„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Einen ihrer letzten öffentlichen Auftritte hatte Rossana Rossanda im Frühjahr 2019 in der Casa Internazionale delle Donne in Rom. Anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament nahm sie auf Einladung zweier Kandidatinnen der kleinen Linkspartei La Sinistra an einer Wahlkampfveranstaltung teil. Zwar hat sich Rossanda nie als Feministin verstanden, doch reizte sie bis in ihre letzten Lebensjahre die Auseinandersetzung über das Verhältnis der Frauen zur Politik, die „stürmische Beziehung“ des Feminismus zum politischen Gemeinwesen. Am 20. September dieses Jahres ist Rossana Rossanda im Alter von 96 Jahren gestorben. 

Viele Nachrufe bemühten den Vergleich mit Rosa Luxemburg, beschworen den Mythos von der Grande Dame der italienischen Linken. Rossanda hat diese Zuschreibungen in ihrer Autobiographie, die 2007 in deutscher Übersetzung mit dem Titel Die Tochter des 20. Jahrhunderts erschien, als Projektionen anderer zurückgewiesen.[1] Sie selbst bezeichnete sich als „besiegte Kommunistin“. Die Niederlage wurde ihr zur Herausforderung: „Die Sache des Kommunismus […] ist so kläglich gescheitert, dass man sich unbedingt damit auseinandersetzen muss.“[2] Die Geschichte dieses Scheiterns ist Teil ihrer Lebensgeschichte.

Mitten im Krieg begann sie 1941 in Mailand ihr Studium: Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Über Antonio Banfi, ihren Philosophieprofessor, kam sie in Kontakt mit der Resistenza, wurde Kurierin der italienischen Widerstandsbewegung. Nach 1945 schloss sie ihr Studium ab, gab aber eine sich anschließende Verlagstätigkeit rasch wieder auf. Stattdessen wurde die Arbeit im Partito Comunista Italiano (PCI) zu ihrer Berufung. 

Dass der Wiederaufbau und die Leitung der Mailänder Casa della Cultura zu ihrer ersten Aufgabe gehörte, kann rückwirkend als wegweisend gedeutet werden: Politik und Kultur, Kommunismus und Avantgarde gehörten für Rossanda fortan zusammen: Bildung durfte kein Privileg mehr sein, aber dem „Durchschnittsgeschmack“ durfte nicht nachgegeben werden: „Es erwies sich als falsch anzunehmen, daß man, ausgehend von einem leichter verständlichen Realismus, schließlich bei der Avantgarde ankommen würde“[3]: Rossanda war streng, anspruchsvoll und fordernd sich selbst wie anderen gegenüber. 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang machte sie in der größten kommunistischen Partei Westeuropas Karriere, wurde Mitglied im Zentralkomitee und Parlamentsabgeordnete. 1969 beteiligte sie sich an der Gründung der Monatszeitschrift il manifesto, in der die Parteiführung für ihre desinteressierte bis abweisende Haltung gegenüber der Arbeiter- und Studentenbewegung und ihre zurückhaltende Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 kritisiert wurde. Auf die Linksabweichung folgte der Parteiausschluss. 

Die manifesto-Gruppe entschloss sich daraufhin, das Monatsheft in eine gleichnamige, parteiunabhängige Tageszeitung umzuwandeln. Es war der Versuch, die kommunistische Tradition mit dem militanten Politikverständnis der Neuen Linken zu verbinden. Rossanda hat diesen Lebensabschnitt in ihrer Autobiographie als eine „andere Geschichte“ angekündigt, aber zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht.[4] Es ist vor allem diese „andere Geschichte“, ihre Arbeit in der linksintellektuellen Tageszeitung, die sie als Journalistin und Essayistin, als streitbare Intellektuelle der internationalen Linken berühmt machte.

Erst mit dem Ausschluss aus dem PCI und der Öffnung zur autonomen Linken, begann für Rossanda die Auseinandersetzung mit dem Feminismus. Bisher hatte sie sich als emanzipierte Frau wahrgenommen, „die den Männern nicht viel vorzuwerfen hatte.“[5] Die Aufwertung einer besonderen weiblichen Identität war ihr ebenso fremd wie die Solidarität unter Emanzipierten. „In meinen Ohren hatte der Protest, dessen Echo ich in der Ferne vernahm, etwas Unausgegorenes und Halbherziges.“[6] Der frauenbewegte Habitus, die folkloristische, schrille Anklage, bedeutete für Rossanda eine ästhetische und intellektuelle Zumutung. 

