„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

‚Wir’ im Nordwesten Europas Lebende, die bislang an der alltagspraktischen Illusion festhalten konnten, dass sich die schärfsten – tödlichsten – Probleme, Krisen und Konflikte woanders in der Welt zutragen und Andere betreffen, erleben derzeit einen Einbruch der Wirklichkeit (Navid Kermani). Diese Wirklichkeit erscheint in der Gestalt von Menschen, die sich aus Krisen- und Kriegsgebieten auf den Weg nach Europa machen und mit ihrer körperlichen Existenz die Realität globaler Zusammenhänge und Abhängigkeiten erfahrbar werden lassen. Eine der großen Fragen der nächsten Jahre wird sein, wie wir mit dieser Wirklichkeit umgehen. Werden Formen (national)staatlicher Politik dominieren, die auf Angst und Abwehr setzen und die Verteidigung des ‚Eigenen’ qua Grenzsicherung gegenüber den ‚Anderen’ versprechen? Oder wird in der neuen, geteilten Wirklichkeit erfahrbar, dass vermeintlich klare Grenzen zwischen uns und ihnen, innen und außen, dem Eigenen und dem Anderen instabil sind und nur gewaltsam und unter hohen Kosten stabilisiert werden können? Können daraus neue, weniger gewaltsame und zerstörerische Möglichkeiten erwachsen, auf globale Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu antworten?

Gegen die Logik von Selbstverteidigung qua Grenzziehung und Abschottung – die letztlich immer eine Logik des Krieges ist – schreibt Judith Butler seit Jahren in verschiedenen Hinsichten an. Sie sieht diesbezüglich Parallelen zwischen der Formierung individueller Subjekte und dem politischen Agieren auf (national)staatlicher Ebene: Beidem unterliege ein „Modell für Handlungsfähigkeit und Intelligibilität, das sehr oft auf Vorstellungen von souveräner Macht basiert.“1)Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 63 Dieses ‚egologische’ Modell beschränkt als „unwillkürliche Dimension unseres somatischen Lebens“2)Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich: diaphanes, S. 136. unsere Phantasie darüber, welche Bedingungen wir schaffen könnten, um unsere geteilte Wirklichkeit möglichst gewaltlos zu gestalten.

Die Crux aller Versuche der Stabilisierung von Identitäten und Grenzen ist, dass diese ein Selbst voraussetzen, das vor und jenseits aller Beziehungen zu seinem Gegenüber besteht und insofern einen souveränen Anspruch auf ein bestimmtes Sein erheben kann. Dem setzt Butler entgegen, dass ein Ich nur entsteht, wenn es von Anderen als Du adressiert wird. Um mich als ein spezifisches Selbst erfahren zu können, bin ich auf Beziehungen zu Anderen angewiesen. Diese Beziehungen und die Art und Weise, in der mich Andere darin adressieren, sind durch gesellschaftliche Normen und Institutionen konfiguriert. Die Selbstwerdung des Ich ist insofern exzentrisch; sie setzt mich von Anfang an Anderen aus, ich bin in meiner Subjekthaftigkeit konstitutiv auf Andere angewiesen. Aus diesem relationalen Verständnis der Subjektwerdung ergibt sich, dass das Selbst nicht als stabiles Sein, sondern als immer in unterschiedlichen Kontexten und Beziehungen im Werden zu begreifen ist. Unser Selbst unterliegt daher nicht unserer Kontrolle; zudem bleiben wir uns selbst unergründlich, da wir niemals bewusst den Punkt des Eintritts in die gesellschaftlichen Normen als Ursprung unserer Selbstwerdung rekonstruieren können.

