„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Das an irritierenden und verstörenden Ereignissen ja wahrlich nicht arme vergangene Jahr hatte auch so begonnen. Die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015/16 haben verstärkte Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für das sonst oft verharmloste Problem sexueller Belästigungen und Gewalt generiert, allerdings in einer von rassistischer Abgrenzung und Abwehr gegen Flüchtende geprägten Debatte. Gegen diese Vereinnahmung feministischer Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt wurde und wird – angefangen mit der Kampagne #ausnahmlos – von vielen Seiten interveniert. Diese Interventionen und aktuellen Herausforderungen nehme ich hier zum Anlass für meine auch historisch zurückblickenden Überlegungen zu Entwicklungen, Erfolgen und Ambivalenzen der feministischen Gewaltdebatte.

Das Private wird politisch – Enttabuisierung und Delegitimierung geschlechtsbasierter Gewalt
In der Aufbruchsphase der Neuen Frauenbewegung erfolgte die Entdeckung und Skandalisierung der Gewalt an Frauen entlang eines weiten Gewaltbegriffs, im Kontext einer Politisierung des Privaten sowie einer grundlegenden Kritik der Geschlechterverhältnisse. Nach und nach wurden Diskriminierung und Frauenunterdrückung in allen Bereichen der Arbeitswelt, Familien- und Hausarbeit, Beziehungen und Sexualität bis zu Politik und Medien entdeckt und dabei fast zwangsläufig auch das Gewaltförmige weiblicher Lebenssituationen zum Thema. Sonst nicht einmal im Privaten geteilte Erfahrungen von Gewalt im Inneren der patriarchalen Familie, von sexuellen Belästigungen bis hin zur Vergewaltigung wurden von Feminist*innen artikuliert, in den kollektiven Rahmen patriarchaler Unterdrückung gestellt und in aktionistischem Protest nach außen getragen.

Die schrittweise Thematisierung von Gewalt an Frauen als gesellschaftliches Problem und Unrecht erfolgte zunehmend im Kontext einer sich ausdifferenzierenden und professionalisierenden Bewegung; so gehörten Hilfseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen zu den ersten Frauenprojekten. In der so entstehenden Infrastruktur wurde das Wissen über Gewaltdynamiken und -hintergründe über die praktische Arbeit und die sie begleitende Forschung erweitert. In Kooperation mit Akteur*innen der institutionellen Frauen- und Gleichstellungspolitik konnten teilweise auch relevante Institutionen wie Polizei, Gericht und Medien sensibilisiert und wichtige Gesetzes- und Verfahrensänderungen wie nationale Gewaltschutzgesetze oder UN-Deklarationen zu Gewalt an Frauen als Menschenrechtsverletzung durchgesetzt werden.
Die feministische Antigewaltbewegung konnte so wichtige gewaltpräventive Impulse setzen und in herrschende Genderordnungen intervenieren.

Ambivalenzen und Kehrseiten des Erfolgs
Dennoch bleibt geschlechtsbasierte Gewalt ein umstrittenes Thema, und die öffentlich-mediale Debatte ist immer wieder von Verharmlosung und reduktionistischen Darstellungen bestimmt. (AÖF 2014) Problematische Thematisierungen hängen auch mit Spezifika des Gewaltthemas zusammen – denn „Gewalt nivelliert, macht platt“ (Hagemann-White 2002, 31), sie empört, eignet sich deshalb zur Mobilisierung und für die Legitimierung von Frauenpolitik, aber eben auch für sensationsheischende Medienberichte. Durch eine solche mediale Aufmerksamkeit werden Frauen zwar als Opfer sichtbar, strukturelle Hintergründe der Gewalt etwa durch überkommene Geschlechterordnungen bleiben aber außen vor. Gleichzeitig erfolgt eine gewisse Normalisierung der Gewalt an Frauen, sie ist nicht länger tabuisiert, wird aber hingenommen und bestmöglich verwaltet.

Hinzu kommen häufig Dilemmata der Opfer-Rede, die gerade bei geschlechtsbasierter Gewalt und in feministischer Theorie und Praxis eine wichtige Rolle spielen. (Moser 2003) Eine klare Benennung von Opfer und Täter war (und ist) für die Skandalisierung von Geschlechtergewalt und feministische Mobilisierung wesentlich; problematisch ist jedoch, Betroffene auf einen Opferstatus zu reduzieren oder Frauen universalisierend als Opfer zu betrachten. Schließlich reproduziert der Opferdiskurs mit Gewaltsituationen einhergehende Macht-Ohnmacht-Konstellationen und bestärkt so symbolische Genderordnungen. Debatten um Mittäter_innenschaft, Verantwortung und Handlungsmacht, Differenzen unter Frauen und Dekonstruktionen von Dualismen haben solche Universalisierungen im feministischen Diskurs nachhaltig erschüttert – doch bleiben sie in westlichen Paternalismen virulent.

