„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Die Pegelstände rechter Mobilisierungen steigen. Nicht nur in Dresden, wo die Zahl der montäglichen Pegida-Spaziergänger*innen zwar mittlerweile zurückgeht, zwischenzeitlich aber auf 17.000 angewachsen war. Zusammen mit den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“ erleben wir derzeit eine Reihe ähnlicher Demonstrationen in verschiedenen Städten der Bundesrepublik: Legida in Leipzig, Bagida in München, Bärgida in Berlin usw. Bereits im Oktober 2014 demonstrierten in Köln tausende „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa). In Erfurt gründete sich das Pegada-Bündnis, das „Engagierte Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas“ (EnDgAmE) dazu aufruft, die USA statt des Islam als zersetzende Gefahr ins Auge zu nehmen. In dieser Woche demonstrierten auch erstmals 300 Personen unter dem Pegida-Label in Wien. Mit weiteren Ablegern und Spaltung ist stündlich zu rechnen.

Was passiert hier gerade? Studien (z.B. Deutsche Zustände 2011, Zick/Klein 2014) zeigen, dass rassistische, antisemitische und antiamerikanische Einstellungen in der Mitte der deutschen Gesellschaft verankert sind. Die abkürzungsfreudigen Aufmärsche tragen vorhandene Ressentiments auf die Straße. Parallel steigt die Zahl rechter Übergriffe und viele Menschen müssen sich fragen, ob sie montags und an anderen Tagen sicher auf die Straße gehen können.

Eine ideologische Gemengelage

Die „größte rassistisch grundierte Mobilisierung in der Nachkriegsgeschichte“ (Simon Teune in der SZ) knüpft an das an, was Eva Hermann („Das Eva-Prinzip“), Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“, „Der neue Tugendterror“) und Akif Pirinçci („Deutschland von Sinnen“) seit Jahren in den Bestsellerlisten platzieren: Eine biopolitische Agenda, die auf den Erhalt eines deutschen Volkes und damit verbundener deutscher bzw. abendländischer „Werte“ abzielt. Erreicht werden soll dies durch die Erhöhung der Geburtenrate in traditionellen Familien, die Rückkehr zu klassischen Geschlechterrollen und die Beschränkung von Zuwanderung. Während Pirinçci aufgrund seines extrem polemischen Stils von den meisten Mainstream-Medien – mit Ausnahme des ZDF-Mittagsmagazins – mit spitzen Fingern angefasst wurde, räumten die politischen Feuilletons und Talkshows der Programmatik von Sarrazin gerne Platz ein.

Weiter abseits von der hegemonialen Medienöffentlichkeit geht es in eine ähnliche Richtung. Dort verknüpft Jürgen Elsässers rechtspopulistisches Compact-Magazin den Diskurs der Bestseller ideologisch mit der Forderung nach deutscher Souveränität gegenüber den USA und Brüssel, dem Ende der „Zinsknechtschaft“ sowie der Orientierung an Russland. Mit der europäischen Ukraine-Politik („Kriegstreiberei“) und deren Darstellung in den Medien („Kriegspropaganda“) als Aufhänger trugen die „Montagsmahnwachen für den Frieden“ im Sommer 2014 solche Ansichten, verbunden mit einer grotesk verkürzten Kapitalismuskritik, auf die Straße.

Im Spätherbst 2014 übernahmen die Pegida-Demonstrationen und ihre Ableger den Staffelstab. Mit der Parole „Wir sind das Volk“ richten sie sich gegen Einwanderung, Islamismus, „Lügenpresse“ und politische Eliten. In ihren 19 Thesen positioniert sich Pegida aber auch gegen „dieses wahnwitzige ‚Gender-Mainstreaming‘, auch oft ‚Genderisierung‘ genannt“. Damit schließen sie wiederum eine ideologische Brücke zu den Protesten gegen die Bildungsplanreform in Baden-Württemberg und die, von den französischen Manif-pour-tous-Demonstrationen inspirierte Mobilisierung unter dem Label „Demo für alle“ und „Besorgte Eltern“ – letztere wiederum eng mit Elsässers Compact-Magazin verbunden. Vom Kampf gegen „Homo-Ideologie“ und staatlich verordnete „Frühsexualisierung“ ist es nicht weit zu Lebensschützern, die von evangelikalen und anderen Schrifttreuen christlichen Strömungen geprägt werden. Nicht zuletzt greift die AfD als „natürlicher Verbündeter“ der Pegida-Bewegung (Alexander Gauland) einen Großteil dieser Punkte auf. Insbesondere der klerikal-konservative Parteiflügel um Beatrix von Storch verfolgt in Bezug auf die Durchsetzung eines heteronormativen Geschlechter- und Familienbildes genau die hier skizzierte Programmatik. Zwei Studien von Andreas Kemper zu ihren Familien- und Geschlechterpolitischen Positionen und der Politik im Europaparlament zweigen, wie gut die AfD in diesem Bereich vernetzt ist.

Ein VWL-Professor wie Bernd Lucke oder auch Sarrazin als früherer Vorstand der Deutschen Bundesbank halten sicherlich nicht viel von Zinskritik. Und unter den Montagsmahnern haben viele kein Problem mit dem Islam. Die verschiedenen Versatzstücke bilden keine kohärente Ideologie, sondern eine widersprüchliche, reaktionäre Gemengelage. Im Zeitalter der neoliberalen Alternativlosigkeit scheint diese offenbar ein attraktives Identifikationsangebot für Menschen zu sein, die ihre Opposition zum Gegebenen zum Ausdruck bringen wollen.

