„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

… Vierter und letzter Teil der Reihe

Um zu wissen, was „Achter de Dieken“ passiert, muss man hinter die Deiche gehen. Der Blick auf den Horizont verändert sich von dort. Im abschließenden Blogeintrag will ich zwei Eindrücken, die von meinen Besuchen frauen- und gleichstellungspolitischer Einrichtungen in der nördlichen Provinz geblieben sind, genauer nachgehen. Der erste bezieht sich auf das verwickelte Verhältnis zwischen feministischer Theorie und frauen- bzw. geschlechterpolitischer Praxis, der zweite auf Veränderungen im Feld der Vernetzungen, die feministische Öffentlichkeit ausmachen.

Die Gespräche haben mir einmal mehr in Erinnerung gerufen, dass die Differenz zwischen Theorie und Praxis in zentralen Hinsichten unhintergehbar ist. Gleichwohl können beide nicht ohne einander bestehen. Diese altbekannte Spannung im Herzen des Feminismus ist nicht aufzuheben, wohl aber muss sie in ihren historisch veränderlichen Ausprägungen bearbeitet werden. Gegen unmittelbare Nützlichkeitsansprüche an Theorie, die seit einiger Zeit an den Hochschulen grassieren, gilt es, auch die Räume für Feminismus als handlungsentlasteter theoretischer Kritik und kritischer Theorie zu verteidigen. Diese müssen sich die Freiheit nehmen können, auf’s Ganze zu gehen, Zusammenhangsanalyse und pointierte Gesellschaftsdeutung zu betreiben, im Selbstbezug den nicht-intendierten Wirkungen und Ausschlüssen feministischer Kritik und frauenpolitischen Handelns nachzugehen, radikal und negatorisch („dies so nicht!“) zu denken und sich in entschieden unpragmatischer Weise zu äußern. Kritik muss auch das Risiko eingehen, nicht auf breite Zustimmung zu stoßen, bisher unsichtbaren oder kleingeredeten Problemen „einen Namen“ zu geben und sie damit öffentlich und politisch bearbeitbar zu machen. Praxistauglichkeit ist dabei weder ein Kriterium für die Richtigkeit noch für die Berechtigung ihrer Deutungen. Feministische Theorie würde sich jedoch ad absurdum führen, wenn sie gar nicht mehr auf gesellschaftliche Veränderung abzielte und deren aktuelle Möglichkeit als Problem kritischer Praxis reflektierte. Dass derartige Reflexionen auch in Gender-Kompetenz-Einrichtungen stattfinden können, die selbst von Trends profitiert haben, die dem theoretischen Feminismus das Wasser abgraben, gehört zu den Paradoxien des status quo feministischer Kritik.

In anderer Weise betreffen derartige Spannungen bzw. Widersprüche die frauen- bzw. geschlechterpolitische Praxis. Dies gilt sowohl für die institutionell eingebetteten Formen der Gleichstellungsarbeit, die Beratungsarbeit in Frauenzentren als auch für die feministischen Projekte und Aktionen in den radikaldemokratischen Experimentierfeldern zwischen Kunst und Politik. Jede dieser Praxen „weiß“ implizit mehr, als sich in ihren einzelnen Akten manifestiert. Sie „weiß“ auch um ihre Reichweite, ihre Grenzen, vielleicht auch um ihre gegenläufigen Effekte. Gleichzeitig nötigen die Legitimationsformen, in denen sie präsentiert werden, und die Anerkennungsbedingungen, denen sie unterliegen, immer wieder dazu, dieses implizite „Mehr“-Wissen nicht nur öffentlich nicht auszusprechen, sondern – je nach Kontext – es durch Erfolgs- und Innovationsverheißungen oder radikale aktivistische Rhetorik sogar aktiv zu desartikulieren. Das „mehr“ im implizit Gewussten kann Kritik beschwichtigen, es unterläuft aber auch bornierte Selbstgenügsamkeiten. Damit tangiert es die säuberlichen Zuordnungen von kritischem versus affirmativem Geschlechterwissen und praktischem Handeln, die sich in Beschreibungen des feministisch/geschlechterpolitischen Feldes so häufig finden. Wie aber koexistieren oder verbinden sich managerielle, sozialtherapeuthisch-beratende, pädagogische, politische und theoretisch-reflexive Aspekte des geschlechterbezogenen Wissens in den jeweiligen Handlungsfeldern? Mit welchen Gründen und von wo aus wird welche Form des Wissens, welche Form der Praxis als affirmativ, kritisch und/oder subversiv bezeichnet? Gibt es dazu einen feministischen Common Sense? Nein! Gibt es dazu eine feministische Kontroverse? Nein, jedenfalls nicht im Sinne eines das Feld strukturierenden Widerstreits.