Doch im Laufe der Siebziger Jahre traf sie im Umfeld von il manifesto auch auf Frauen, die „anders“ waren: Feministinnen, die ihre politische Passion teilten, allerdings nicht nur die sozialliberalen Reformbestrebungen ablehnten, sondern auch die sozialistisch-kommunistischen Revolutionsversprechen zurückwiesen. Sie drängten im Namen der sexuellen Differenz auf eine radikale Transformation der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung. 

Als sie 1978 eingeladen wurde, für das Kulturprogramm von Radio Rai3 eine Sendereihe zum Verhältnis von Frauen zur Politik zu gestalten, nahm Rossanda die Herausforderung der „Anderen“ an: Ausgehend von einer Reihe politischer Schlagwörter suchte sie mit ihren feministischen Gesprächspartnerinnen die Krise der modernen (linken) Politik zu ergründen und die feministische Kritik als Impuls für eine Neudefinition des Politischen zu verstehen.[7]

Aus diesem Dialog entwickelte Rossanda ein anderes Bewusstsein für ihr Frausein. „Denn sobald mir die Sprache der Frauen nicht mehr als regressiv oder unausgegoren erschien, nicht mehr als eine erlittene Verkürzung, sondern als eine gewollte, als ein Signal, […] konnte ich sie nicht mehr überhören und betrachtete die Frauen mit neuen Augen. Dieses Geschlecht, das kein Geschlecht ist, wurde mir nun zu einem.“[8]

Die Achtziger Jahre sollten zur produktivsten Phase in Rossandas wechselhaftem Verhältnis zum Feminismus werden. Die Tageszeitung Il manifesto öffnete sich feministischen Themen und Debatten, parallel beteiligte sich Rossanda an mehreren feministischen Zeitschriftenprojekten: In Rom gehörte sie zu den Begründerinnen des Monatshefts für Politik und Kultur Orsaminore (1981-1983). Für die erste Ausgabe schrieb sie den Essay „Zur Frage der weiblichen Kultur“, dessen Übersetzung die feministischen studien  in Heft 1/1989 publizierten. In der Nachfolge von Orsaminore entstand die Zeitschrift Reti (1987-1992), in der rund um die geopolitische Wende von 1989 gemeinsam mit Feministinnen aus dem Umfeld des PCI über Ziele und Prioritäten einer Politik der Geschlechterdifferenz diskutiert wurde. Außerdem publizierte Rossanda Beiträge zu den Themen Literatur, Körperlichkeit und Sexualität in der psychoanalytisch inspirierten Zeitschrift Lapis (1987-1996)[9] und begleitete die Arbeit der von Historikerinnen initiierten Zeitschrift Memoria (1981-1991). 

In der deutschen Rezeption wurden Rossandas kritische Positionierungen innerhalb der italienischen (differenz)feministischen Debatten nur bedingt wahrgenommen. Die Übersetzung ihrer Radiogespräche erschien 1980 nicht mit dem Originaltitel Le Altre (Die Anderen), sondern als geschlechtsneutrale Einmischung. Dass es Rossanda nicht um generelle (zivil-)gesellschaftliche Interventionen ging, sondern um eine spezifisch feministische Kritik am Politikverständnis der Moderne, blieb verschleiert. Der in Italien bereits 1987 publizierte Sammelband Anche per me, mit Artikeln und Essays, die zwischen 1973 und 1986 im Austausch mit den feministischen Gruppen entstanden und Rossandas veränderten, feministischen Blick auf die politischen und kulturellen Ereignisse dokumentieren, erschien in der deutschen Übersetzung Auch für mich erst 1994, in einer völlig veränderten politischen Weltlage. Rossanda ersetzte die italienische Einleitung, in der sie ihr Verhältnis zum Feminismus reflektiert hatte, mit einem Vorwort für die deutsche Ausgabe, in der „die Verwüstung des Politischen“ nach der Wende von 1989 im Mittelpunkt steht und ihre feministische Liaison unerwähnt bleibt.[10]