Anti-Gender als gemeinsamer Nenner

Auffällig ist, dass Gender ein Punkt zu sein scheint, auf dessen Ablehnung man sich über die ideologischen Differenzen hinweg einigen kann. Gender steht als Chiffre für eine fehlgeleitete, dem Volkskörper schadende Entwicklung, der mit dem Kampf gegen den „Genderwahn“ begegnet werden muss. Aus meiner Sicht liegt hier ein Schlüssel zur Erklärung der rechten Mobilisierungswelle: Es handelt sich dabei um reaktionäre Formen der Krisenbearbeitung im Kontext einer Krise der sozialen Reproduktion.

Die Krisenerfahrung, die mit dem von Gabriele Winker beschriebenen zugespitzten Widerspruch zwischen Profitmaximierung und Reproduktion der Arbeitskraft verbunden ist, wird von den benannten Akteuren als Effekt eines politisch bewusst herbeigeführten Zerfalls traditioneller Geschlechterrollen und Familienstrukturen gedeutet. Die Erfahrungen von Menschen, die unter immer schwierigeren Bedingungen dafür Sorge tragen, ihre Arbeitskraft zu erhalten, während sie sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern müssen und dafür zu sorgen haben, Kinder zu erziehen, die fit für den neoliberalen Arbeitsmarkt sind, werden damit an rechte Ideologien angebunden. Die Pegida-Mitläufer sprechen von sozialer Kälte, von der alten Frau, deren Rente nicht reicht, während man „Fremden“ angeblich alles in den Hintern schiebt. Die gesellschaftlichen Verwerfungen und zum Teil menschenunwürdigen Zustände, die durch den Verwertungsdruck herbeigeführt werden, werden auf kulturellem Terrain bearbeitet (Werte, Islamisierung, Identität etc.) und zugleich als Verteilungskampf zwischen (im völkischen Sinne) Deutschen und Nicht-Deutschen inszeniert.

Feminismus wird in diesem Diskurs mit dem Umsturz des traditionellen Familienleben verknüpft: Frauen sind erwerbstätig, wollen sich beruflich verwirklichen, finanziell unabhängig und nicht an Kind und Herd gebunden sein. Das ist richtig. Aber es stimmt leider auch, dass der Alleinverdiener, der mit seinem Lohn eine Reproduktionsarbeitskraft mitfinanzierte, für die Unternehmen teuer war. Für das Kapital ist es attraktiver, zwei Arbeitskräfte auszubeuten, die ihre Reproduktionsarbeit – partnerschaftlich oder auch nicht – nach Feierabend mit den letzten Kräften erledigen und einen Teil davon dem Markt übergeben, also von Leuten erledigen lassen, die ebenfalls ausgebeutet werden. Ohne die feministischen Errungenschaften klein reden zu wollen: Dass vor allem solche Forderungen, die zum neoliberalen Programm der Verwertung des ganzen Menschen passen, durchgesetzt werden konnten, trägt heute mit dazu bei, dass Anti-Feminismus für den rechten Backlash so zentral ist.

Care-Revolution statt Reaktion

Was tun? Ich bin nicht dafür, die „Ängste der Leute“ ernst zu nehmen, wenn das bedeutet, auf ihr rassistisches und verschwörungstheoretisches Gerede einzugehen. Wir haben Anfang der 1990er gesehen, wie schnell die Verschärfung des Asylrechts auf dem Tisch lag, als man den Rassisten zu verstehen geben wollte, dass man auf ihrer Seite ist. Ich bin überhaupt nicht dafür, mit Pegida zu reden, oder mit den Compact-Lesern oder diesen besorgniserregenden Eltern. Der Schluss, den ich ziehe, ist ein anderer.

Pegida und Co. zeigen, wie gefährlich Alternativlosigkeit ist. „Eine gut funktionierende Demokratie erfordert den Widerstreit demokratischer politischer Positionen“, schreibt Chantal Mouffe: „Mangelt es an diesem, so besteht die Gefahr, dass der demokratische Widerstreit durch eine Auseinandersetzung zwischen nicht verhandelbaren moralischen Werten oder essentialistischen Formen der Identifikation ersetzt wird. Eine liberale, demokratische Gesellschaft braucht daher die Debatte über mögliche Alternativen“ (Mouffe 2014: 29). Pegidas „Wir sind das Volk“ und Elsässers „Souveränität“ sind Beschwörungen einer essentialistisch verstandenen Identität des Deutschen. Wenn die Spur des Anti-„Genderismus“ als kleinstem gemeinsamen Nenner dieser reaktionären Strömungen richtig ist, dann ist es notwendig, eine Alternative zum neoliberalen Konsens zu formulieren, die zugleich dem Rückgriff auf traditionelle, heterosexistische Verhältnisse etwas entgegen setzt.

Politische Projekte wie das Netzwerk Care Revolution denken in diesem Sinne feministische, anti-rassistische, auf Vielfalt und die Befriedigung von Bedürfnissen abzielende Projekte zusammen und weiter. Die Gruppen, die in diesem Netzwerk zusammenarbeiten, beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Care-Arbeit. Darunter sind Menschen mit Assistenzbedarf, pflegende Angehörige, Haushaltsarbeiter*innen, Eltern, Sexarbeiter*innen, Hebammen, Kranken- und Altenpfleger*innen. Sie setzen an ihren eigenen Lebensrealitäten an und fordern einen grundlegenden, revolutionären Wandel: Ein System, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, statt die Menschen dem Profitstreben des Systems unterzuordnen. Statt den rassistischen Forderungen von Pegida eine Bühne zu geben, sind es solche Forderungen, die politisch aufgegriffen werden müssen.