„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Ich habe einen Neffen. Er ist inzwischen elf Jahre alt. Es läuft gut bei ihm in der Schule. Ich sorge mich jedoch um ihn. Die sozialen Anforderungen der Schule machen ihm ganz schön zu schaffen. Mein Neffe ist eine scheue, filigrangeistige Person. Er hat die Liebe meiner Schwester zur Sprache mitbekommen. Er las Gedichte sobald er lesen konnte. Seine Liebe für Phantasiewelten und das Spinnen eigener Vorstellungswelten hat er von mir, denke ich. Er zieht sich ganz gerne zurück und ruht sich aus in seinen eigenen Vorstellungen der Wirklichkeit. Es scheint ein bedeutendes Refugium zu sein.

Dieser Beitrag beginnt mit einem konkreten Jungen (Angehöriger der Genus-Gruppe maskulin). Er wird aus der Perspektive der Sorgearbeit für konkrete Jungen formuliert. Ich habe mit mir verbundene Elternpersonen beobachtet. Ich habe sie dabei begleitet, wie sie sich um den Verlauf der Schulbiographie ihrer Jungen sorgen. Ich habe mit ihnen über zunehmende Schuldistanz diskutiert. Wir haben gemeinsam Lösungsvorschläge entworfen, ausprobiert, nachjustiert, verworfen, neu-entworfen, evaluiert, ganz alltagspraktisch. Diskussionen über Schulverweigerung, Lernwiderstände und Schulversagen sind eine anhaltende Realität in der Erziehungsarbeit. Da erscheint mir fast jede Lösung nachvollziehbar, fast …

Sind aber geschlechtergetrennte, geschlechtsspezifische Aufgabenstellungen nun ein Teil des Problems, oder ein Teil der Lösung?

Chimamanda Ngozi Adichie verdeutlicht, wie wir als Gesellschaft durch unsere Männlichkeitserwartungen konkrete Jungen (emotional) deformieren:

„We do a great disservice to boys in how we raise them. We stifle the humanity of boys. We define masculinity in a very narrow way. Masculinity is a hard, small cage, and we put boys inside this cage. We teach boys to be afraid of fear, of weakness, of vulnerability.“

Neue Textaufgaben, die sich an Jungen als Adressaten zu richten versuchen, unterstellen spezifische lebensweltliche Interessen. Diese sind im Wesentlichen ein Hang zum Abenteuer und Wettbewerb. In einem Vergleich von Mathe-Heften (nur) für Jungen und (nur) für Mädchen stellt Ella Carina Werner fest, dass für Jungen Themen auf der Handlungsebene als Leistungs- und Konkurrenzkampf aufbereitet werden. Es gehe folglich darum, gedanklich Piraten-Wettrennen und Papierflieger-Wettbewerbe zu absolvieren. Die spezifischen Mathe-Aufgaben für Mädchen fokussieren in ihren Vorstellungswelten hingegen Geselligkeit und Versorgung. Die einzige Referenz zum Thema Wettbewerb ist hier Konkurrenz auf der Ebene des Aussehens. Die Wettbewerbsaufgabe lautet folglich „Wer hat die längsten Haare“? Ist das so relevant für die Vorstellungswelten von Mädchen? Ist wirklich nichts mehr als Aussehen vorstellbar, wenn wir an kleine Mädchen und ihre Handlungskraft, ihre Lebensinteressen denken?

Die Dramatisierung von Geschlechterdifferenz mit Bezug auf Kompetenzen und daraus ableitbaren Lernanforderungen hat vielleicht nicht gerade Konjunktur, sie erweist sich jedoch als äußerst hartnäckig. Problematisch ist, dass diese Sichtweise sich durch sämtliche gesellschaftliche Sphären zieht. Worst Offenders wie Ferrero sind offenbar beratungsresistent. Auf die unsägliche Kampagne für rosa Überraschungseier, die „neu und nur für Mädchen“ sein sollten, folgte ein neuer Tiefpunkt: Die Polarisierung eines Produkts (wieder das Überraschungsei), das sich an Kinder(!) richtet, durch die Kennzeichnung „Spielerfrau“ vs. „Weltmeister“.

Solche schädigenden Fiktionen (Vorstellungswelten) tragen maßgeblich zu vereinseitigenden Selbst- und Handlungsbildern bei. Die Selbstwirksamkeit von Kindern wird durch die vermittelten Vorstellungen ihrer Aktionsräume und die Wertschätzung ihrer gesellschaftlichen Beiträge strukturiert. Es gibt Erstlesebücher „nur für Jungen“. Diese sind orientiert daran, was Jungen sich vermeintlich wünschen, nämlich „coole Helden, fiese Schurken, atemberaubende Spannung und jede Menge Action“. Die Nur für Jungs-Buchreihe wirbt mit „farbigen Illustrationen, spannendem Leserätsel und Extra-Seiten zum Mitmachen“. Indem die Spielinteressen von Kindern auf diese Weise weiterhin polarisiert werden, wirken geschlechterspezifische Toys als Nötigungen und Zumutungen.