Die Abkehr vom ,Opfer-Feminismus‘ (und Spezialisierungen feministischer Praxis) hat das Gewaltthema zudem auch ein Stück weit zu den Gewaltexpert*innen verschoben. Die in postfeministischer Rede angeblich verwirklichte Gleichberechtigung hat zusätzlich dazu beigetragen, die unter der Oberfläche des unbestreitbaren Wandels nach wie vor bestehenden strukturellen Asymmetrien nur mehr schwer thematisierbar zu machen. Schon in den 90er Jahre verwiesen Gewaltexpertinnen auf Gleichberechtigungsmythen und ein emanzipiertes Selbstbild als neue Hindernisse für ein Öffentlichmachen von Gewalterfahrungen. Mit neoliberaler Individualisierung und Anrufung des selbstverantwortlichen Subjekts findet „der Mythos des ,Einzelschicksals‘ von Gewalterfahrungen neue Unterstützung.“ (Ludwig 2010) Gegen eine solche neoliberale Dethematisierung suchen neuere feministische Protestformen mit Hashtags wie #Everydaysexism, #shoutingback oder #aufschrei der deutschen Alltagsexismuskampagne – mit wechselnder Resonanz – zu intervenieren.

Eine für feministische Diskurse besonders herausfordernde Kehrseite aktueller Geschlechterdiskurse und der erfolgreich etablierten öffentlichen Thematisierung von ‚Gewalt an Frauen als Unrecht’ ist, dass das Thema damit auch für diskursive und politische Instrumentalisierungen verfügbar wurde. Es diente u.a. als Legitimation für Kriege im Kosovo und in Afghanistan und wird prominent in Abgrenzungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden im „Krieg gegen den Terror“ nach 9/11 und gegen globale Migrationsbewegungen in Stellung gebracht. Als visuelles Symbol für unterdrückte Opfer rückständiger patriarchaler Kulturen wurden insbesondere muslimische Frauen mit Kopftuch ins Zentrum polarisierender Geschlechter- und Migrationsdiskurse eingesetzt. Feministische und frauenpolitische Diskurse sind dabei vielfach an der Reproduktion solcher Repräsentationen auf ambivalente Weise beteiligt und mit mindestens zwei Fallen konfrontiert: spezifische Verletzbarkeiten zu negieren oder rassistische Verschiebungen zu bedienen (Marx 2008).

An diese Kulturalisierung und Ethnisierung von Sexismus knüpfen die Debatten zum „Ereignis Köln“ (Dietze 2016) an: Die Übergriffe dienten verallgemeinernden Konstruktionen des gefährlichen männlichen Flüchtlings, gefährdeter westlicher Geschlechterdemokratie, zu beschützender einheimischer Frauen und ihrer männlichen Retter. Gleichzeitig geriet die Gewalt, der Flüchtende aller Geschlechter ausgesetzt sind, in den Hintergrund, und die Chiffre Köln wurde als willkommene Argumentationshilfe für Grenzschließungen und weitere Verschärfungen der Asylpolitik missbraucht.

Gegen solche polarisierenden Spaltungen des Geschlechter- und Gewaltdiskurses, die bestimmte Gewalt-, Täter- und Opferkonstellationen privilegieren und andere negieren, ist eine differenzierte Thematisierung von Geschlechterungleichheiten und Gewalt gefordert. Diese kann auf einem weiten, dekonstruktiv und queer informierten feministischen Gewaltbegriff aufbauen, der vielfältige Gewaltkonstellationen und intersektionale Verschränkungen von Macht- und Gewaltstrukturen und diskursive Gewalt gleichermaßen berücksichtigt. (Sauer 2011)

Dafür brauchen wir nach wie vor feministische Öffentlichkeiten mit ihrer doppelten Aufgabe der internen Verständigung und Reflexion und der Intervention nach außen. Eine den komplexen Zusammenhängen gerecht werdende Thematisierung erfordert Strategien, um öffentliche Aufmerksamkeit für differenzierte Darstellungen zu generieren, sowie Räume und Medien, in denen Gewalterfahrungen in ihren spezifischen Positionierungen artikuliert sowie kollektiv und (selbst)kritisch reflektiert werden können, um so Gewalt als komplexe, je spezifisch „lokal verortete Praxis von Dominanz und Unterordnung zu verstehen und zu verändern.“ (Hagemann-White 2002, 31)

Literatur
Hagemann-White, Carol (2002): Gewalt im Geschlechterverhältnis als Gegenstand sozialwissenschafttlicher Forschung und Theoriebildung: Rückblick, gegenwärtiger Stand, Ausblick, in: Dackweiler, Regina-Maria (Hrsg.): Gewalt-Verhältnisse. Frankfurt/Main u. a., 29–52.

Moser, Maria Katharina (2007): Von Opfern reden. Ein feministisch-ethischer Zugang. Königstein/T.