„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Man glaubt es kaum. In den letzten Augustwochen 2015 trommelt die Bildzeitung für Flüchtlingshilfe – bisheriger Höhepunkt: 24. August, Titelseite, „Wir helfen“ – und Meinungsumfragen registrieren 60% Zustimmung für eine Willkommenskultur. Die Neo-Nazis sind auch nicht tatenlos, aber es scheint sich ein zivilgesellschaftlicher und politikoffizieller Konsens abzuzeichnen, dass ihnen mit der Härte der Justiz begegnet werden soll. Welch ein Unterschied zu den frühen Neunzigern und der rechten Mob-Gewalt von Rostock, Hoyerswerda und Mölln sowie der durchaus nicht klammheimlichen Mitläufer-Freude und dem damaligen kompletten Politikversagen!

Ist die Nation also in so kurzer Zeit besser, humaner, bürgerschaftlicher geworden? So gern ich das auch glauben möchte – und möglicherweise ist auch etwas davon tatsächlich der Fall, denn real stattfindende soziale Prozesse haben auch immer einen performativen Charakter – so denke ich doch, das die Entwicklungen zum großen Teil Effekten komplexer nationaler Selbstfindungsprozesse zu verdanken und wahrscheinlich nicht nachhaltig sind. Die im Folgenden zu schildernden Effekte haben etwas mit dem besonderen deutschen Verhältnis von Schuld und Schulden zu tun, welche die Post-Holocaust Nation in einem ständigen Wechsel von negativen und positiven Exzessen, die ich hier ‚Exzeptionalismen‘ nenne, mit sich trägt.

Insofern möchte ich mit der These beginnen, dass diese ‚Neue Deutsche Ethik der Globalen Solidarität‘ in der Flüchtlingsfrage unmittelbar mit der Austeritätspolitik gegenüber der Griechenland-‚Rettung‘ verbunden ist. Die neue Willkommenskultur antwortet auf den katastrophalen Imageeinbruch, den die wirtschaftliche Arroganz und engherzige Haltung Deutschlands gegenüber Griechenland in der internationalen Öffentlichkeit zeitigte. Um diese These zu begründen, möchte ich ein paar wenige, aber besondere Stränge der Geschichte der ‚westlichen‘ Bundesrepublik ab 1945 herausgreifen und komme dabei auf ihre nicht nur von Hanna Arendt sowie Margarete und Alexander Mitscherlich vielfach bezeugte „Unfähigkeit zu trauern“ zurück. Insbesondere Frauen fühlten sich zu dieser Nicht-Haltung berechtigt, da sie sich als Opfer eines männerdominierten Faschismus verstehen wollten. Mit dieser Rechtfertigungs-Legende hat Christina Thürmer-Rohr 1983 mit ihrer Komplizinnen-These aufgeräumt – nachzulesen im Beitrag „Der Feminismus und das Kassandra-Snydrom“ in den feministische studien 1/2013.

Nicht zuletzt die Studentenbewegung trug dazu bei, dass aus dieser Verdrängung eine große Schuldanerkennung und ein darauf folgendes Narrativ der Faschismus-‚Bewältigung‘ geworden ist. Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache ist nachzulesen, dass das Wort Bewältigung meine, etwas „in Gewalt bringen, eine Sache beherrschen“, aber auch „mit einer Sache fertig werden“. Der Doppelcharakter des gewaltsamen Beherrschungsversuches und des Loswerdenwollens sollte fortan zu einem Grundmotiv deutscher Selbstwahrnehmung werden. Aus der großen Verdrängungsnation wurde mittels des Bewältigungs-Narrativs nach und nach eine große Sühnenation. Der Holocaust gerann zu einer Art von negativem Gründungsmythos. (Narrativ: ‚Wir sind die einzige Nation, die sich ihrem genozidalen Verhalten gestellt hat im Gegensatz zu Japan, der Türkei und anderen).

Dieser Buß-Exzeptionalismus leistete bedauerlicherweise auch der Überzeugung Vorschub, dass mit der Vergangenheits-Bewältigung auch jeder Rassismus bewältigt sei. Dieser Irrtum führte zu einer neuen Großverdrängung, nämlich dass das Ressentiment gegen die ins Land gerufenen Arbeitsmigranten nichts mit Rassismus zu tun haben könne. Kulturalistischer oder differenzialistischer ‚Rassismus ohne Rassen‘ wurde nicht als solcher erkannt und ebenfalls verdrängt. Auch hier entwickelte sich im Schlepptau der Studentenbewegung und ihrer Vorstellung von ‚internationaler Solidarität‘ ein Gegendiskurs auf der Alltagsebene, den man mit Feridun Zaimoglou ‚romantischer Multikulturalismus‘ nennen könnte, und der ein hedonistisches und am Ferntourismus orientiertes buntes Bild vom fernen Anderen entwarf. Das leistete dem Gefühl Vorschub, zumindest die jüngere Generation habe die ‚Fremdenfeindlichkeit‘ überwunden/bewältigt.