Mit einem offiziellen Werbespot zur gezielten Anwerbung von Wissenschaftlerinnen für die MINT-Fächer hat auch die Europäische Kommission auf unsägliche Weise zur unnötigen Dramatisierung unterstellter Interessen beigetragen. Der Spot „Science: It’s a Girl Thing“ zeigt drei weibliche Handlungssubjekte: junge Frauen, die dem betrachtenden Blick präsentiert werden. Sie erscheinen, ähnlich wie auf einem Laufsteg, Kosmetik wirbelnd, während ein männlicher Naturwissenschaftler im Labormantel, mit Mikroskop bewaffnet, konzentriert zu arbeiten versucht (er wirkt durch die Aktion der drei jungen Frauen etwas abgelenkt).

Solche Darstellungen bergen die Gefahr, den von Adichie fokussierten engen Käfig noch enger zu fassen. Die Gefahr einer unproduktiven Verstärkung übersteigerter Männlichkeitsinszenierungen thematisieren Caryl Rivers und Rose Barnett (2008) in dem Aufsatz „The Difference Myth. We shouldn’t believe the increasingly popular claims that boys and girls think differently, learn differently and need to be treated differently.“ Sie kritisieren die breite Verallgemeinerung der These, Geschlechterdifferenz äußere sich als Kompetenzdifferenz. Diese Betrachtung ist zu oberflächlich, um die sozialen Realitäten konkreter Kinder zu erfassen. Kinder sind in ihren Lebensinteressen und Lernbedürfnissen innerhalb der zugewiesenen Genus-Gruppe heterogener und komplexer als diese Betrachtungsweise suggeriert.

Boys and Girls are different, because their brains are different. This Idea has driven Bestsellers, parenting articles, and even – increasingly – American education.“ (Rivers/Barnett 2008, Ausstreichung durch die Autorin)

Was sind denn die konkreten Lebens- und Lerninteressen von Kindern? Wie gelingt es uns die Lernwelten von Kindern näher an lebensweltliche Anforderungen und Bedürfnisse konkreter Kinder zu koppeln? Wie verstärken wir die Teilnehmer_inorientierung, eine bedeutende Stärke subjektorientierter Lernformate?

Kindliche Subjekte leisten Widerstand gegen die beständige Dramatisierung von Geschlechterdifferenz. Ein siebenjähriges Mädchen interessiert sich für Insekten. Bei der Lektüre des „Biggest Baddest Book of Bugs“ stellt sie zuerst erstaunt und dann entgeistert fest, dass dieses Buch an Jungen adressiert ist (Die Reihe heißt „For Boys“). Sie visualisiert in ihrer Vorstellungswelt ein „Book of Bugs for Everybody“. Sie schreibt mit Unterstützung ihrer Vertrauenspersonen einen Brief an den Verlag. Sie fordert dazu auf: Stop labeling books.

Kinder und Jugendliche, die sich nicht an Gendernormen orientieren wollen oder können, bezeichnet Jake Payne als Gender Independent. Die pädagogische Unterstützung von Kindern die ihre Erfahrungs- und Vorstellungsräume gender independent regeln, wird zum Glück zunehmend Gegenstand öffentlicher Debatten. Die konkreten Handlungsbarrieren und Handlungsbegründungen von genderfluiden und gender nonconforming Kindern sind leider wenig beforscht, ähnlich wie die konkreten Lerninteressen von Kindern als soziale Gruppe.

Zurück also zum konkreten Kind? Aus der Perspektive der Sorgearbeit ist die Entwicklung von Schuldistanz des eigenen oder des mit sich verbundenen Kindes eine beängstigende Erfahrung. Die Dringlichkeit der Bemühung, dieses konkrete Kind zu erreichen, zu bewegen, zu begeistern, zu unterstützen ist völlig nachvollziehbar. Eine brauchbare Lösung erscheint mir hier, mehr ins Gespräch zu kommen darüber, ganz konkret, wofür eigentlich genau die jeweiligen Kinder erworbenes Wissen und Kompetenzen gut einsetzen können. Wie kann dieses Wissen von dem kindlichen Subjekt eingesetzt werden, um das eigene Leben zu verbessern, um Handlungsbarrieren abzutragen, um eigene Handlungsräume Stück für Stück zu erweitern? Knüpfen wir doch an die Vorstellungskraft konkreter Kinder an, die meines Neffen oder des siebenjährigen Mädchens, das sich für Insekten interessiert. Tragen wir dazu bei, die Lebensinteressen konkreter Kinder als Lerngegenstände zu strukturieren, als konkrete Unterstützung, als Stärkung für ihre Lebensgestaltung.