„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Hilfe

Helfen, der_die Helfer_in, Aid, Foreign Aid, Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe, freiwillige Hilfe, hilflose Intellektuelle … Arbeit an einer feministischen und postkolonialen Kritik der Kategorie „Hilfe“ im Kontext internationaler Ungleichheitsverhältnisse war (nicht nur für mich) viele Jahre lang von zentraler Bedeutung. „Hilfe kann heutzutage fast nur noch angedroht werden“, heißt es schon 1991 bei Marianne Gronemeyer, „und wem sie angedroht wird, der muss auf der Hut sein“; schließlich machten „Modernisierungsschübe der Hilfsidee“ aus ihr doch ein „Instrument verfeinerten Machtgenusses“. Dann aber war alles „plötzlich“ ziemlich anders: Die ersten Septembertage 2015 konfrontierten mit einer Situation, die weder Zeit noch Raum ließ nachzudenken über eine Selbstpositionierung zum „Helfen“. Sicher, die Präsenz einer großen Zahl von Flüchtenden bei gleichzeitiger Absenz (sozial- und rechts-)staatlichen Unterstützungshandelns konnte, global gesehen, weder als neu noch als überraschend gelten. Gleichwohl war „die Situation“ vor allem für eine, die (österreichisch, weiß, mittelschichtig und so fort) recht nahe an der ungarischen Grenze lebt, von ganz eigener, heftiger Unmittelbarkeit. Jetzt also helfen? „Unterstützen“ klingt besser? Politisch agieren? Innerhalb der Linken versuchte vor allem die von Wien ausgehende, international vernetzte Initiative „Schienenersatzverkehr“, mit ihren Konvois gleichzeitig Fluchthilfe zu leisten und die politischen Kontexte von Flucht zu unterstreichen. Etliche meiner feministischen Wissenschafts-Kolleg*innen und -Freund*innen verbrachten lange Dienste in Refugees-Einrichtungen an Bahnhöfen und in improvisierten Unterstützungszentren für Reisende auf der Flucht. Über diese Stunden in der „banalen“ Hilfe wurde unter uns nicht viel gesprochen.

Unterstützen Intellektuelle schließlich nicht am besten, indem sie „Lagen“ analysieren, Position beziehen, auf zu Gebote stehendes Wissen aufmerksam machen, so dass begriffen werden kann, was abgeht? In den ersten Tagen der – in ihrer Qualität, nicht nur in ihrer Quantität „neuen“ – Präsenz Geflüchteter ließen solcherart Stellungnahmen auf sich warten. Es war zuerst die aktivistische Basis, die Fragmente ihrer politischen Diskussionen via Social Media und bei DIY-Veranstaltungen öffentlich machte. Es folgten die vielen Round-Table-Veranstaltungen und die Talk Shows und im Wissenschaftskontext, was Österreich betrifft, das halbherzige MORE-Programm der Universitäten, in dem „Menschen mit Fluchthintergrund“ zwar als potenzielle Studienanfänger*innen angesprochen werden, nicht aber als etwaige Wissenschaftler*innen. Prägnante queer-feministische Positionierungen vermisste ich lange.
„Nach Paris“, also nach den Anschlägen vom 13. November 2015, kamen die Analysen allerdings viel schneller. Zum Schrecken und seinen Folgen publizierten viele sehr bald. Meine Lektüre feministischer und queerpolitischer Statements zu global wirkmächtigen Gewalt- und Terror-Akten geht historisch zunächst ein Stück zurück.

„We offer the following response“

Wenige Wochen nach den Anschlägen von 09/11 (2001) zirkulierte im Netz ein Statement einer Gruppe von in den USA arbeitenden Wissenschaftlerinnen. Das Paper „Transnational Feminist Practices Against War“ von Paola Bacchetta, Tina Campt, Inderpal Grewal, Caren Kaplan, Minoo Moallem und Jennifer Terry, 2002 in Druckfassung veröffentlicht, beginnt so:

„As feminist theorists of transnational and postmodern cultural formations, we believe that it is crucial to seek non-violent solutions to conflicts at every level of society, from the global, regional, and national arenas to the ordinary locales of everyday life. We offer the following response to the events of September 11 (9-11) and its aftermath”.

