„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Franz Kafka hat eine Farbe. Ein gleißendes pink. Jedenfalls in meinem Kopf. Das liegt an Judith Butler. 2010 unterrichtet sie an der University of California in Berkeley ein Kafka-Seminar. Im Copyshop lässt sie einen Reader mit den Seminartexten erstellen. Vorne auf dem Titel ist in schwarz der ikonische Prager Autor abgedruckt – ernster Blick, verschränkte Arme. Das Titelblatt selbst ist neonpink. Als der Kurs beginnt, sagt sie: „I guess they thought this class is about a queer Kafka.“ Selbstironisch witzelt sie, im Copyshop habe es offenbar eine Assoziationskette gegeben – Professor Judith Butler, macht die nicht immer irgendwas mit „Queer“? Und ist pink dafür nicht irgendwie die richtige Farbe?

Eigentlich ging es in dem Seminar um „Kafka and his Commentators“. Um die Bedeutung, die er im Denken der Kritischen Theorie hatte. Man kann natürlich, auf der Ebene der Text- und Figurenanalyse, ein „queeres Reading“ von Kafkas Erzählungen und Romanen vornehmen. Aber Kafka ist mehr als seine literarischen Texte. Monolithisch steht sein Name in der Literatur- und Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. „Kafka“ ist Kult, ein Star, eine Norm – für Benjamin, Adorno, Arendt, und all die anderen Großen. Sein Name verspricht Profit und Kapital, mit dem sich wuchern lässt. 2013 wurde ein achtseitiger Brief von Kafka für 154.000 Euro versteigert; 1988 ging das Manuskript seines Romans Der Prozess für 3,5 Millionen Mark an das Literaturarchiv Marbach. In ihrem Essay Who Owns Kafka (2011)1)Judith Butler: Who Owns Kafka?, in: London Review of Books 3 (2011), http://www.lrb.co.uk/v33/n05/judith-butler/who-owns-kafka. bezeichnete Butler ihn deshalb als „Gold-Standard“: Er ist wertvoll im buchstäblichen wie symbolischen Sinne.

Der pinke Kafka verfolgt mich seitdem. Ich habe mich immer wieder gefragt, was das eigentlich sein könnte – ein queerer Kafka. Müsste er nicht all das, was an seinem symbolbehafteten, kanonisierten Namen eine Normativität des Denkens verkörpert, durchschütteln?

Giving an Account of Oneself

Im Werk von Judith Butler ist „Kafka“ nicht nur ein Name eines Autors. In späteren Texten (etwa Am Scheideweg, 2013) wird sie sich immer wieder auf ihn beziehen. 2002 aber hält sie am Frankfurter Institut für Sozialforschung ihre Adorno-Vorlesung Kritik der ethischen Gewalt. Hier wird Kafka zum ersten Mal als zentraler Baustein ihres Denkens erkennbar.

Im Original trägt die Vorlesung den Titel Giving an Account of Oneself. Ausgehend von eben diesem (nur schwer übersetzbaren2)To give an account of oneself bedeutet „sich oder jmd. Rechenschaft ablegen“, „sich erklären“, „seine Geschichte erzählen“, „seine Rechnung oder Schuld begleichen“.) Begriff der accountability entwickelt Butler eine Ethik der Anerkennung, die um die prekäre Souveränität des Subjekts weiß. Gerade weil das eigene „Ich“ nicht accountable sei, wie sie schreibt, also keine vollständige Rechenschaft über seine Identität und Geschichte abzulegen vermag, begreift Butler das Ich als ethisches Wesen. Die Unzulänglichkeit, Verletzbarkeit und Bedürftigkeit des Ichs wendet sie positiv und macht sie zur Bedingung für moralisches Handeln am Gegenüber, das ebenso unaccountable sei.

Butler entwickelt diesen Gedanken mit Kafkas Erzählung Das Urteil, die von einer gewaltvollen Familienbeziehung handelt und darin endet, dass der Vater seinen Sohn Georg mit den Worten „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens“ aus der gemeinsamen Wohnung treibt. Georg stürzt sich daraufhin von einer Brücke; der Text schließt mit dem Satz: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“3)Franz Kafka: Das Urteil, in: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt am Main: Fischer 42002, S. 39–52, hier: 52. Butler zieht die Erzählung zunächst als ein Beispiel für ethische Gewalt heran. Sie liest den Suizid Georgs als eine Folge des väterlichen Sprechakts, der ihn als adressierbares Subjekt ausgelöscht hat: „In einem höchst realen Sinne überleben wir nicht, ohne angesprochen zu werden, was bedeutet, dass die Anredeszene der ethischen Überlegung, dem ethischen Urteil und dem ethischen Verhalten förderlich sein kann und sollte.“4)Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 69.