Der andere Eindruck, den ich von meinen Ausflügen mitgebracht habe, betrifft die große Rolle von Vernetzungen und Bündnissen, die für meine Gesprächspartnerinnen im Gleichstellungsbüro und im Frauenzentrum einen wichtigen Bezugspunkt ihrer Arbeit darstellen. Auch wenn nicht alle Bezüge ständig aktualisiert werden und auch nicht alle im Alltag der Einrichtungen von gleichem Gewicht sein mögen, so gehören sie doch zum weiteren Horizont, in dem die eigene Praxis gesehen, ausgeübt und legitimiert wird.

Während ich diesen Eintrag schreibe, liegt neben mir auf dem Fußboden ein ganzer Berg von Infomaterialien und Flyern, papierene Mitbringsel von den drei Visiten. Es ist unglaublich, was da zusammengekommen ist und selbst als eine, der das Feld nicht ganz fremd ist, staune ich über das inhaltliche und politische Spektrum der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn ich auf der Basis der mitgebrachten Papiere einen weiten Begriff von Vernetzung zugrunde lege, der nicht nur die faktische Zusammenarbeit etwa im lokalen „Bündnis Frau“ oder den Konferenzen der Gleichstellungsbeauftragten, Frauenberatungsstellen und Notrufe bezeichnet, sondern darüber hinaus den Möglichkeitsraum all dessen einbezieht, was mit ein paar Mausklicks an Projekten und relevanten Informationen potentiell erreich- und mit-teilbar wird, tut sich ein beeindruckendes Pluriversum auf.

Schon die oberflächliche Lektüre der Flyer und der punktuelle Besuch von dort angegebenen Webseiten und Links deuten darauf hin, dass es in diesem Netz aus Initiativen, Einrichtungen, Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Parteien viele querlaufende Fäden, Gleichzeitigkeiten und Ko-Operationen gibt. Die kleinen Erkundungen machen mir bewusst, wie sehr sich die Räume feministischer und geschlechterpolitischer Öffentlichkeit seit den computerfreien bzw. -losen 1970er Jahren und der „Staatsknete“-Diskussion“ der Frauenbewegung verändert haben. Und dabei sind noch nicht einmal die interaktiven Möglichkeiten im WWW 2.0 angesprochen, die auch im Bereich feministischer Mobilisierung und Vernetzung an Gewicht gewinnen.

Situierte Selbstverständlichkeiten

Sowohl die Komplexität von Theorie/Praxis-Verhältnissen als auch die selbst im provinziellen „anderswo“ erfahrbare Vielfalt strategischer, legitimatorischer und virtueller Vernetzungen widersprechen den säuberlichen Einteilungen, die der Obertitel „Berlin, Berlin und anderswo“ auf den ersten Blick nahelegt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, bildhaft gesprochen, dass Berlin überall sein kann. Auch an der Förde oder hinterm Deich. Umgekehrt haben sich auch in der Hauptstadt eigene Provinzen des Feminismus und der Genderpolitik herausgebildet, die wenig miteinander zu tun haben und insofern füreinander „achter de Dieken“ liegen. Gleichwohl gibt es jedoch eine für meine Fragestellungen bedeutsame Differenz zwischen Berlin und den vielen ‚anderswos‘ im deutschsprachigen Raum: Berlins unglaubliche Dichte an Universitäten und Fachhochschulen mit Schwerpunkten in der Geschlechter- bzw. Gender- und Diversityforschung und queertheoretischen Fragestellungen. Jedes Semester verlassen zahlreiche Absolvent_innen die Welten des akademischen Feminismus, und viele streben in Berufe und Praxisfelder, in denen sie weiterhin am Thema bleiben können. All das gilt hier in der nördlichen Peripherie mit ihren wenigen über das ganze weite Land verteilten Universitäten bzw. Fachhochschulen allenfalls in homöopathischer Verdünnung. Ich vermute, dass die unterschiedlichen Grade der Verdichtung von akademisch-feministischen und geschlechterpolitischen Milieus Auswirkungen auf die Bezugspunkte und die Selbstwahrnehmung kritischer Praxis haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Berliner Gender Manifest von 2006 „kritisch reflektierende Praxis“ mehr oder weniger gleichsetzt mit der Dekonstruktion von Geschlecht und dem Ziel der Herstellung von Geschlechtervielfalt erscheint mir dafür symptomatisch. Im hiesigen Kontext wirkt dies jedenfalls weitaus weniger offenkundig. Angesichts der vielen ungeklärten Fragen bezüglich dieser Problematik würde man es sich zu leicht machen, das als Zurückgebliebenheit der Provinz oder reflexiven Mangel abzutun.

