„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

»Machen wir uns nicht vor. Wir werden vom Anderen dekomponiert. […] Wenn wir von meiner Sexualität oder meiner Geschlechtsidentität sprechen, wie wir es tun (und tun müssen), meinen wir also etwas Kompliziertes. Genau genommen ist weder das eine noch das andere ein Besitz, vielmehr sind beide als Modi der Enteignung zu verstehen, als Formen des Daseins für einen Anderen oder sogar kraft eines Anderen«, schreibt Judith Butler (2009a, 38, Herv. i. O.) in dem 2009 in deutscher Übersetzung erschienen Text Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie. Ihr Subjektkonzept entfaltet sie hier als Verwiesenheit des körperlich-materiellen, unvermeidlich exponierten und zu Anderen geöffneten, nicht über sich selbst verfügenden Selbst, das sich nicht gehört, sondern hervortritt im Modus der Enteignung. Es findet statt im Verhältnis – zu unterwerfenden und regulierenden (Geschlechter- und Sexualitäts-)Normen, aber auch zu Anderen/m, zu ›Unorten‹ (Butler), die sich der Norm, der Anerkennung und der Sprache entziehen. Das ek-statische Selbst verkörpert somit eine fundamentale Verflochtenheit mit der Welt, eine Verletzbarkeit durch Andere und eine Verletzungsmacht gegenüber Anderen. Es ist nicht-autonom, wird bewegt und verändert durch Andere_s. Es ist in einem nicht-individualistischen Sinne handlungsfähig und verantwortlich für Andere: »Wenn ich für Autonomie kämpfe, muss ich dann nicht ebenso für etwas anderes kämpfen, nämlich für eine Konzeption meiner selbst als eines ausnahmslos vergemeinschafteten Selbst, das von anderen beeinflusst wird, ebenso wie es die anderen beeinflusst, auf eine Art und Weise, die nicht immer klar abgrenzbar ist, in Formen, die nicht vollständig vorhersagbar sind?« (Butler 2009a, 41, Herv. i. O.)

Den Begriff der Enteignung, der zum einen etwa in Hinblick auf sexuelle und geschlechtliche Selbstverhältnisse die Zurichtung durch heteronormative Regime meint, zum anderen und zugleich aber auch Enteignung als Selbstbezug, als Öffnung und Empfänglichkeit für andere_s akzentuiert, ist als theoretisches und politisches Konzept von Judith Butler und Athena Athanasiou (2014) in ihren Gesprächen der Jahre 2009 bis 2012 entwickelt worden. Angesichts der Dominanz der kapitalistischen Sozial- und Wirtschaftsregime des globalen Nordens, der expandierenden neoliberalen (Selbst)Regierungstechnologien und postkolonialen Ausbeutungskonstellationen gegenüber dem ›Rest der Welt‹, erweist sich die Frage der Enteignung bei weitem nicht ausschließlich als eine Frage der Ökonomie, sondern als eine zugleich soziale und kulturelle, als eine Frage der Verflochtenheit vielfältiger Leben, die sowohl ökonomisch ist als auch das Ökonomische überbordet. »An der Ökonomie ist nichts rein ökonomisch«, heißt es im Klappentext des Buches und die Frage des Eigentums, des Besitzindividualismus ist eben keine allein ökonomische, sondern bezieht sich auf die Art und Weise der Selbst- und Weltverhältnisse. Dies ist die konzeptionelle und politische Stärke des Enteignungsbegriffs: gegen ›Verantwortung‹ als Projekt der Herrschaft weißer Männlichkeit, die auf Trennung, Gegenüberstellung von Eigenem/ Eigentum und Anderem zielt, setzen Butler/Athanasiou auf wechselseitige Verwiesenheit als Ausgangspunkt für postsouveräne Praktiken und Handlungsfähigkeit. Es geht darum, die Fiktion des souveränen, ausschließlich sich selbst verpflichteten Subjekts nicht länger zu stützen. Diese ›Responsibilisierung‹ des Subjekts bezeichnet Athena Athanasiou als »neoliberale […] Umwidmung von Verantwortung [in] unverwundbare und niemandem verpflichtete Unabhängigkeit« (Butler/Athanasiou 2014, 149). Dagegen machen sie, indem sie sich auf die höchst mehrdeutige, prekäre, instabile Position der Enteignung bzw. der Enteigneten beziehen, eine wechselseitige Verantwortung relevant. Sie forcieren eine »Disposition zur Offenheit«, die »am Anfang einer Politik gesellschaftlicher Veränderung steht« (ebd.) und die Frage des Eigenen und Eigentums der Kritik unterzieht.