Was folgt, ist ein dichtes, politisch und wissenschaftlich hoch ambitioniertes Forschungsprogramm in acht Punkten. Die Autorinnen betonen zunächst die Notwendigkeit einer kritischen Analyse der vergeschlechtlichenden und rassialisierenden Effekte von Nationalismus; sie fordern eine feministische Auseinandersetzung mit der Globalgeschichte von Exilierung, Vertreibung und Zwangsmigration; sie heben dann die Zusammenhänge zwischen Kriegsführung und gewaltförmiger Innenpolitik der USA hervor; und sie problematisieren sprachliche Figuren wie „Terrorismus“ oder „Muslim“, sofern auf ihrer Basis Ausschlüsse und Rassialisierungen gerechtfertigt und fortgeschrieben würden. Ein fünfter Punkt für dringende kritische Analyse betrifft die Sentimentalisierung, die die Geschehnisse des 11. September nur als individuelles Trauma, als Emotion thematisierbar mache; ein sechster die mediale Repräsentation der „unterdrückten“ muslimischen Frau; ein siebter das gesamte Terrain des Transnationalen mit seiner Hervorbringung neuer, auch widersprüchlicher Subjektpositionen und Bündnisformen, mit der sich differenziert auseinandergesetzt werden müsse. Zuletzt verwahren sich die Autorinnen vehement gegen eine Vereinnahmung von „Fraueninteressen“ für eine Fortsetzung nationalistischer Kriegsführung und für Fundamentalismen aller Art.

Bald danach schlossen Jasbir Puar und Amit Rai mit dem ausführlichen Text „Monster, Terrorist, Fag“ an. Sie argumentieren hier zu einem der ersten Male, es seien exotisierte „Horrorgestalten“ aus eigentlich prämodernen Diskursen, die regelmäßig durch gegenwärtige westliche Wissensproduktion zur Figur des_der Terrorist*in spukten.

Am 14. November 2015, am Tag nach den Attentaten des Daesh in Frankreich, schrieb Judith Butler einen offenen Brief aus Paris. Unter dem Titel „Mourning becomes the Law“ weist sie auf die aktuelle Verflechtung einer „Staatstrauer“, die als strikt national begrenzt inszeniert werde, mit den harschen militärischen Maßnahmen und polizeistaatähnlichen Reglementierungen hin. Der Brief beginnt mit einer Versicherung, die der Leser*innengemeinde gelten mag oder einfach der Autorin selbst: Sie war (fast) dabei. Ihr selbst ist nichts passiert. Ein Satz beschäftigt mich seither, weil ich nicht darauf komme, was er besagen will; nämlich: „Everyone I know is safe.”

„I am in Paris and passed near the scene of killing on Boulevard Beaumarchais on Friday evening. I had dinner ten minutes from another target. Everyone I know is safe, but many people I do not know are dead or traumatized or in mourning. It is shocking and terrible.”

Dass nicht alle Körper gleichermaßen betrauert werden; dass etwa geopolitischer Ort und Rassialisierung den Unterschied machen, ist im Anschluss an Butlers Arbeiten immer wieder zu betonen.

Solidarität und Stacheldraht

“(R)unning down the length of my body / staking fence rods in my flesh / splits me splits me / me raja me raja / This is my home / this thin edge of / barbwire“, schrieb – vielzitiert – Gloria Anzaldúa. Aber das stimmt so ja nicht für jede, die diesen Text mag. „Wir“ sind nicht alle (im) Stacheldraht, mich zerreißt er im Wörtlichen nicht. Ich muss „nur“ Wege finden, meine politische Solidarität gegen die Errichtung von Grenzzäunen ausreichend offensiv zu gestalten – und vielleicht Mittel der „Hilfe“ für diejenigen, die durch ihn noch durch müssen.

