„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Die Zeitschrift feministische studien feiert in diesem Jahr ihren vierzigsten Geburtstag. Vierzig Jahrgänge, achtzig Ausgaben, mehrere Hundert Aufsätze, Rezensionen, Tagungsberichte, Gespräche, Interviews und Berichte zu feministischer Theorie und Frauen- und Geschlechterforschung quer durch alle Disziplinen. Das Jubiläumsheft Woher wir kommen (Heft 1_2022) wird in den nächsten Tagen ausgeliefert; das Heft 1_2023 wird sich komplett der Frage des feministischen Erinnerns widmen. Parallel begleiten wir das Thema auf unserem Blog. Den Auftakt macht ein Beitrag von Dorothea Besch, Andrea Hund und Ilona Scheidle zur neuen baf-bewegungskarte, die dazu einlädt, der Geschichte der Neuen Frauenbewegung in Baden-Württemberg zu folgen.

Die „baf-Bewegungskarte“ macht Frauen*LesbenInitiativen und Einrichtungen seit der Neuen Frauenbewegung topographisch sichtbar

Von Dorothea Besch, Andrea Hund und Ilona Scheidle 

Das Bildungszentrum und Archiv für Frauengeschichte Baden-Württembergs e.V. (baf) hat im Rahmen eines Projektes sein Archivmaterial so aufbereitet, dass Kerndaten zu baden-württembergischen Frauen*initiativen, -organisationen und
-vereinen digital sichtbar auf einer Online-Landkarte erscheinen. Damit ist baf eines der ersten feministischen Archive der Bundesrepublik Deutschland, das Frauen*Lesbengeschichte(n) in dieser räumlichen und zeitlichen Form bewahrt und sichtbar macht. Die „baf-Bewegungskarte“ erlaubt es, feministische Akteur*innen in ihrer Vielfalt im Netz aufzufinden. Dafür wurden Quellen aus dem baf-Archivbestand für die baf-Bewegungskarte aufbereitet und die Akteurinnen als Handelnde ihrer jeweiligen Geschichte visualisiert. 

Seit Dezember 2021 ist die baf-Bewegungskarte online zugänglich. 431 Frauen*Lesbeninitiativen, -organisationen und -vereine sind somit recherchierbar.

Jede Fraueninitiative symbolisch als ‚Venuszeichen‘ in der Karte sichtbar 

Das Konzept der Bewegungskarte ist so einfach wie komplex: baf verzeichnet sein Archivmaterial, filtert aus diesem Datenbankinhalt Fraueninitiativen heraus und markiert sie in einer baden-württembergischen Landkarte. Jede Initiative wird mit Hilfe eines Frauen- oder ‚Venuszeichens‘ auf der Landkarte symbolisiert und verweist so auf den Wirkungsort. Da Gruppen gerade in der autonomen Frauenbewegung oft eine bewegte Eigengeschichte mit mehreren Aktionsräumen aufweisen, erscheint auf der Karte der letzte im baf-Archiv nachgewiesene Wirkungsort. 

Die baf-Bewegungskarte ist allerdings mehr als eine deskriptive, bunte ‚Erfolgsanzeige‘ – sie ist vielmehr ein strukturiertes Recherche-Instrument mit drei Bereichen:

  1. Auf der Landkarte werden Kerndaten der Initiativen angezeigt, die nach Belieben gezoomt werden können. So ist es möglich, Fraueninitiativen zu lokalisieren, ‚Ballungszentren‘ der Frauenbewegungen zu erkennen oder Initiativregionen zu entdecken. Mit dieser geografischen Perspektive können Aktivitäten der Neuen Frauenbewegung langfristig und datengestützt beleuchtet werden, sodass ein Zusammenspiel von ländlichen und städtischen Regionen für die soziale Bewegungsforschung valide gefasst werden kann. 
  2. Im Bereich rechts von der Bewegungskarte finden sich die Recherchetools und Filtermöglichkeiten: Suchen nach Sachgruppen und Schlagwörtern, Freitextsuche, chronologisch mit Hilfe eines Zeitstrahls oder Recherchen nach sieben definierten zeitlichen (Aktions-) Phasen ermöglichen gezielte inhaltliche Fragestellungen. 
    Mit der Freitextsuche kann zudem nach Gruppennamen, Orten und Schlagwörtern gesucht werden. Über 16 Sachgruppen können die Wirkungsbereiche der Initiativen thematisch fokussiert abgefragt werden.
  3. Die so erzielten Ergebnisse listen in Kachelform Kerndaten der recherchierten Fraueninitiativen und den aktiven Link zur Liste des baf-Archivmaterials im META-Online-Katalog auf.