Wie aber kann mir die gegenwärtige feministische Diskussion zu Theorie-Praxis-Verhältnissen dabei helfen, angemessen mit den ambivalenten Eindrücken, Erfahrungen und Befunden umzugehen, die ich von meinen Exkursionen in die Praxis mitgebracht habe? Dazu nur eine kurze Skizze als Strukturierungshilfe für die Suche nach einer Antwort. Im Moment sehe ich drei große Richtungen, die sich mehr oder weniger deutlich gegeneinander positionieren: Da sind erstens diejenigen, die auf die inspirierende Rolle von Theorie für die Gender-Beratungspraxis setzen, dies bezieht sich insbesondere auf die Sensibilisierung für die paradoxen Effekte des eigenen praktischen Tuns. Als Feministin, die eher aus der Theoriearbeit kommt, würde ich ergänzend das wechselseitige Verwiesensein von feministischer Theorie und Praxis betonen. Theorie mag so handlungsentlastet sein wie sie will: Ohne die Rückbindung an gesellschaftliche Bedingungen und deren Erfahrung in verschiedenen Praxisfeldern bliebe sie leer und könnte noch nicht einmal mehr ihre eigenen Grenzen und gegebenenfalls Wirkungslosigkeit registrieren und begreifen.

Zweitens gibt es Stimmen, die die grundlegenden Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Geschlechterwissens hervorheben, so etwa dem Alltagswissen, dem wissenschaftlichen Geschlechterwissen und managerialer Genderexpertise. Als prägnantes Beispiel für diese Distanz wird gern der unterschiedliche Bezug auf Zweigeschlechtlichkeit herangezogen: Würden im Alltagswissen Männer und Frauen als schlicht gegeben vorausgesetzt, so befasse sich das wissenschaftliche Geschlechterwissen mit der Art und Weise, wie sie unterschieden werden. Insbesondere Angelika Wetterer betont die ausschlaggebende Bedeutung institutioneller Kontexte für die Herausbildung je spezifischer Wissensformen und sieht anstelle einer fruchtbaren Wechselbeziehung eher eine tendenzielle Unvereinbarkeit der Wissensformen, ihrer Logiken und Anerkennungsbedingungen. In Wetterers Sicht ist die „Fremdsprachigkeit“ oder sogar Unbrauchbarkeit der verschiedenen Formen des Geschlechterwissens füreinander geradezu ein grundlegendes Merkmal vollzogener Differenzierung, wie sie Professionalisierungsprozesse begleite.

Als dritte Strömung würde ich Stimmen zusammenfassen, die sich – oft in Verbindung von gouvernementalitätskritischen, (de)konstruktivistischen und/oder queerfeministischen Orientierungen – mit den institutionalisierten und bürokratieanfälligen Formen von Frauen- und Geschlechterpolitik auseinander setzen. Insbesondere die Strategie des Gender Mainstreaming ist vielfach Gegenstand der Kritik geworden. Die Sympathien in diesem Spektrum liegen – aus meiner Sicht – erkennbar nicht bei staatlich gezügelten Formen der Politik, die Impulse aus sozialen Kämpfen in administrative und juristische Regulative transformieren. Die Sympathien liegen auch nicht bei der professionalisierten Frauen- und Antidiskriminierungsarbeit, die als Formen der sozialtherapeutischen und pädagogischen Entschärfung gesellschaftlicher Konflikterfahrungen und damit als Teil neoliberaler Selbstoptimierungszwänge interpretiert werden. Sie liegen stattdessen bei erfindungsreichen Projekten und basisdemokratischen Aktionen auf Straßen und Plätzen, deren befreiendes Potential (als) hoch (ein)geschätzt wird. Als Modell für diese kollektiven Praxen gelten die repräsentations- und identitätskritischen Bewegungen der Platzbesetzungen seit 2011.

Differierende Ansichten von Theorie und Praxis.

Drei Rahmungen sind hier in aller Kürze und – unweigerlich auch – Verkürzung nur angedeutet, in denen Theorie-Praxis-Verhältnisse sich jeweils in fundamental unterschiedlichen Ansichten darstellen. Auch wenn sie einander auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, sehe ich eine Herausforderung darin, sie durch kritische Bestimmung der mit den jeweiligen Positionen einhergehenden Dilemmata füreinander fruchtbar zu machen.

Wie die erste Strömung halte auch ich daran fest, dass nichts so praktisch ist wie gute Theorie. Praktisch heißt dabei nicht unbedingt nützlich in einem instrumentellen Sinne, wohl aber im Sinne eines emphatischen Begriffs, der Praxis als transformatives Übersetzen oder übersetzende Transformation begreift und feministische Theorie als Kritik im Handgemenge, als Vorratsarbeit für die Selbstverständigung der Zeit über ihre Wünsche und Möglichkeiten.

