„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Femina Subtetrix lautet der Titel der vielschichtigen Ausstellung zum Aufstieg und Fall der APACA Textilfabrik. Realisiert wurde sie im vergangenen Herbst in der Ivan Gallery in Bukarest von den Künstlerinnen Sonja Hornung and Larisa Crunțeanu. Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Pendant zum kapitalistischen Modehaus Coco Chanel schufen sie ein Set von Skulpturen, Fotografien und Videoarbeiten, die die Geschichte der Frauen von APACA aus einer bislang unbekannten Perspektive erzählen. Schicht um Schicht legten Hornung und Crunțeanu verborgene Figuren und Motive der privaten und öffentlichen Wahrnehmung der vorwiegend weiblichen Mitarbeiterinnen von APACA im post-sozialistischen Rumänien frei – eines Landes, dass seit 1989 dramatische Veränderungen durchlebt hat. Was ließ die sogenannten „APACA Frauen“ zu einem „unsichtbaren“ gesellschaftlichen Phänomen werden?

Petre Roman umarmt eine Arbeiterin während seines zweiten Besuches in der APACA Fabrik 1996, TV Sendung, Filmstill, 2016; Quelle: https://youtu.be/cLbNaAtnNLY

Petre Roman umarmt eine Arbeiterin während seines zweiten Besuches in der APACA Fabrik 1996, TV Sendung, Filmstill, 2016; Quelle: https://youtu.be/cLbNaAtnNLY

Während die Fabrik heute nur noch etwa 700 Arbeiterinnen beschäftigt, bot APACA als eine von Südosteuropas prominentesten Textilfabriken bis 1989 mehr als 18.000 Frauen einen Arbeitsplatz. Lange Jahrzehnte galten die Frauen als fortschrittliche, produktive und gleichberechtigte sozialistische Werktätige der Textilindustrie – an einem Ort, an dem Staatsbesuche im jährlichen Kalender standen. Jedoch veränderte sich die Wahrnehmung der Frauen in den 1980er Jahren immer drastischer. Begleitet von Liaisonen einiger APACA Models mit Politikern und Männern aus der Wirtschaft, Catwalk-Parties und Skandalen verfestigte sich das Image der schamlosen und vulgären Arbeiterinnen, der „APACA girls“, die in ihrer Pause die Lieferanten befriedigen. Dieses Image entstand bereits ein Jahr nach Gründung der Fabrik, genauer 1949, als das Anti-Prostitutionsgesetz erlassen wurde, das zur Schließung des Rotlichtviertels Crucea de Piatră in APACAs unmittelbarer Nachbarschaft führte. Damals wurden viele der arbeitssuchenden Frauen von APACA eingestellt, was die Gerüchte aufkeimen ließ. Als Petre Roman, der damals populäre rumänische Premierminister von 1989-1991, die Fabrik ein Jahr nach der Revolution besuchte, ereignete sich eine irritierende Willkommensszene: Die Frauen von APACA begrüßten Petre Roman enthusiastisch und griffen dabei die diffamierenden Spekulationen über ihr angebliches sexuelles Verlangen und ihre heimlichen Dienstleistungen auf. Zahlreichen Medienberichten zufolge riefen sie im Chor: „Wir wollen keine Kent Zigaretten! Wir wollen keine fremde Währung! Wir wollen Sex von Roman! (“Nu vrem Kent! Nu vrem valută! Vrem pe Roman să ne fută!”). 1996 besucht Petre Roman, diesmal als Präsidentschaftskandidat, die inzwischen privatisierte und verkleinerte Fabrik erneut. Zu diesem Anlass entschied er sich spontan, eine der Arbeiterinnen auf die Stirn zu küssen und sich zu inszenieren als linksorientierter und „volksnaher“ Frauenheld, der ein „APACA girl“ küsst. Diese Szene aus den rumänischen Nachrichten wurde eines der prägnantesten Medienbilder des post-revolutionären Rumäniens und überschrieb die eigentlich erzählenswerte Handlung, die diesem Ereignis voraus ging: Die seitens der Frauen selbstbestimmte Aneignung und Affirmation ihres beschädigten Rufs und ihre kalkulierte Ablehnung der medialen Erwartung, der zu Folge sie auf Genussmittel wie Kent Zigaretten und eine verlässliche Währung hätten drängen müssen. In den krisenhaften Zeiten der Restrukturierung und Privatisierung der 1990er Jahre ließen sich die Frauen für einen kurzen Moment nicht von den Regeln der zutiefst patriarchalischen Gesellschaft einengen und feierten Petre Roman in proto-sozialistischer und zutiefst ironischer Manier wie einen Popstar, von dem auf politischer Ebene nichts zu erwarten sei. Diese selbstermächtigende und gemeinschaftliche Handlung wurde in der Darstellung der Medien jedoch unterlaufen und entpolitisiert. Durch die Konzentration auf den Stirnkuss, die notorische Ignoranz der politischen und sozio-ökonomischen Situiertheit der Frauen und ihrer Erfahrungen in einer Gesellschaft, die kaum das Wort „Gender“ zu kennen schien, wurde das subversive Verhalten der Frauen damals zum wiederholten Male medial instrumentalisiert.