Rund 84 laufende Meter Archivgut wurden dafür aufbereitet 

Rund 84 laufende Meter Archivgut aus dem baf-Archiv standen für den Datentransfer bei der Recherche nach Fraueninitiativen zur Verfügung. Eine differenzierte Rubrizierung des Archivmaterials im baf-Datenbanksystem war Grundlage dafür, selbst aus heterogen aufgebauten Verzeichnungseinheiten konsistente Angaben für die baf-Bewegungskarte aufzubereiten. 

Das Projektteam hat so für die Bewegungskarte ein digitales Vorgehen entwickelt, mit dem der Datentransfer zwischen dem baf-Archivbestand, dem Online-Katalog META und externen Diensten gesichert gewährleistet wird, damit die baf-Bewegungskarte als interaktives Rechercheinstrument ‚funktioniert‘.

Jede Ergebniskachel erzählt eine Bewegungsgeschichte 

Jede Ergebniskachel zeigt die Kerndaten einer Initiative an: Name, Laufzeit laut Archivbestand und Wirkungsort. Zwei Begriffe aus 16 Sachgruppen und maximal drei Schlagwörter des feministischen Thesaurus beschreiben das jeweilige Tätigkeitsfeld. Ein Link zum Online-Recherchekatalog META führt direkt zur Liste des baf-Archivmaterials und eröffnet weitergehende Recherche-Möglichkeiten – etwa um einen Archivbesuch vorzubereiten.

Zur gezielten Suche können extra entwickelte Filter für Zeit, Freitext und Sachgruppen ein- und ausgeschaltet und miteinander kombiniert werden. Die ‚Venuszeichen‘ als Symbole der Fraueninitiativen bewegen sich dann ähnlich einem Videofilm über die Fläche der Landkarte und lassen die Hoch-Zeiten und ‚Ballungszentren‘ der feministischen Bewegungen erkennbar werden. Mit Blick auf eine frauenpolitische Landesgeschichte und einem spezifisch entwickelten inhaltlich strukturierten Sieben-Phasen-Modell bietet der Filter „Sieben Phasen der Neuen Frauenbewegung“ eine Chronologie. 

Die baf-Bewegungskarte verortet damit Materialien aus 70 Jahren baden-württembergischer Frauengeschichte, beginnend mit der Gründung des Bundeslandes 1952 bis zum Projektende 2022. 

Die baf-Bewegungskarte zeigt Frauen*geschichte(n) und schafft feministisches Wissen als Prozess 

Selbstverständlich präsentieren die im Rahmen des Projekts ermittelten Fraueninitiativen lediglich einen Teil der noch zu erzählenden Geschichte der Neuen Frauenbewegungen im Land. Die baf-Bewegungskarte möchte ihre bessere Sichtbarkeit unterstützen und dazu anregen, weitere Geschichten zu finden und zu sichern. Weil nun visuell deutlich wird, wo sich bereits Wissen zu Initiativen häuft, sollen weitere Sammlungen für das Archiv angeregt werden. Ziel ist es, in jedem Landkreis, an jedem Ort per Mausklick die lokalen Frauen*aktivitäten an ihren Wirkungsorten anzuzeigen. Technisch können die Filterangebote sogar kombiniert werden, so dass Treffer und Ergebniskacheln eigene Bewegungsgeschichten erzählen.

Wer etwa nach Fraueninitiativen, die zum Thema Gewalt an einem bestimmten Ort aktiv waren/sind, sucht, muss im Freitextfeld zunächst den Ort benennen und dann die Sachgruppe „Gewalt“ im Bereich Recherche aktivierten. Das Ergebnis erscheint als Zahlenangabe, im Bereich Ergebniskachel wie auch auf der Landkarte. 

Für „Heidelberg“ werden so beispielsweise drei Initiativen gezeigt, deren Kerndaten auf der Landkarte und im Bereich Ergebniskacheln erscheinen. 

Erweitert man die Suche auf die gesamte Landesfläche werden 67 Initiativen angezeigt. Sucht man Initiativen zum Thema „Gewalt“ aus einer gewissen Zeit, wird die entsprechende(n) Zeitphase(n) aktiviert. Für die Zeit 1976 bis 1980 sind so zwölf Treffer in Baden-Württemberg zu finden, erweitert um die Phase 1981 bis 1989 werden insgesamt 35 Treffer für Frauen*LesbenInitiativen gelistet, die sich mit dem Thema „Gewalt“ beschäftigen.

Die baf-Bewegungskarte ist ein Projekt, das aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg (MWK) ermöglicht wird. Für die Verstetigung des wegweisenden Recherche-Instrumentes sind weitere Fördermittel unabdingbar, auch um feministisches Wissen nachhaltig und niederschwellig im öffentlichen Bewusstsein verfügbar zu halten.