Doch geht es hier nicht nur um die bloße Handlungsebene. Butler betont die performative Kraft des Erzählvorgangs als solchem, der „eine besondere Beziehung zum Überleben“5)Butler, Kritik der ethischen Gewalt (wie Anm. 4), S. 84. besitze: Georg stirbt, aber die Erzählung bleibt. Die narrative Stimme des literarischen Textes restituiert seine Geschichte. Der „geradezu unendliche Verkehr“ auf der Brücke, mit der die Erzählung endet, steht somit auch für den geradezu unendlichen Deutungsverkehr, der sich an Das Urteil angeschlossen hat und der sich bei jeder Kafka-Lektüre wieder neu als eine „Anredeszene“ für die Leser*in konstituiert.

Giving an Account of Myself

Kafkas Erzählung Das Urteil wird in Butlers Argumentation zum manifesten Ort des Widerstands gegen die tödliche Souveränität eines autoritären Sprechakts. Ein emphatischerer Literatur-Begriff, als Butler ihn hier implizit entwickelt, ist kaum vorstellbar. Sie begreift Literatur als eine Kritik ethischer Gewalt, weil Literatur von Gewalt erzählen kann.

Allerdings wird Kafka hier einmal mehr zum „Gold-Standard“ erklärt. Seine Texte sind nicht nur Beispiele für die ästhetische Kraft und sogar ethische Bedeutung der Literatur. Kafkas besondere Bedeutung in Butlers Denken – sein Wert – bemisst sich auch an der langen Reihe ihrer Vorgänger-Kommentator_innen: Benjamin, Scholem, Adorno, Arendt, Derrida. Für sie alle hat Kafka einen zentralen Status, sie alle nutzen Kafkas Texte, um über die Form und Geschichte der Moderne nachzudenken. Durch diese emphatischen Bezugnahmen ist sein Name im 20. Jahrhundert zunehmend zur fast hegemonialen Denkfigur geworden – auch für Judith Butler. Intellektualitätsgeschichtlich betrachtet, hat auch sie keinen queeren Kafka zu bieten. Er bleibt eine Norm.

Mich hat diese Erkenntnis anfangs enttäuscht. Doch diese Enttäuschung sagt etwas aus über falsche Ansprüche, was eine Philosophin (für mich) zu leisten hat. Reicht es nicht, mich in eine krisenhaften Zustand des Fragens getrieben zu haben? Am Ende ihrer Adorno-Vorlesung schreibt Butler, es gehe darum, „dass wir uns gerade in den Momenten unseres Unwissens aufs Spiel setzen, wenn das, was uns prägt, von dem abweicht, was vor uns liegt“.6)Butler, Kritik der ethischen Gewalt (wie Anm. 4), S. 180. Ich lese das als eine Definition queeren Denkens. Es ist ein Denken, das unaccountable ist: Es weiß um seine historische und epistemologische Inkommensurabilität. Queeres Denken gesteht ein, auf literarische und philosophische „Anredeszenen“ angewiesen zu sein. Kafka ist für mich – durch Butler – zu einer solchen Anredeszene geworden. Er steht für ein Zwiegespräch mit offenem Ausgang.

Fußnoten

Fußnoten
1 Judith Butler: Who Owns Kafka?, in: London Review of Books 3 (2011), http://www.lrb.co.uk/v33/n05/judith-butler/who-owns-kafka.
2 To give an account of oneself bedeutet „sich oder jmd. Rechenschaft ablegen“, „sich erklären“, „seine Geschichte erzählen“, „seine Rechnung oder Schuld begleichen“.
3 Franz Kafka: Das Urteil, in: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt am Main: Fischer 42002, S. 39–52, hier: 52.
4 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 69.
5 Butler, Kritik der ethischen Gewalt (wie Anm. 4), S. 84.
6 Butler, Kritik der ethischen Gewalt (wie Anm. 4), S. 180.