Der Stacheldraht ist, dies weiß die historische Forschung, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, entwickelt von (weißen) US-amerikanischen Farmern, die ihr Vieh einzäunen wollten, und als Kriegstechnologie erstmals vom britischen Militär in Südafrika eingesetzt. Der israelische Autor Reviel Netz bindet den Stacheldraht und die Geschichte von Kolonialismen und Faschismen eng zusammen. „The history of violence and pain crosses species, and so, as a consequence, did the history of modernity.”

Stacheldraht an „innereuropäischen“ wie auch an EU-Außengrenzen, in Melilla und Ceuta, im Gaza-Streifen: split it split it! Als auf Anweisung der österreichischen Innenministerin an der slowenischen Grenze Stacheldraht zur „Sicherung“ gegen Flüchtlinge ausgerollt wurde, verbreiteten sich auf Twitter die schönen Sprüche: „Legt schon mal die Bolzenschneider bereit“, und „Bolzenschneider*innen aller Länder …“

„Alle“ und „wir alle“, „wir sind verschieden und zusammen“: ja, aber welche Form von Verbindung fassen wir in Sprache? Lautet der Begriff „Solidarität“; „internationale Solidarität“? Solidarität schien doch gebunden an soziale und politische Bewegungen, an Protesthandeln, an Bündnisse gegen Ausbeutung. Die Aktivismusgeschichte der Neuen Frauenbewegung kennt die strategische Identifikation mit Subjektpositionen Marginalisierter in der sprachlichen Wendung „Wir sind alle Prostituierte, Hysterikerinnen, Lesben!“ Die Wendung „Je suis Charlie“ (usw.) aber verlagert dies meiner Wahrnehmung nach hin zu einem Betroffenheitsgestus, der eher diffus gegen Gewalt (und gegen Angst vor Gewalt) und weniger für Inhalte Stellung bezieht. Im Fall einer geografischen Position macht er dann eigentlich gar keinen Sinn mehr. Wer oder was ist denn „Paris“ oder „Beirut“ oder „Bamako“ oder was wir aktuell jetzt alle sind? Solidarität geht nun offenbar fast nahtlos in Kondolenz über. In Trauer und Traurig-Sein, in Tröstung für Furcht und Befürchtung.

Mich beschäftigt „seit Paris“ die Einsicht, wie viele sich kaum je bewusst mach(t)en, welch Privileg es darstellt/e, nachts ungefährdet durch Straßen zu bummeln. Ein Privileg von Mehrheitsangehörigen westeuropäischer Gesellschaften in ihrem Alltag in Westeuropa.

Die „unbedingte Gastfreundschaft“, über die Derrida schrieb, wäre schon etwas Schönes gewesen.

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  • Anzaldúa, Gloria (1999 [1987]): Borderlands/La Frontera. The New Mestiza. San Francisco: Aunt Lute, 24f.
  • Bacchetta, Paola/Campt, Tina/Grewal, Inderpal/Kaplan, Caren/Moallem, Minoo/Terry, Jennifer (2002): Transnational Feminist Practices against War. In: Meridians: feminism, race, transnationalism, 2, 2, 302–308 (302).
  • Butler, Judith (2015): Mourning Becomes the Law. Letter from Paris (Der Blogeintrag befand sich nur wenige Tage auf versobooks.com, wo er erstmals publiziert wurde).
  • Derrida, Jacques (1997): Cosmopolites de tous les pays, encore un effort! Paris: Galilée.
  • Gronemeyer, Marianne (1991): Hilfe. Wo geholfen wird, da fallen Späne. In: Dirmoser, Dietmar et al. (Hg.): Mythos Entwicklungshilfe. Entwicklungsruinen: Analysen und Dossiers zu einem Irrweg. Gießen: Focus, 38–69.
  • Netz, Reviel (2004): Barbed Wire. An Ecology of Modernity. Middletown: Wesleyan Univ. Press, xiii.
  • Puar, Jasbir K./Rai, Amit S. (2002): Monster, Terrorist, Fag: The War on Terrorism and the Production of Docile Patriots. In: Social Text, 20, 3, 117–148.