„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Als 2004 die Fotografien der Folterungen irakischer Gefangener aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib die westliche Medienöffentlichkeit erreichten und anschließend Al Qaida-Angehörige Enthauptungsvideos westlicher Zivilist_innen im Internet posteten, überschlugen sich westliche Diskussionen um eine Ethik des Visuellen in Zeiten „islamistischen Terrors“: Wie mit Bildern umgehen, für deren Herstellung Menschen gefoltert und getötet wurden? Was bedeutet es für eine visuelle Kultur, wenn nicht nur Folterungen und Enthauptungen, sondern die massenmedialen Darstellungen dieser Gewalthandlungen politische Strategien sind? Was tun, wenn „Bilder als Waffen“ definiert werden? Sollen solche Bilder dann offiziell gezeigt werden oder nicht?

Judith Butler schrieb über die Folterfotografien, zeigte sie aber aus ethischen Gründen nicht; ich schrieb ebenfalls darüber, plädierte jedoch – auch Judith Butler gegenüber – für eine ethische Rahmung des Zeigens. Denn ihre Überlegungen zur Gefährdetheit des Lebens eignen sich nicht nur, intensiv über eine Ethik des „Mit“ am Menschlichen nachzudenken (Jean-Luc Nancy), sondern auch, um die Rolle ‚gefährlicher’ Sichtbarkeitsverhältnisse deutlicher zu berücksichtigen als bislang geschehen. Denn Bilderregulierungen zielen auf Affektregulierungen; sie regulieren die Bedingungen für ethische Ansprechbarkeit ebenso wie Machtverhältnisse wiederum Strategien des (Nicht-)Zu-sehen-Gebens gestalten. Westliche Debatten der Visual Culture Studies – wollen sie kritisch in visuelle Regierungstechnologien hineinwirken – sollten deshalb die binären Paarbildungen Betrachten/Zeigen=Gewalt und Nicht-betrachten/zeigen=Gewaltlosigkeit, bilderloses Trauern versus trauerloses Zeigen stärker überdenken. Dieses Urteilen wird der Ambivalenz der Gefährdetheit des Lebens mit ihren verknoteten Sichtbarkeitsverhältnissen nicht gerecht. Gewaltloser zu betrachten und/oder zu zeigen ist selbst keine gewaltfreie Wahrnehmungsangelegenheit. Es ist ein Ringen um die Rasterungen des visuellen Regimes – eines Regimes, das Bilder nur allzu oft einsetzt, um sich vor der eigenen Gefährdetheit zu immunisieren. Mit Butler ließe sich nun überlegen, wie Bilder mich nicht vor, sondern in meiner Gefährdetheit schützen können. Susan Sontag gab zu bedenken, dass immer dort Vorsicht geboten sei, wo von „gutem Geschmack“ beim Betrachten der Leiden anderer die Rede ist (Susan Sontag). Denn nicht selten werde von Angst und Trauer abgelenkt. Auf welche Weise aber soll daraus ein „ungehorsames Sehen“ hervortreten (Judith Butler)? Wie können mediale Bilder an einer Ethik der Gewaltlosigkeit mitarbeiten?

Dafür ist es wichtig, nicht nur über Bilder nachzudenken, die Gewalt im engeren Sinne zu sehen geben, sondern die strukturelle und bisweilen auch diskrete Gewaltförmigkeit von Un/Sichtbarkeitsverhältnissen zu betonen. Für westliche visuelle Regierungstechnologien würde ich mit Butler sagen: Die Grenze dessen, was (nicht) zu sehen gegeben wird, erfolgt nach den Gesetzen der Derealisierung von Verlust – des Verlustes des „Mit“, der ein Verlust des Menschlichen bedeutet.

Somit wäre es die Unreflektiertheit aller Bilder jenseits ihrer Einteilung in künstlerische oder massenmediale Darstellungen, in Ikon oder Index, in Fiktion oder Realität, die unsere ethische Ansprechbarkeit so lange blockiert, wie die Derealisierung der eigenen Gefährdetheit den Rahmen ihres visuellen Regimes charakterisiert. Erst wenn die Anerkennung eigener Verletzbarkeit im Feld des Visuellen zur Darstellung kommt, löst sich die Abstumpfung angesichts anderer Tode. Das Versäumnis, die Gefährdetheit anderer zu betrauern, versäumt, der eigenen Exponiertheit als grundsätzlicher Lebensbedingung ansichtig zu werden. Einem „ungehorsamen Sehen“ ginge es somit nicht um Nicht-zeigen, sondern um das Ungezeigte in Mitten des Gezeigten. Es will Verletzbarkeit mit-teilen.

Deshalb interessierte sich Butler für das Konzept der Visage, des Angesicht von Emmanuel Levinas. Mit Levinas (aber auch Freud anderer Stelle) lassen sich jene Momente als Existenzbedingung herausheben, in denen ich nicht spreche, sondern angesprochen worden bin, in denen ich etwas formuliere, ohne gesagt zu haben und in denen ich nicht sehe, sondern angeblickt mich fühle.

Eine mit Judith Butler inspirierte Ethik des Visuellen sorgt sich nicht, wie so viele westliche Stimmen, selbstvergessen um eine Bilderflut, die das Sehen gefährde; sie fordert vielmehr dazu auf, das Gefährdete zu sehen. Diese kritische Bilderpolitik verläuft auf mehreren Ebenen, aber auf dasselbe hinaus: auf eine Begegnung, eine Heimsuchung mit dem visuell Unbewussten, das das Visage ist und das vergegenwärtigt, wie sehr das eigene Leben nur als „Mit“ existiert. Wichtig ist daran zu erinnern, dass die Begegnung mit dem Angesicht als Voraussetzung für eine gewaltfreie, betrauernde und idiosynkratische Bilderpolitik selbst nie friedlich verlaufen kann, sondern im Subjekt einen ethischen Konflikt zwischen Verteidigungswunsch und Sorge um den anderen am Laufen hält. Genau dieses Ringen, diese Knechtschaft und Geiselhaft der Betrachtenden im Feld des Sehens können ein Weg sein, in visueller Verantwortung jenseits einer naiven Schaulust, einem autoritären Blick-/Zeigeverbot oder einem neoliberalen anything goes zu handeln.

Mein Geburtstagsgeschenk an Judith Butler ist eine Erzählung von Sokrates, die Susan Sontag in ihrem Buch über das Betrachten beschrieb: Sokrates schildert hier, wie Leontios, der Sohn von Aglaion, aus Piräus an die Stadtmauer kam und erfuhr, dass beim Scharfrichter Leichen lägen. Leontios bekam Lust, sie zu sehen, zugleich fühlte er aber auch Abscheu. Er wandte sich weg, kämpfte mit sich, verhüllte seine Augen, dann aber sah er sich, wie er mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte: „Da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!“ Wer vermag zu entscheiden, wer in diesem Moment wessen Anblick, wessen Antlitz geworden ist – die Toten, Leontios?

What would you see, Judith?