„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Nicht in Baden-Württemberg. Die Selbstbeschreibung „Wir können Alles, außer Hochdeutsch“ muss offenbar dringend ergänzt werden. Treffender scheint: „Wir können Alles, außer Hochdeutsch und Heterogenität“. Zumindest wenn es sich dabei um die bewusste Sichbarmachung von Heterogenität in Bezug auf Liebes-, Begehrens- und Beziehungsformen handelt, bzw. um die Vielfalt sexueller Orientierungen geht.

Ein Arbeitspapier der grün-roten Landesregierung, welches als Arbeitsgrundlage für die Bildungsplankommission gedacht war und zum Ziel hat, fünf Leitprinzipien zu verankern, wurde am 18.11.13 auf der Webpage Kultusportal Baden-Württemberg, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport veröffentlicht. Das Paper (PDF) formuliert eine systematisierte Reflexion von sexueller Vielfalt als Querschnittsaufgabe und sollte als Strukturierungshilfe für die Bildungsplanreform 2015/2016 im Bundesland Baden-Württemberg dienen. Das wurde von einem nicht unerheblichen Teil der lokalen Bevölkerung offenbar als Provokation empfunden.

Das Thema ‚Sexuelle Vielfalt als Querschnittsaufgabe‘ im Sinne einer Diversifizierung schulbezogener Inhalte und Praxen ist nicht neu. Es könnte sogar als Trend bezeichnet werden. Der Startpunkt liegt (wenig erstaunlich) in Berlin. Die Initiative Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt wurde vom Berliner Senat bereits 2010 beschlossen. Ihr liegt ein Aktionsplan zugrunde, der auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurückgeht und bereits 2009 verabschiedet worden war. Ziel des Berliner Programms ist es, einen wertschätzenden Umgang mit sexueller Vielfalt zu erwirken. Das Programm hat eine stark schulbezogene Ausrichtung und führte zur Einführung von Diversity-Beauftragten an Berliner Schulen. Diskursive Eskalationen wie sie im ‚Ländle‘ zu verzeichnen sind, sind mir hier nicht bekannt.

Nach Berlin initiierte auch Hamburg 2010 Maßnahmen im Schulbereich unter dem Titel „Akzeptanz von sexueller Vielfalt“. Auch im schleswig-holsteinischen Landtag wurde das Berliner Modell diskutiert. In Nordrhein-Westfalen beschloss die Landesregierung Ende 2010 einen Aktionsplan gegen Homophobie. In Sachsen-Anhalt wird das Thema Aktionsplan noch auf NGO-Ebene diskutiert. In Hessen stellten Bündnis 90/Die Grünen 2010 einen entsprechenden Antrag im Landtag. Dieser wurde jedoch von der damaligen CDU/FDP-Regierung abgelehnt. Bremen, Rheinland-Pfalz und Niedersachen befinden sich alle in einem Prozess der Überarbeitung ihrer Bildungspläne, um die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu verankern. Alles soweit ohne Eskalationen, trotz unerfreulichem Ergebnis in Hessen. Dann wird das Arbeitspapier in Baden-Württemberg veröffentlicht und die Wellen schlagen so richtig hoch.

Die sexuelle Vielfalt der Wutbürger_innen

Was ist nur aus den Wutbürger_innen geworden? Während der Protestaktionen gegen Stuttgart 21 schien sich eine Critical Mass engagierter, politisierter Bürger_innen zusammen gefunden zu haben. Ist diese Formierung bereits angesichts einer fälschlicherweise als „staatlich verordnete Gender-Theorie“ verstandenen Intervention brüchig geworden? Haben die hier politisierten Handlungssubjekte sich in ihre heile, homogene, heteronormative bürgerliche Welt zurückgezogen? Oder schätzt diese Konstellation von Akteur_innen die Lage als nicht so brisant ein und überlässt das Feld kollektiver Protestformen anderen Strömungen. Was ist da passiert?

Ein Realschullehrer sah sich genötigt, eine Petition gegen die ’staatlich verordnete‘ Heterogenisierung zu initiieren (am 11.12.13). Diese Petition trägt den Titel „Zukunft-Verantwortung-Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“. Die Petition wird innerhalb weniger Wochen von 192.448 Personen unterschrieben, davon 81.999 aus Baden-Württemberg. Gegner_innen des Bildungsplans organisieren außerdem mehrere Demonstrationen zwischen Februar und November 2014.