Bei öffentlichen Auftritten, insbesondere jenseits Italiens, hat Rossanda gerne mit ihrer Distanz zu den „Anderen“ kokettiert, die Ambivalenz ihres Verhältnisses zum Feminismus betont. Als sie im Oktober 1989 anlässlich des 200. Jahrestags der Französischen Revolution in Frankfurt/Main zur internationalen Frauenkonferenz „Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht“[11] eingeladen wurde, wiegelte sie ab. Die Ehre, den Eröffnungsvortrag zu halten, gebühre ihr eigentlich nicht, da sie dem Feminismus erst spät begegnet sei und die Frauenbewegung nie als „das einzige oder besondere Gebiet“ ihres politischen Engagements ausgemacht habe. Auf die Rolle der emanzipierten Frau und eines Vorbilds für die Verbindung der Frauenemanzipation mit anderen sozialen Befreiungskämpfen des 20. Jahrhunderts wollte sie sich nicht festlegen lassen. Die Gleichberechtigung, die den Frauen 1789 verwehrt geblieben war, könne längst nicht mehr das Ziel feministischer Politik sein. Sie verwahrte sich gegen jede Vereinnahmung seitens des Gleichheitsfeminismus, grenzte sich jedoch zugleich ebenso scharf von jeder Verherrlichung der Weiblichkeit und eine daraus abgeleiteten separatistischen „Politik der Frauen“ ab, wie sie auf der Konferenz u.a. von Adriana Cavarero für die Philosophinnengruppe Diotima vertreten wurde. [12]

Im Rückblick verpasste Rossanda in Frankfurt die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die in der deutschsprachigen feministischen Debatte als „Italienerinnen“ rezipierten „Mailänderinnen“ nicht für das gesamte Spektrum des italienischen Differenzdenkens standen. Trotz der gemeinsamen Arbeit an den feministischen Zeitschriften, ging Rossanda nie so weit, die differente Differenzkonzeption ihrer feministischen Freundinnen als gemeinsame Sache zu verteidigen. Eigensinnig beharrte sie darauf, eine Randgängerin des Feminismus zu sein: „Jene Begegnung war tatsächlich eine der wichtigsten in meinem Leben und ich würde sie nicht missen wollen, auch wenn sie immer problematisch geblieben ist, denn wenngleich sie mich gelehrt hat, wahrzunehmen, dass ich nicht nur ein Individuum, sondern eine Frau war […], so hat sie mich doch nicht dazu verleitet, mich primär und mehr als alles andere als Frau zu fühlen.”[13]

Rossanda interessierte sich für das Denken der sexuellen Differenz, solange es nicht auf die Verherrlichung der weiblichen Differenz, die Anerkennung einer identitätslogischen Geschlechterkonstruktion abzielte. In den Siebzigerjahren erkannte sie, dass die feministische Weigerung, sich an der traditionellen Politik zu beteiligen, nicht pauschal als Zeichen einer Entpolitisierung gedeutet werden durfte, sondern als „Keim sowohl einer Krise der traditionellen Politik als auch einer Kritik, die eine andere Politik einleiten könnte.“[14] Sie hoffte, dass der Keim jenseits der feministischen Kleingruppen aufgehen könnte, doch je älter sie wurde, desto skeptischer bewertete sie die feministische Revolte. 

Die Kontroverse um die praktische Wirksamkeit der theoretischen Einsichten des Feminismus wurde 2010 auf einer zu Ehren ihres 85. Geburtstags veranstalteten internationalen Konferenz mit dem Titel „Donne Politica Utopia“ noch einmal öffentlich ausgetragen. [15] In ihrem Eröffnungsvortrag, den die feministischen studien 2011 publizierten, resümierte Rossanda die „stürmische Beziehung“ zwischen Feminismus und Politik. Sie anerkannte die Entlarvung des mutmaßlich geschlechtsneutralen Staatsbürgers, stellte aber in Frage, dass es den Feministinnen der Siebzigerjahre gelungen sei, eine politische Transformation zu erwirken: „Es besteht, wie mir scheint, eine Pattsituation zwischen dem Umriss der Theorie und dem der vorgeschlagenen Politik. Der Hauptpunkt, den der zweite Feminismus hervorgehoben hat, wie die Exklusion aus der Polis entsteht, und wie eine Inklusion sich durch gemeinsames Handeln beider Geschlechter bewerkstelligen lässt, bleibt ungelöst.“[16]

