„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

„Nur ein paar Schritte entfernt.“ Das steht auf meinem Handy-Display, wenn ich eine schwule Dating-App öffne und jemand sich in meiner Nähe aufhält, der dort auch ein Profil hat und gerade auf der Suche ist. Omar Mateen, der in der Nacht von Samstag auf Sonntag gezielt Besucher_innen einer „Latin Night“ im Pulse Club, einer queeren Bar in Orlando, ermordet hat, besaß Profile auf mehreren Dating-Apps. Vielleicht war er um 2 Uhr morgens online. Vielleicht öffnete jemand im Pulse Club in diesem Moment sein Profil und las: „Nur ein paar Schritte entfernt“.

Seit dieser Nacht denken die Angehörigen queerer Szenen, auch angesichts solcher Distanzlosigkeit der Bedrohungen, noch verstärkter über safe spaces nach. Und über das „wir“, das diese Orte Menschen anbieten und das diese Menschen dort miteinander herstellen. Ob dieses „wir“ auch – zumindest zeitweise – Omar Mateen einbezogen hat. Und ob es sich in den offiziellen Diskursen um Orlando gerade in ein anderes „wir“ auflöst, ein „wir“ des „offenen und toleranten Lebens“ (Merkel) oder ein schwul-lesbisches „wir“, das sich als Ziel dieses Massakers gemeint fühlt und sich mit den spezifischen Latinx-Selbstdarstellungen der Besucher der Latin Night im Pulse Club nicht wirklich auseinandersetzt.

Der Autor Justin Torres hat in einem Text für die Washington Post diesen Besucher_innen gegenüber das persönliche, das freundschaftliche „du“ verwendet und damit eine Gruppe von Menschen angesprochen, deren sexuelle Orientierung und ethnische Identifizierung bei aller Diversität einen Ort wie diesen als Alternative zum „straight white outside“ produziert: „You have known violence. You have known violence. You are queer and you are brown and you have known violence. You have known a masculinity, a machismo, stupid with its own fragility. You learned basic queer safety, you have learned to scan, casually, quickly, before any public display of affection. Outside, the world can be murderous to you and your kind.”

Nach den ersten Informationen über das Massaker im Pulse Club haben neben Torres auch Richard Kim, Martin Reichert und Adriano Sack die Bedeutung von (hauptsächlich schwulen) Schutzräumen hervorgehoben, die ein spezifisches „wir“ herstellen, in denen Körper und Gedanken für kurze Zeit vom Druck der Heteronormativität befreit sind, in denen man sich der Illusion hingeben kann, nicht von Gewalt betroffen zu sein. Gegenüber dem Außen, das dieses „wir“ letztlich als altmodisches, schräges, pittoreskes Phänomen zu betrachten scheint, dass sich irgendwann im Gesamt-„wir“ der offenen Gesellschaft, der freien Welt, des zivilisatorischen Fortschritts auflösen wird, muss es nun als Besonderes verteidigt werden, das von einzigartigen, verbindenden Erfahrungen gebildet wird. Aber dieses „wir“ der Schutzräume stellt sich immer wieder als prekär heraus, weil sich darin niemals eine wirkliche Befreiung von Klassen-, Rassen- und Gendernormen herstellen lässt. Kein Körper fließt frei im queer space umher. Eintrittspreise, Veranstaltungsprogramme, Architekturen, Nachbarschaften strukturieren die „Szene“. Auch alternative LGBT-Clubs sind Teil normativer Räume. Aber gerade weil das „wir“ so prekär ist, ist es so wichtig, es zu formulieren, deutlich zu machen, wo es nicht am „offenen und toleranten Leben“ partizipieren kann, wo es nicht eine Kulturleistung des „Westens“ ist, in welchen Freiheits-Narrationen es eben nicht mitgemeint und -formuliert wird. Es sind spezifische Erfahrungen, die an Orten wie dem Pulse Club formuliert werden, die dort einen Raum schaffen, der ein einfaches Ziel für alle bietet, die sich aus den unzähligen Satzbaukästen der Hass-Ideologien Rechtfertigungen dafür zusammenbauen können, Menschen zu ermorden, mit denen sie kein „wir“ formulieren wollen.

Nach Orlando finden sich die Antworten auf die Frage nach dem „wir“ nicht mehr in den LGBT-Befreiungserzählungen. Das macht vieles daran buchstäblich so unfassbar. Kann ich mich als weißer schwuler Mann mit den Besucher_innen der Latin Night im Pulse Club gemein machen? Kann ich begründen, warum ich das „wir“ der offenen und toleranten Merkelgesellschaft zurückweise? Kann ich nach außen einen Raum verteidigen, in dem Omar Mateen ein Bier trinkt, nur ein paar Schritte entfernt? Angesichts der vielen Texte, die nach dem 12. Juni 2016, verletzt und verängstigt und in den schlimmsten Befürchtungen bestätigt, erstmal wieder vorsichtig beim „ich“ ansetzen, muss man für die schwierige Arbeit am „wir“ plädieren, das sich historisch, durch Ein- und Ausschlüsse, gebildet hat, und das – gerade deswegen – immer wieder neu gefasst und formuliert werden muss. Denn ohne diese Arbeit wird die eigene Sprachlosigkeit im selbstbezogenen Einschluss dem Erzähltwerden durch Andere nichts mehr entgegen setzen können.