Die Mobilisierung für eine Gegenpetition misslingt. Die erste Gegenpetition wird am 07.01.14 initiiert. Diese Petition erreicht zum letztmöglichen Unterzeichnungstermin am 06.03.14 gerade mal 92.225 Unterschriften (37.681 aus Baden-Württemberg). Die zweite Gegenpetition ist eine Support-Kampagne mit dem Titel „Vielfalt gewinnt“. Sie wird am 12.01.14 initiiert und auf einer anderen Online-Plattform veröffentlicht als die ursprüngliche Petition und die erste Gegenpetition. Sie soll zur positiven Meinungsbildung durch inhaltliche Informierung beitragen.

Der Stein des Anstoßes

Gegner_innen des Bildungsplans kritisieren am Arbeitspapier eine übermäßige Fokussierung auf Fragen der sexuellen Orientierung1)Theile, Merlind (2014): Eine Überbewertung des Themas sexuelle Vielfalt in den Bildungsplänen lehnen wir ab, in: DIE ZEIT 16.01.2014. Propagiert würde die Thematisierung verschiedener Sexualpraktiken in der Schule als ‚neue Normalität‘. Die Schule als Ort gesellschaftlicher Einflussnahme scheint hier ein umkämpfter Ort zu sein. Sie erscheint beinahe als sakraler Ort, an dem es gilt, die Gefahren einer neuen Sexualethik abzuwehren.

Also bitte: Keine neuen, heterogenitätsgeprägten Standards, keine neue Sexualmoral/Sexualethik, keine Sensibilisierung für nicht-heteronormative Sexualpraktiken, keine Konkurrenz für die heterosexuelle Ehe und Familie (diese wird als eine wichtige demokratische Errungenschaft eingeschätzt – in der Sprache der ersten Petition), keine Zuwiderhandlung gegen Prinzipien der etablierten Gesundheitserziehung. Nach Ansicht der Bildungsplangegener_innen ist es offenbar gesünder, heterosexuell und heteronormativ zu leben. Diese übersteigerte Reaktion und Panikmache, diese Dramatisierung und Mobilisierung wird im Namen der bald entrechteten Eltern vorgebracht.2)Schmoll, Heike (2014): Das gute Recht der Eltern, in: FAZ 11.11.2014.

Elternrechte vs. Kinderrechte

Die Bildungsplangegner_innen befürchten eine Zersetzung einer als konstruktiv idealisierten Beziehung zwischen Elternhaus und Schule. Mir ist nicht ganz klar, was hier unterstellt wird: Dass Elternpersonen eine homogene Gruppe sind, oder dass Elternpersonen sich eine (Zwangs-)Heterosexualisierung ihrer Kinder wünschen? Das zugrunde gelegte Kindheitsbild ist veraltet. Hungerland und Luber kritisieren Perspektiven, die Kinder als passive Empfänger_innen von Ressourcen und Wissen konstruieren.3)Luber, Eva und Hungerland, Beatrice (Hrsg.) (2008): Angewandte Kindheitswissenschaften – Eine Einführung für Studium und Praxis, Weinheim und München. Kinder haben agency. Kinder haben Rechte. Diese sind unabhängig von den Rechten ihrer Elternpersonen, weil Kinder zugleich Subjekt ihres eigenen Lebens und in soziale Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden sind. Das baden-württembergische Arbeitspapier stärkt tatsächlich einen recht subjektorientierten Zugang zu den Lebenswelten und den Handlungszusammenhängen von Kindern als autonome Lernsubjekte. Das Papier weist eine recht hohe Teilnehmer_innenorientierung auf. Geht es hier vielleicht auch um Ängste bezüglich einer Veränderung der Machtdynamiken zwischen den Erwachseneninteressen und den Lebens- und Lerninteressen von Kindern.

Wie es scheint, ist es aus Sicht der Bildungsplan-Gegner_innen ok, unter gesellschaftlich nicht-anerkannten und diskriminierungsreichen Lebenszusammenhängen zu leiden. Es ist aber scheinbar nicht ok, diese Lebenszusammenhänge als positiv zu empfinden und selbstverständlich anzubieten als Elemente einer multioptionalen Gesellschaft, als möglichen Lebensentwurf. Vor allem scheint es Widerstände gegen eine institutionelle Anerkennung zu geben. Laut Petition sollen LSBTTIQ-Lebensstile und -Begehrensformen nicht als „gesellschaftlich gewollte Sexualität vermittelt werden“.

