„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Am 4. Dezember 1975 erlitt die große Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt  während eines Abendessens mit Freundinnen und Freunden in ihrer New Yorker Wohnung einen tödlichen Herzinfarkt. Mit einem Auszug aus Christina Thürmer-Rohrs Essay »Kontroversen zur Kohabitation. ›Denken von Anderswo‹, erschienen in Heft 2, 2015 der feministischen studien, erinnern wir an die streitbare Intellektuelle und gedenken ihres 40. Todestages.

Angesichts der Enttäuschung über den europäischen status quo der Lähmung und Verständigungsnot könnten wir uns damit trösten, dass die Werte der westlichen Tradition nicht nur unvollendete, sondern unvollendbare Ziele sind, Ziele im Wissen um deren Unerreichbarkeit, und dass diese wie die Demokratie selbst sich vielleicht „stets nur als Protest verwirklichen“ lassen, wie Wendy Brown ausführt (2012). Am stärksten herausgefordert werden diese Werte durch das Verhältnis zu den sogenannt Anderen. Wie sind sie in unseren Ansprüchen auf Selbstbestimmung, Selbstbehauptung, Autonomie, Glück repräsentiert?

Die allgemeinste Orientierung bildet das Prinzip der Pluralität, ein vorgängiges Prinzip, das gegeben ist und das wir uns nicht aussuchen können. In diesem Sinne sprach Hannah Arendt von dem „im Plural geschaffenen Menschen“, einer Existenzbedingung, unter der „zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“ (Arendt 1981). Damit bedeutet Bejahung der Pluralität nicht Bejahung eines erfundenen Gedankenexperiments, das Menschen sich selbst vorgesetzt haben und das also auch wieder verwerfbar wäre, sondern Bejahung unserer Existenzbedingung selbst, die wir gar nicht wählen können: die Begegnung oder Konfrontation mit der unabweisbaren Andersheit der Anderen. Pluralität ist zugleich eine Tatsache und eine moralisch politische Forderung: wir müssen sie annehmen und wir sollen sie schützen.

Damit tun sich Kontroversen auf, die das Zusammenleben mit Spannungen befrachten zwischen Eigenansprüchen und ethischen Prinzipien, zwischen subjektiven Gefühlen und objektiven Tatsachen, zwischen geschlossenen und offenen Identitäten, exklusivem Nationalstaat und offenen Grenzen, ausgrenzendem und weltoffenem Patriotismus etc. Solche Kontroversen begleiten und irritieren eine Ethik der Kohabitation, die der Politik und dem zwischenmenschlichen Verhalten Grenzen setzen muss, um Menschen vor den schlimmsten Verletzungen zu schützen, die sie einander zufügen können. Zu diesem Schutz gehört die Relativierung unserer Selbstbestimmung und die Überwindung unseres Eigeninteresses mit Hilfe eines Denkens vom Anderen her, die Vorstellung, wie es wäre, an dessen Stelle zu sein. Zwar kann sich niemand restlos in Andere hineinversetzen, kann niemand sich wirklich durch die Augen anderer betrachten und andere Standorte so übernehmen, als seien sie ganz die eigenen. Aber der Versuch, aus sich selbst herauszutreten, kann meine Kontinuität unterbrechen. Er kann konkrete, relevante, generalisierte Andere im eigenen Bewusstsein versammeln und in die eigene Gegenwart hineinholen. Sie bevölkern fortan den inneren Raum, sie bleiben im Gedächtnis, sie reden weiter, sie beobachten, kommentieren, bedrängen einen, sie stellen den Anspruch, mich etwas anzugehen. Sie sind nicht nur Bereicherungen und Vielfaltsförderer meiner selbst, sondern muten mir etwas zu. Sie weisen auf die eigenen Blickbeschränkungen hin, auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Subjekts und auf dessen Verletzungsmacht gegenüber denen, die übersehen und wegkategorisiert werden. Die Perspektive der Anderen aufnehmen heisst nicht, sie zu assimilieren und enthebt uns nicht des eigenen Urteils. Aber der Blick vom Anderen her tangiert dieses Urteil, lässt es nicht frei und zeigt, dass die hochgehaltenen Eigenrechte keine unantastbar festen Größen sind. Die Begegnungen, Konfrontationen oder Vermischungen mit Andersheit ziehen Kontroversen über den Charakter dieses Verhältnisses zu den Anderen nach sich, und diese Kontroversen sind geeignet, unsere europäischen Erbschaften und aufklärerischen Traditionen zu irritieren und damit gewohnte und für selbstverständlich erachtete eigene Wertvorstellungen zu differenzieren, zu revidieren oder auch zu bekräftigen.

Hannah Arendt hat ihre Gedanken zur Pluralität des politischen Zusammenlebens häufig mit einer Freundschaftsmetaphorik verknüpft und hat sie damit abgesetzt von Familienanalogien, die die jeweiligen Gemeinwesen als homogene Bevölkerungsblöcke verstehen wollen, zusammengehörig wie biologische Verwandtschaft. Während die „Familie“ wie ein Schlagbaum wirkt, der die Grenze zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen markiert, lebt Freundschaft von einer Differenz, die sich von Naturzwängen und Blutsbanden unabhängig macht und Verbindungen zu Anderen trotz oder wegen ihres Andersseins sucht und braucht. Die ins Politische transformierte Freundschaftsmetapher setzt nicht auf den Zusammenhalt eines fraglos vorgegebenen familialen Wir, sie grenzt sich damit auch ab von christlichen und aufklärerischen Brüderlichkeitsvorstellungen, die auf „natürliche“ Zusammengehörigkeit und verwandtschaftliche Nähe, auf die Bindungsmächte von Geburt und Abstammung verweisen und gleichzeitig auf den Ausschluss derer, die nicht zur „Familie“ gehören. Ein ins Politische transformierter Freundschaftsbegriff, der die Grundlage des Zusammenlebens im gegenseitigen Interesse der Verschiedenen sieht, besteht damit auch auf der Aktivität der eigenen Wahl, auf einer Selbsttätigkeit, mit der Menschen selbst entscheiden, mit wem sie sich zusammentun wollen und mit wem nicht, in wen sie sich hineinversetzen wollen und in wen nicht. Dieser Freundschaftsbegriff symbolisiert den politischen Zusammenhang von Differenz und Freiheit: selbstgewählte Verbindungen, selbstentschiedene Bündnisse, die Selbstermächtigung des Subjekts, wählen und entscheiden zu können.

Unsere Souveränität durch den Blick von anderswo einzuschränken, kann uns im Kern treffen und das eigene Selbstbild verletzen. Diese Einschränkung eröffnet Kontroversen zwischen Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung, uneingeschränkter Verteidigung unserer Werte und Zurücknahme ihrer Herrschaftsansprüche – Kontroversen, die uns zwingen, Uneindeutigkeiten des eigenen Urteils in Kauf zu nehmen, ohne auf das eigene Urteil zu verzichten. Das Denken von anderswo pluralisiert dieses Urteil, macht es mehrdimensional, vielleicht zwiespältig und unsauber, aber nicht überflüssig. Der Entscheidung, wo und wann und wem gegenüber Souveränitätsansprüche aufrechtzuerhalten oder aufzugeben sind, woran wir festhalten sollten und wovon wir uns verabschieden müssen, sind wir nicht enthoben. Die Pluralisierung der Stimmen ruft so wiederum unendliche Kontroversen hervor, die immer wieder neu unser Urteil herausfordern und brauchen – auch ungesichert, vielleicht schwankend.