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Installationsansicht, Fotograf: Iulian Stanciu, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Installationsansicht, Fotograf: Iulian Stanciu, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Vor dem Hintergrund dieses grundlegenden gesellschaftlichen Ungleichgewichts entschieden sich die Künstlerinnen Sonja Hornung und Larisa Crunțeanu trotz zahlreicher Interviews mit ehemaligen Mitarbeiterinnen, die Erfahrungen der Frauen von APACA durch eine radikale Abstraktion mit Hilfe der Materialien Beton, Stein und Schutt zu visualisieren. Inspiriert von Duchamps Readymade With hidden noise (1917) entwickelten sie eine Arbeit, die ebenfalls ein Geräusch eines verborgenen Objekts als Ausgangspunkt hat: eine hohle, 29 Zentimeter hohe Stehle aus Beton, die im ersten Raum der Ausstellung auf einem Bord an der Wand platziert wurde. Beim Schütteln dieser Stehle ist die Bewegung unbekannter Objekte zu hören, vermutlich ausgelöst von kleinen Steinen und Schutt aus einer post-industriellen Landschaft; und ein flüchtiges Bild von Tausenden von uniformierten Arbeiterinnen, die innerhalb eines ornamentalen Rasters vor ihren Nähmaschinen sitzen und Webarbeiten ausführen, zieht in der Imagination vorüber. Die Philosophin Sadie Plant beschreibt rückblickend das Weben als eine „gemeinschaftliche, gesellige Arbeit“, die enge Verbindungen und sogenannte „Shuttle Systeme“ möglich gemacht hat, Netzwerke, in denen Daten und Informationen zirkulieren konnten. Nach Ende des Ceaușescu Regimes sind diese Verbindungen quasi langsam versteinert, sie wurden Stück für Stück statischer und unwirksamer. So gerät die Stehle zu einem symbolischen Rest des einst vitalen „Shuttle Systems“ zwischen den Frauen von APACA und wirft bislang unbeantwortete Fragen auf: Wie konnte sich Solidarität unter Aufsicht des Staates und männlicher Autoritäten entwickeln? Existierte so etwas wie eine proto-feministische „Lady- and Sisterhood“ in der Fabrik?