Angelika Wetterers Typologie des Geschlechterwissens eröffnet Reflexionsmöglichkeiten gerade durch ihre bewusste Überzeichnung institutioneller Differenzierung. Diese ist in Rechnung zu stellen und empirisch zugleich zu relativieren. Tatsächlich sind die Wissensformen weniger klar voneinander getrennt; sie beeinflussen sich auf vielfache Weise, aber nicht im Stil herrschaftsfreier Kommunikation, sondern unter Bedingungen von Hegemonien, Machtasymmetrien und Herrschaft.

Bei aller Sympathie mit dem identitätskritischen, negatorischen und zugleich auf die Kreativität der Vielen setzenden Impetus der dritten Strömung, denke ich, dass feministische Politik nicht auf Formen der Institutionalisierung und Organisierung verzichten kann, die repräsentationelle Elemente beinhalten. Diese Widersprüche werden in den repräsentationskritischen Bewegungen ebenso reflektiert wie die Dilemmata von Verdinglichung, von Gleichheit und Differenz Gegenstände reflektierter Gleichstellungspolitik sind. Insofern ist es falsch, die Richtungen als einander ausschließend anzusehen.

Veränderte Kritikbedingungen

Bislang bin ich immer davon ausgegangen, dass die spezifische Produktivität im durch und durch netzförmigen „Viereck“ von Frauenbewegung, Gleichstellung, Geschlechterforschung und Frauen- bzw. Geschlechterpolitik darin begründet liegt, dass es bei aller Professionalisierung und Arbeitsteilung doch von Grenzgänger_innen getragen wird, die mit feministischen und geschlechterbezogenen Themen in jedem Bereich „zwischen den Stühlen“ sitzen. Sie haben sich der Entweder-Oder-Logik der herrschenden institutionellen Ordnungen von Wissenschaft, Politik und praktischem Expert_innentum nicht gefügt. Nicht immer nur aus freien Stücken, sondern auch als Effekt anhaltender Randständigkeit der ganzen Thematik, trotz aller rhetorischen Modernisierung. Die Position „zwischen den Stühlen“, der Spagat, die Transfers und Reibungen zwischen den verschiedenen Feldern waren es, die zur Vitalität der feministischen Konstellation und zu ihren kollektiven Lernprozessen beigetragen haben. Unübersehbar haben in den vergangenen rund 20 Jahren Formen der Spezialisierung, der Professionalisierung und Arbeitsteilung zugenommen, auch die Öffentlichkeiten, in denen früher der „Schwesternstreit“ und die großen Kontroversen unter Anwesenden ausgetragen wurden, haben sich verändert. Mir scheint, dass die Form des Lernens in kollektiven Debatten der Vergangenheit einer übersichtlicheren, kleinräumigeren und irgendwie auch bornierten „fordistischen“ Konstellation des Feminismus angehört. Der Drive feministischer Grundlagenkritik ist selbst angewiesen auf die Ausschlüsse, die das Feld hervorgebracht hat. Was aber kommt nach der Grundlagenkritik? Auf dem Hintergrund meiner biographischen Erfahrung nehme ich das Abkühlen der „heißen epistemischen Kultur“ des Feminismus, inklusive seiner akademischen Varianten durchaus als Verlust wahr; der Komplexitätsgewinn ist zu begrüßen, aber er verändert die Kritikbedingungen. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass sich etwas neu konfiguriert, nicht zuletzt unter Nutzung der neuen Medien und des Internet. Dass die feministischen studien, eine interdisziplinäre Theoriezeitschrift mit Tradition, unter die Blogger_innen gegangen ist, gehört selbst zu diesen Veränderungen.

Während ich über die Eindrücke von meinen Besuchen „Achter de Dieken“ nachdachte, erreichte mich die Email einer ehemaligen Studentin, die vor einigen Jahren zum Promovieren in eines der Zentren der Genderforschung gezogen war und sich nun mit der Frage ihrer beruflichen Zukunft auseinander setzt. Auch sie schreibt von „Achter de Dieken“: „Frage mich aber gerade, ob ich überhaupt noch außerhalb dieser rosaqueeren Pomo-Uniblase leben kann. Gar nicht so leicht, von all dem Abschied zu nehmen.“ Wie symptomatisch ist diese Wahrnehmung des akademischen (Queer)Feminismus als Exklave? Ist sie eine Art Innenansicht auf die sozialisierende Wirkung des Elfenbeinturms oder steht die Exklave als Blase der Freiheit für einen gesellschaftlichen Vor-Schein im Blochschen Sinne? Wie weit sind die Wege von dort nach anderswo? Und zurück?