht. In der Einschätzung von Monika S., die dem Zentrum am längsten angehört, ist es dieses Doppelprofil und die im Lauf der Zeit erworbene Professionalität, die zu der hohen Akzeptanz beigetragen hat, die das Frauenzentrum in Schleswig genießt. Hätte man früher bei der Thematisierung sexualisierter Gewalt schon mal gehört: „Sowat givt dat bi uns nich“, würde heute die Notwendigkeit ihrer Arbeit doch weitgehend eingesehen. Dieser Wandel, in dem sich Wirkungen feministischer Kritik niederschlagen, ist positiv, aber Monika S. und ihre Mitstreiterinnen beobachten auch Veränderungen der Rahmenbedingungen, die sich erschwerend auswirken. Da ist zum einen der demographische Wandel; die Mitglieder- und Altersstruktur des Vereins verschiebt sich. Mit wachsendem Alter schwinde nicht nur tendenziell die Bereitschaft zur aktiven Teilhabe, auch die biographisch frauenbewegten Impulse gingen dem Feld allmählich verloren. Dem entsprechen Veränderungen auf der Seite der Beratung suchenden Frauen, wie Isabel C. registriert: „Die Politisierung des persönlichen Leids ist zurückgegangen“, dies gelte vor allem für junge Frauen, die kein Bewusstsein von Benachteiligung mehr hätten. Damit würden sich auch die Anforderungen an Beratung verändern.

Wie die Gleichstellungsbeauftragte sagen auch meine Gesprächspartnerinnen vom Frauenzentrum, dass feministische Theorie und Geschlechterforschung in ihren Arbeitsalltag wenig Raum haben: „Sie stellen aber trotzdem eine elementare Basis unserer parteilichen Frauenarbeit dar.“ Im Studium haben sich sowohl Heidi T., die „Neue“ im Team, als auch Isabel C. gezielt mit feministischen Problemstellungen befasst. Isabel C., deren Diplomarbeit Positionen in der feministischen Sprachforschung vergleichend diskutiert, führt vor allem „Zeitmangel“ als Grund für die Entfernung zum wissenschaftlichen Diskurs an. Von größerer Bedeutung seien da Fachkonferenzen und aktuelle Auswertungen von Studien wie z.B. die Analyse von Strafverfahren gemäß § 177 StGB (Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung), die sowohl den politischen Auftrag als auch die individuelle Beratungstätigkeit beeinflussen. Kontroversen in ihrem Feld, die vor allem bei Treffen im Netzwerk der Frauennotruftreffen (FNT) oder dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Notrufe (bff) ausgetragen werden, dem sie angehören, beziehen sich auf die Interpretation des Auftrags und der Zielgruppe ‚Frauen’: Schließt sie auch Transfrauen ein und sollen männliche Opfer sexualisierter Gewalt einbezogen werden? Hierzu gibt es im Netzwerk unterschiedliche Auffassungen. Für Isabel C. stehen „postmoderne“ Theorie und die Diskussion um Gender und Diversity für eine Entwicklung, die wegzuführen droht von der feministischen, frauenpolitischen Agenda, die ihre Sache ist.

Antifeministische und antigenderistische Strömungen sehen auch die Zentrumsfrauen gegenwärtig nicht als direkte Bedrohung für ihre Arbeit. Die Gefahr einer Delegitimierung komme eher, und auch darin stimmen sie mit Karin P.-N. überein, im Gewand scheinbar rationaler Sachargumente. Der Vorwurf einer „Doppelstruktur“ könne, wenn die politische Stimmung kippt und Mehrheitsverhältnisse sich verschieben, die Akzeptanz eines Ansatzes tangieren, dem es vor allem darum gehe, die betroffenen Frauen zu unterstützen und zu stärken, gegenüber den Paarberatungsansätzen anderer Einrichtungen (z.B. Diakonie und pro familia).

Meine Stippvisiten der frauen- bzw. geschlechterpolitischen Einrichtungen in der nördlichen Provinz beanspruchen nicht, systematische Einblicke zu geben. Es sind Impressionen, die zum Weiterfragen anregen können. Davon auszugehen, wie vielleicht die Überschrift über dieser kleinen Blogserie nahelegt, dass die wahrgenommene Irrelevanz feministischer Theoriebezüge im Arbeitsalltag Symptom einer Ungleichzeitigkeit zwischen ‚Berlin’ und ‚anderswo’ wäre, würde unterstellen, dass die Taktgeber eines avancierten Bewusstseins im großstädtischen Zentrum zu vermuten seien, nicht in der ländlichen Peripherie. Das denke ich nicht. Die Verhältnisse und Kommunikationswege sind viel komplizierter. Ich gehe auch nicht davon aus, dass kritische Theorien per se über höhere Einsichten verfügten und dass sie deshalb in – selbstverständlich ebenfalls kritische – Praxis „umzusetzen“ wären. Gegen die simplifizierenden Annahmen eines solchen ‚Umsetzungsmodells’ könnte die erklärte Randständigkeit des Theoriediskurses durchaus eine sowohl praxisadäquate als auch kritische Antwort sein. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass in die jeweiligen Praxen viel an geschlechtertheoretischen Deutungen eingeflossen ist und dass theoriebasierte Praxisreflexion gerade angesichts der in den Gesprächen selbst beschriebenen Veränderungen unverzichtbar ist. Historisch und strukturell haben beide etwas miteinander zu tun, sind aufeinander verwiesen – aber offenkundig sieht die Beziehung heute anders aus als früher, in den Hochzeiten des „magischen Vierecks“ mit seinen relativ überschaubaren Öffentlichkeiten und Perspektivierungen. In meinem nächsten und letzten Blogeintrag will ich dem noch einmal nachgehen.

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