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill; Quelle: http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Cultura/Stiri/DIGICULT+Mituri+urbane+Despre+fetele+de, mit freundlicher Genehmigung von Alida Mocanu

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill; mit freundlicher Genehmigung von Alida Mocanu

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill; Quelle: http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Cultura/Stiri/DIGICULT+Mituri+urbane+Despre+fetele+de+la+APACA+si+fantoma+de+p, mit freundlicher Genehmigung von Alida Mocanu

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill; Quelle: http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Cultura/Stiri/DIGICULT+Mituri+urbane+Despre+fetele+de+la+APACA+si+fantoma+de+p, mit freundlicher Genehmigung von Alida Mocanu

Ein Jahr nach der Revolution fiel Petre Romans erster Besuch in der Fabrik in eine optimistische Zeit der Hoffnung; es war damals schwer vorhersehbar, dass das Hauptareal von APACA sich in Kürze in eine Industrieruine verwandeln würde. Trotzdem waren die Mauern der Fabrik längst am Bröckeln: die Privatisierung stand unmittelbar bevor. Eine unbetitelte Fotografie im Erdgeschoss der Ausstellung zeigt Sonja Hornung, wie sie einen roten Pullover an den Rahmen einer übermalten, abstrahierten Werbetafel nahe des früheren APACA-Standortes hängt. Zunächst erinnert dieses Bild an Romans Markenzeichen, einen roten Pullover, der seine politische Ausrichtung und Nonkonformität markierte, und an den damaligen Einsatz der Farbe Rot in der Führungsebene der Fabrik. Romans Ignoranz gegenüber der Situation der Arbeiterinnen und deren Machtlosigkeit gegenüber dem Ende der Fabrik droht sich anderweitig zu wiederholen: das textile Objekt vor der Werbetafel mahnt die subsequente kommerzielle Okkupation des öffentlichen Raums in post-sozialistischen Innenstädten, die die Journalistin Agata Pyzik als „komplette Vernichtung von jeglichem leeren oder öffentlichen Raum“ beschreibt. So ist der Pullover ein Symbol für die Verschränkung von Politik, Privatisierung und femininer Arbeit mit der Hoffnung auf ein (Re-)claiming der Stadt für künstlerische und politische Artikulationen.

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Digitaldruck; Fotografin: Amaryah Paul, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Digitaldruck; Fotografin: Amaryah Paul, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Fotografie, Fotografin: Amaryah Paul, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Fotografie, Fotografin: Amaryah Paul, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Die eindrücklichste Fotografie der Ausstellung präsentiert Hornung und Crunțeanu mit maskierten Köpfen, die in einer verlassenen Landschaft zärtlich interagieren. Ihre Köpfe sind eingewickelt in rote Shirts, hingebungsvoll küsst die eine die Stirn der anderen. Während Romans Geste das Gegenteil signalisierte, produziert der vertrauliche Stirnkuss der Künstlerinnen durch die Mise-en-Scène bestimmter Parameter eine kämpferische Ebenbürtigkeit: zwei Personen desselben Geschlechts, ihre gleichermaßen verhüllten Gesichter, ihre äquivalente Größe, die gemeinsamen Merkmale der Jugend, das rote Textil, das den Sozialismus als eine politische Philosophie signifiziert und die einvernehmliche Intimität. Diese theatral-feminine (Re-)Inszenierung einer „Kuss-Performance“ auf dem Gelände von APACA verschiebt das mediale Bild der manipulierbaren Arbeiterinnen in einen widerständigen Kontext.