Butler/Athanasiou betonen damit die doppelte Wertigkeit, aber auch das doppelte Vermögen, das mit dem Vorgang der Enteignung verbunden ist: Enteignung verweist einmal auf den »inaugurierender Akt der Unterwerfung des (werdenden) Subjekts unter Normen der Intelligibilität« (ebd., 13). In diesem Sinne bedeutet Enteignung einen konstitutiven, gewissermaßen internalisierten Verlust, dessen was nicht vorstellbar ist, und ermöglicht zugleich ein handlungsfähiges Subjekt. Enteignung ist in diesem Sinne »heteronome Bedingung für Autonomie« (ebd., 14), das heißt auch Bedingung für die Autonomie des liberalen Subjekts, das seine grundlegende Abhängigkeit verdrängt. Diese Autonomie, das ›Eigene‹ des Subjekts, ist Fiktion und verschleiert seine prekäre Hervorbringung durch Andere_s. Die dem Subjekt immanente, grundlegende ontosoziale Prekarität (precariousness) wird in der liberalen Version des autonomen Subjekts insofern umgearbeitet, als der Modus der Enteignung nun zur wichtigen, geradezu ›existenziellen‹ Frage des ›Eigenen‹, der ›Identität‹, des identifizierenden ›Wir‹ und des Eigentums wird. Das Dasein kraft eines Anderen wird verkehrt zum Bestehen auf dem Eigenen und zum (legitimen) Beherrschen jener Anderen, die nicht als frei und gleich anerkannt werden. Athena Athanasiou führt dies aus: »Zweifellos gehört das Eigentum an Grund und Boden zum Kernbestand der Onto-Epistemologie der Subjektbildung in der Geschichte des westlichen, weißen, männlichen, kolonialisierenden, kapitalistischen , besitzenden souveränen Subjekts. Ebenso grundlegend für den Liberalismus war es, die Verfügung über den eigenen Körper als Eigentum zu definieren. Und gerade der Ausschluss bestimmter Körper – paradigmatisch die der Versklavten – aus dieser klassischen Definition des Biopolitischen formte die konstitutive Verbindung zwischen Leben, Eigentum und Freiheit. Das politische Imaginäre der westlichen (post-)kolonialen kapitalistischen Moderne mit ihrem die ganze Menschheit umgreifenden Geltungsanspruch zeigt Sein und Haben ontologisch fest verklammert: Sein wird durch Haben definiert, und Haben gilt als eine Grundvoraussetzung des menschlichen Seins an sich.« (ebd, 28)

Sein als Haben und Verfügen impliziert eine gegen Andere abgegrenzte Autonomie, bei der das Eigentum der Garant für den Subjektstatus ist, konzipiert als Besitzindividualismus. Dies zeigt sich in der Verstrickung zwischen ›Leben, Eigentum, Freiheit‹ – Eigentum als Leben, Freiheit als Eigentum, Leben als Freiheit (zum Eigentum).

Enteignung meint zum zweiten den gewaltförmigen Entzug von grundlegenden Lebensmitteln (Wohnraum, Nahrung, medizinische Versorgung, Bildung, Fürsorge, Teilhabe an ›Arbeit‹ und anderes mehr). Diese Politiken der Privilegierung und Benachteiligung bis hin zum Entzug existenzieller Lebensgrundlagen erfordern Widerstand. Die Frage, die Judith Butler stellt, ist, wie der gewaltförmigen und erzwungenen Enteignung in politischen Konflikten und in den Relationen globalisierter Ungleichheiten zu begegnen ist, ohne sich auf die Anerkennung des liberalen Besitzindividualismus beziehen zu müssen (ebd., 20), der die wechselseitige Abhängigkeit und Angewiesenheit ›unserer‹ Existenzweisen leugnet. Dies ist angesichts weltweiter Fluchtmigrationen, auf die aktuell von Seiten privilegierter und geschonter Regionen überwiegend mit Abschottung, Grenzziehung dem ›Schutz des Eigenen‹ reagiert wird, aus meiner Sicht die zentrale Frage für jene Kräfte, die für ein gemeinsames Teilen der Welt einstehen wollen.

In ihrer Kritik an der restriktiven Konzeption des Menschlichen spricht Judith Butler von einem »Aufstand auf der Ebene der Ontologie, eine[r] kritische[n] Eröffnung der Fragen: Was ist real? Wessen Leben ist real? Wie ließe sich die Realität neu gestalten?« (Butler 2005, 50). Die körperlich-soziale Externalität des Selbst konstituiert ein sozio-ontologisches Verhältnis zur Ethik und zum Politischen, das nicht individuell sein kann, das nicht besitzt, sondern von Anderen enteignet, mit ihnen verknüpft, ihnen gegenüber verpflichtet ist: »Wenn ich von anderen beansprucht werde, sobald ich meinen Anspruch erhebe, wenn Gender für jemand anderen und von jemand anderem ist, bevor es mein Gender wird, wenn Sexualität eine gewisse Enteignung des ›Ichs‹ mit sich bringt, dann bedeutet das nicht das Ende für meine politischen Forderungen. Es bedeutet nur, dass man, wenn man solche Forderungen erhebt, diese für weit mehr als nur sich selbst erhebt.« (Butler 2009b, 33)

Mit dieser Konzeption von Enteignung, die nicht einfach ein ›positiver‹ Bezugspunkt ist, sondern den Blick auf die Dynamiken von Subjekt, Handlungsfähigkeit und Involviertheit lenkt, wird auch die Frage der ›Ökonomie‹ des politischen Handelns, verstanden als Relationierung, als Austauschbeziehungen, als Logiken des Beziehens, des Eigenen und des Anderen/Fremden relevant. Wenn Enteignung auch Abrücken von Besitz, von Eigentum als Grundlage von Leben bedeutet, gäbe es dann Chancen, dass andere Logiken, Ökonomien und auch Ökologien des Politischen hervortreten? Wo finden sich Konzepte des Politischen, die Politik weniger mit bürgerlich-liberalen, kapitalistischen Autonomievorstellungen verknüpfen, sondern das Stattgeben von nicht-identischer Verbundenheit und von Nichtverfügbarkeit zeigen können? Wie lassen sich Formen des kollektiven Handelns als Ausüben des gemeinsamen Bewohnbarmachens/Haltens von ›Welt‹ verstehen, die Differenzen ermöglichen, die Politik der Ähnlichkeit und des ›Wir‹ beenden und andere Relationen hervorbringen? Teil jener Bewegungen zu sein, die diesen Fragen nachgehen, ihnen antworten, ist das großartige Verdienst und die inspirierende und ermutigende Kraft der Texte Judith Butlers.


Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.
Butler, Judith (2009a): Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie, in: Dies.: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt a.M., S. 35-69.
Butler, Judith (2009b): Einleitung: Gemeinsam handeln, in: Dies.: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt a.M., S. 9-33.
Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten, Zürich/Berlin.