Das Selbst hat somit nicht nur keine eigene Substanz, es ist vielmehr durch Verluste konstituiert, denn wenn wir in bestimmter Weise adressiert und damit für uns selbst und andere als Subjekt erfahrbar werden, werden zugleich andere Möglichkeiten des Werdens verworfen. Um den Effekt der Prozesse zu erfassen, durch den die soziale Welt ins Innere aufgenommen wird und dabei zugleich in der Innerlichkeit des Selbst – als dessen eigene Affekte – verschwindet, greift Butler den psychoanalytischen Begriff der Melancholie auf. Das Subjekt kann Verluste, die es als solche nicht wahrnimmt, nicht betrauern und verleibt sie sich daher melancholisch ein, es verliert den sozialen Ursprung seiner Identität. Die melancholische Aneignung sozialer Normen bewirkt einen Verlust der sozialen Welt, „ihre Wirkungen lassen sich sehr wohl als psychischer Zustand lesen, der sich faktisch selbst an die Stelle der Welt gesetzt hat, in der er angesiedelt ist.“3)Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 167. Zugleich hebt Butler hervor, dass die Macht der gesellschaftlichen Normen in der Subjektkonstituierung „nicht immer so wirksam [ist], wie sie es sein will.“4)Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S 171. Die mit dieser Macht einhergehenden Verluste sind zwar als Verluste nicht unmittelbar zugänglich, werden aber in verschiedenen Formen von Unbehagen spürbar.

Wir leben in einer sozialen Welt, in der konstitutive Abhängigkeit in geradezu brutaler Weise zur Aufgabe individueller Bewältigung geworden ist, in der wir als souveräne Subjekte für das Gelingen unseres Lebens verantwortlich sein sollen und zugleich die fundamentale Sozialität der Gelingensbedingungen geleugnet wird. Dies führt systematisch zu Überforderung, und das daraus entstehende Unbehagen kann sich in einer diffusen Gemengelage aus Ambivalenzen und Selbstvorwürfen äußern. Es kann aber auch zu Aggression oder zumindest unterschwelliger Verachtung gegenüber denjenigen führen, die dem Gespenst unserer Angst vor Abhängigkeit eine lebende Gestalt geben. Den Anforderungen ein souveränes Subjekt zu sein, können wir uns nicht einfach entziehen. Ängste, Verunsicherung oder Wut sind angesichts der damit verbundenen systematischen Überforderungen nicht unbegründet. Um daraus jedoch nicht immer weiter eskalierende Kreisläufe der Gewalt hervorgehen zu lassen, ist es notwendig, dieses Unbehagen von der Melancholie verleugneter Sozialität zu lösen. Die mit der Verpflichtung auf Souveränität und Selbstidentität verbundene Überforderung kann sich dann in Wut auf die Verfasstheit der sozialen – und damit veränderbaren – Bedingungen wenden, die eine solche verletzende Form der Subjektivierung verlangen.

Die drängende Frage unserer Zeit, wie wir auf zerstörerische Dynamiken globaler Zusammenhänge neue, weniger gewaltsame Antworten finden können, hängt, so macht Judith Butler eindringlich klar, entscheidend davon ab, dass wir eine kritische Kraft der Phantasie freisetzen, die „es uns erlaubt, uns selbst und andere anders vorzustellen“.5)Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 53. Ethische Verpflichtungen lassen sich dann jenseits kontraktualistischer oder identitärer Engführungen begreifen und Ansprüche auf Verfügung über Reichtum und Ressourcen in radikaler Weise als ethische und politische Fragen der sozialen Verfasstheit unserer gegenseitigen Verwiesenheit formulieren. „Die Idee wechselseitiger Abhängigkeit von Leben, die ineinander eingelassen sind, begründet“, so Butler, „ein Prinzip der Gleichheit und Verbundenheit. In gewisser Weise, denke ich, artikuliert eine solche wechselseitige Abhängigkeit […] eine Alternative zu liberalen wie neoliberalen Formen des Individualismus sowie zu wachsender Ungerechtigkeit und Ungleichheit.“6)Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich: diaphanes, S. 151.

Fußnoten

Fußnoten
1 Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 63
2 Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich: diaphanes, S. 136.
3 Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 167.
4 Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S 171.
5 Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 53.
6 Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich: diaphanes, S. 151.