Die Vehemenz, mit der die „besiegte Kommunistin“ ihren feministischen Freundinnen nachhaltige politische Erfolge gegen das Patriarchat abstritt, hat zu Verletzungen geführt, kaum zu dauerhaften Zerwürfnissen. Dankbar erinnern ihre feministischen Freundinnen nicht erst postum an „Rossanas Gaben“[17]: Mit ihrer politischen Leidenschaft begründete Rossanda in der kollektiven journalistischen Arbeit, im konfrontativen Verhältnis zu den Nachgeborenen eine Genealogie kritischer, weiblicher Intellektualität. 


[1] Rossana Rossanda: Die Tochter des 20. Jahrhundert. Übers. v. Friederike Hausmann und Maja Pflug. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.

[2] Ebd. S. 7. 

[3] Ebd., S. 328.

[4] Ebd., S. 463.

[5] Rossana Rossanda: Anche per me. Donna, persona, memoria dal 1973 al 1986, Mailand: Feltrinelli 1987, S. 17. (Übers. v. CD)

[6] Rossana Rossanda: Einmischung [1979]. Übers. v. Maja Pflug, Andrea Spingler und Burkhart Kroeber. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1980, S. 25. 

[7] Im Untertitel der Publikation der Radiointerviews werden die Begriffe, mit denen sich die einzelnen Sendungen beschäftigten, genannt: „Gespräche mit Frauen über ihr Verhältnis zu Politik, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, Faschismus, Widerstand, Staat, Partei, Revolution, Feminismus“ (vgl. Rossanda 1980).

[8] Ebd., S. 37. 

[9] Die Beiträge erschienen zuletzt gesammelt in Rossana Rossanda: Questo corpo che mi abita. Hrsg. v. Lea Melandri. Turin: Bollati Boringhieri 2018. 

[10] Rossana Rossanda: Auch für mich. Aufsätze zu Politik und Kultur. Übers. v. Leonie Schröder. Hamburg: Argument, S. 11-17. Die Ausgabe enthält keinen Hinweis auf die gleichnamige italienische Ausgabe und verzichtet auf einen detaillierten Quellennachweis, mit dem eine Spur zu den feministischen Zeitschriften hätte gelegt werden können. 

[11] Der vollständige Titel der Konferenz lautete: „Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. 200 Jahre Aufklärung – 200 Jahre Französische Revolution“; sie fand von 5. – 8. Oktober 1989 in Frankfurt/Main statt. Der Band, der die Konferenzbeiträge dokumentiert, erschien unter dem Titel „Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Hrsg. v. Ute Gerhard, Mechthild Jansen, Andrea Maihofer, Pia Schmid, Irmgard Schultz. Frankfurt/Main: Ulrike Helmer 1990.

[12] Rossana Rossanda: Differenz und Gleichheit. In: Gerhard u.a. (1990), S. 13-28. 

[13] Rossanda (1987),  S. 17 (Übers. CD). 

[14] Rossanda (1980), S. 11 Herv. i. O.

[15] Die internationale Konferenz „Donne Politica Utopia“ fand von 14.-15. Mai 2010 in der Aula Magna der Universität von Padua statt. Die einzelnen Beiträge wurden 2011 in einem gleichnamigen, von Alisa De Re herausgegebenen Konferenzband veröffentlicht, sie sind außerdem fast alle auch online nachzuhören.

[16] Rossana Rossanda: Feminismus und Politik, eine stürmische Beziehung. Übers. v. Regine Othmer. In: feministische Studien 2/2011, S. 293-301.

[17] Vgl. die Nachrufe von Ida Dominijanni: I doni di Rossana. In: Internazionale, 21.09.2020 und Maria Luisa Boccia: Da donna a donna, da amica ad amica, Centro per la riforma dello stato, 24.09.2020