Bitte nicht weniger diskriminieren als andere Diskriminierungserfahrene

Ein opportunistisches Argument, das ich wirklich nicht mehr hören kann, lautet, dass eine benachteiligte Gruppe durch eine konkrete, diskriminierungsmindernde Maßnahme gegenüber anderen unfair bevorzugt werde. Es heißt, es gäbe eine „Überbetonung einzelner Gruppen und ihrer Interessen“. Oder, wie im Abschluss der Petition der Bildungsplangegner_innen betont wird:

„Die Werbung, sexuelle Orientierungen zu akzeptieren und sich gegen die Diskriminierung homosexueller Jugendlicher zu engagieren, steht im krassen Gegensatz zu dem weitgehenden Verschweigen von anderen Formen von Ausgrenzung an den Schulen unseres Landes: In der aktuellen Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2013) sind die Diskriminierungshinweise im Bereich Bildung und ’sexuelle Identität‘ am niedrigsten. Man sucht dagegen in „Verankerung der Leitprinzipien“ vergeblich nach ähnlichem Engagement in den Bereichen ethnischer Herkunft, Behinderung, Alter, Geschlecht, oder Weltanschauung/Religion.“

Und was ist hier nun das Fazit? Wird diese Konstellation von Akteur_innen sich ab jetzt verstärkt dafür einsetzen, dass diese benachteiligten sozialen Gruppen, um die sie sich offenbar doch so sorgen, mehr Diskriminierungsschutz erfahren? Mit einer weiteren Petition womöglich? Ich kann also jeden Tag jetzt damit rechnen, dass aus diesem Kreise eine Petition für die Verankerung rassismuskritischer Leitprinzipen initiiert wird? Ich möchte das gerne so verstehen!

Besonders skurill wird die Argumentation der Bildungsplangegner_innen, wenn sie sich selbst als diskriminiert darstellen. Dass anderen gesellschaftlichen Gruppen endlich die selben Rechte zugesprochen werden, die eine dominante Gruppe seit langer Zeit selbstverständlich genießt, bedeutet gerade nicht, dass die dominante Gruppe jetzt diskriminiert wird. Es scheint leicht zu fallen, eine diffuse Antidiskriminierungsrhetorik zu formulieren, anstatt aktiven Diskriminierungsschutz mit aufzubauen. Stattdessen wird eine zunehmende Dominanz gesellschaftlicher Randgruppen beschworen. Fühlt sich dann wohl nicht so gut an … Mal ganz abgesehen davon, dass es keine Dominanz wäre, sondern im Gegenteil eine Ausgleichung des Feldes, langfristig, vielleicht. Die Richtungskämpfe um die Zukunft von Gesellschaft und Schule halten an.

Vermutet wird offenbar eine feministische Verschwörung von außerirdischen Proportionen.4)Schmoll, Heike (2014): Das gute Recht der Eltern, in: FAZ 11.11.2014. Was sonst kann einen solchen Richtungswechsel ermöglicht haben? Erst die Einführung von Gender-Mainstreaming auf EU-Ebene und nun die Etablierung von sexueller Vielfalt in einer der Kerninstitutionen der Gesellschaft? Die Verstaatlichung von Gender Theorien und die damit verbundene endgültige Auflösung und der allmähliche Untergang der heterosexuellen Geschlechter von Mann und Frau? Worauf gründete sich eine solche Übermacht diskriminierungserfahrener gesellschaftlicher Gruppen? Sind es außerirdische Kräfte, die imstande sind, einer diskriminierungserfahrenen gesellschaftlichen Gruppe solche Macht zu verleihen? Sollten es tatsächlich Außerirdische sein, die dahinter stecken und die vorhaben, unsere schöne Geschlechterordnung kaputt zu machen, dann kann ich nur sagen … „Welcome Aliens. Let’s Make This Happen!“

Maureen Maisha Eggers

Fußnoten

Fußnoten
1 Theile, Merlind (2014): Eine Überbewertung des Themas sexuelle Vielfalt in den Bildungsplänen lehnen wir ab, in: DIE ZEIT 16.01.2014.
2, 4 Schmoll, Heike (2014): Das gute Recht der Eltern, in: FAZ 11.11.2014.
3 Luber, Eva und Hungerland, Beatrice (Hrsg.) (2008): Angewandte Kindheitswissenschaften – Eine Einführung für Studium und Praxis, Weinheim und München.