Diese Euphorie fand jedoch wiederum ihre Grenze in dem heimischen ‚Fremden‘, also der inzwischen ansässigen Arbeitsmigrationsbevölkerung, insbesondere an ihrem muslimischen Teil. Ein ‚enttäuschter Multikulturalismus‘ beklagte deren ‚rückständige‘ Sitten. Man glaubte, eine angebliches muslimisches Patriarchat, die sexuelle Unterdrückung der ‚verschleierten‘ Frau und Diskriminierung von Homosexuellen zu identifizieren. Die Besonderheit und Aufgeklärtheit der deutschen (und westeuropäischen) Nationen wurde durch die (sexuelle) Emanzipation ihrer Frauen und Homosexuellen gekennzeichnet. Insofern wäre nach einem Buß-Exzeptionalismus auch von einem Sexuellen Exzeptionalismus zu sprechen, der vom linksliberalen Feuilleton bis zum Rechtpopulismus Fuß gefasst hat. Die schulterklopfende Selbstversicherung sexueller Freiheit ist ein vergleichsweise preiswertes Distinktionsmerkmal für Zivilisationsüberlegenheit im Zeitalter neoliberaler Armutsproduktion.

In diesem Zusammenhang sollte man den dritten deutschen ‚Exzeptionalismus‘ verstehen, den ich nach dem büßenden und dem sexuellen den Fiskalischen Exzeptionalismus nennen möchte. Das Überlegenheitsnarrativ in der Griechenlandfrage lautete: ‚Wenn ihr nicht so gut wirtschaften und verwalten könnt (wie wir das erfolgreich tun) müssen wir ihr Euch unter Kuratel stellen‘. Oder anders ausgedrückt, ‚wenn wir ‚zu Hause‘ politisch versuchen, die neoliberale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben politisch abzumildern, heißt das nicht, dass wir sie nicht im globalen Rahmen durchsetzen‘. Verschleiert wurde diese Politik mit der Botschaft, dass wir ‚denen‘ ja Milliarden von ‚unserem‘ Geld geben, verschwiegen wurde dabei, dass dieses Geld hauptsächlich auf Umwegen zur Rettung ‚unserer‘ Banken verwendet wurde.

Als Schock wurde dann erlebt, dass Griechenland mit Forderungen nach milliardenschweren Kriegsreparationen reagierte. Diese glaubte man mit den Wiedervereinigungsverträgen erledigt zu haben. Weiterhin war das verheerende internationale Echo auf die deutsche Austeritätspolitik fast immer begleitet von verbalen oder bildlichen Verweisen auf den NS. D.h. die abstrakte ‚Größe‘ der deutschen Schuldanerkennung wurde nicht honoriert, sondern auf unerledigte alte Schuld und Schulden verwiesen. Und damit sind wir bei der ungewöhnlichen und in der Sache sehr begrüßenswerten Neuen Deutschen Globalen Solidarität angekommen, jedenfalls dieser gegenüber Kriegsflüchtlingen. Sie kann, wie oben bereits angedeutet, als Antwort auf die kränkende Fremdwahrnehmung, die auf den faschistischen Schuld/Schuldenkomplex zurückgreift, gelesen werden. Das trotzige Gegen-Narrativ lautet dann folgendermaßen: ‚Wenn wir als geizig und nationalborniert verschrien werden, zeigen wir uns jetzt großzügig und weltoffen in der Flüchtlingsfrage.‘ Natürlich großzügiger und weltoffener als alle anderen.

Die deutschen Exzeptionalismen korrespondieren in gewisser Weise mit der Größe der NS Verbrechen. Deren Ungeheuerlichkeit hat auch eine ungeheure Energie der Selbstentlastungsversuche hervorgebracht. Deutsche Zeitgeist-Reaktionen haben oft, wie international ja mit der Wortschöpfung ‚German Angst‘ schon lange diagnostiziert wird, einen gewissen monomanischen Charakter. Wenn es, wie in der Flüchtlingsfrage zu sehen, zur Zeit zu außergewöhnlichen zivilgesellschaftlichen und politischen Anstrengungen eines humanitären Projekts führt, ist mir das mehr als recht. Man sollte nur nicht glauben, es mit einer langfristigen ethischen Revolution zu tun zu haben. Außerdem gilt auch hier, dass es keine neue Diskursbildung ohne Ausschlüsse gibt. Die Flüchtlinge aus dem West-Balkan werden das bald zu spüren bekommen.