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Ceaușescus hypertrophes Industrialisierungsprogramm, das Geburtsratenexperiment und die inhumanen Waisenhäuser in Erinnerung rufend, betont der Kunsthistoriker und Kurator Marius Babias, dass es niemand anders gewesen sei als die während dieser Politik herangezogene „Generation der ,neuen Menschen’“, die die Diktatur von 1989 letztlich beendet habe. Auch die Frauen von APACA gehörten zu diesen ,neuen Menschen’, die die pro-natalistische Politik von 1967 bis 1989, die bereits 30 Jahre früher im Rahmen des neuen Familiengesetzes im Juni 1936 in der ehemaligen Sowjetunion eingeführt wurde, bedauerlicherweise wiedererleben mussten. Demzufolge wurde der weibliche Körper sogar schon während des Stalinismus als produktiver Körper instrumentalisiert, der die biologische Reproduktion mit dem sozialistischen Modernisierungsprojekt verbindet. In der Reformulierung dieser Beobachtung aus weiblicher Perspektive wird deutlich, warum die ,neue Frau’ unfreiwillig unsichtbar blieb: unter den ,neuen Mann’ subsumiert, ging sie zwar faktisch derselben Beschäftigung nach, erreichte aber nie einen gleichwertigen sozialen Status, ebenbürtige Privilegien und Kontrolle über ihren Körper. Im zweiten Stockwerk zeigt eine Videoarbeit zwei rote, aus der Vogelperspektive gefilmte Punkte, die roboterartig das Niemandsland von APACA durchstreifen. Nach längerer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um zwei weibliche Personen mit einer kreisrunden, roten Attrappe über dem Kopf handelt. Ähnlich wie in Margaret Atwoods dystopischem Roman The Handmaid’s Tale von 1985 werden menschliche Charaktere in roten Uniformen erkennbar – eine Bekleidung, die in Atwoods Roman auf die gesellschaftliche Position und Funktion als ,Magd’ or ,Dienerin’ für reproduktive Tätigkeiten hinweist. In dieser spekulativen Fiktion wird die Idee, dass der weibliche Körper der Nation gehört, noch monströser: über die gesamte Lebensdauer einer ,Magd’ wandert deren Körper zu mehreren Kommandanten der Elite. Die Wanderung von roten, abstrakten Punkten setzt sich auch in einer zweiten Videoarbeit von Hornung und Crunțeanu fort, in der anonyme weibliche Hände den Bewegungen der gefakten Punkte im Zeigemodus folgen, gerahmt von einer veralteten Drohnenkamera-Ästhetik. Diese distanzierten Videobilder muten an wie vordigitale Aufnahmen mysteriöser phantomatischer Erscheinungen aus einer längst vergangenen Ära.

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung, Untitled, 2015, Videostill, mit freundlicher Genehmigung von Larisa Crunţeanu und Sonja Hornung

In ihren tendenziell unheimlichen Werken weisen Crunțeanu und Hornung auf die Abwesenheit einer höheren Logik hin, auf das Defizitäre und die Regellosigkeit der post-sozialistischen Anarchie der 1990er Jahre, in der viele Menschen hohe Risiken eingingen und unschätzbare Verluste erlitten. Das Re-Erzählen der Erfahrung der Frauen von APACA richtet sich gegen die Kunst des Vergessens, die bis heute die post-sozialistische Gegenwart charakterisiert. Die fehlenden Werktitel und die prozessuale Ästhetik ihrer Arbeiten animierte die Besucher_innen zu einer quasi-archäologischen Lese- und Analysepraxis indexikalischer Spuren. Trotz der methodologischen Nähe der Künstler_innen zu künstlerischer Forschung, sind die Fakten, Dokumente und Daten kein integraler Bestandteil der Ausstellung. Vielmehr wurde hier ein besonderes Augenmerk auf die wenig beachtete Rolle der Frauen in dem durch die Künstlerinnen sogenannten „Melodrama der Privatisierung“ gelegt, das die einstigen ,Menschen der Zukunft’, Frauen, Männer und alle anderen, ganz unvorbereitet traf.

Zusatz: Seit dem 21. April 2016 ist eine Videoarbeit aus der Femina Subtetrix Ausstellung bei District Berlin im Rahmen des Projektes Public Speaking. Curatorial Practices – Fields and Techniques IV (Kuratorinnen: Xandra Popescu und Larisa Crunțeanu) bis einschließlich 27. Mai 2016 zu sehen. Adresse: District Berlin, Bessemerstr. 2-14, 12103 Berlin. Öffnungszeiten: Di. bis Sa., 14-18Uhr. Mehr Infos unter: district-berlin.com