„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November 2017 ist historisch. Daran besteht kein Zweifel. Hier wurde das Ende der Geschlechterdichotomie im deutschen Recht eingeläutet. Mit dem Auftrag an den Bundestag bis Ende 2018 entweder ein drittes Geschlecht einzuführen oder Geschlecht als Kategorie abzuschaffen, beginnt eine Zeitenwende. Wie ist dieses Urteil einzuordnen? Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Und was bedeutet es für die Zukunft der Geschlechterpolitik in Deutschland und Europa? Ich diskutiere das Urteil hier erstens als das Ergebnis langjähriger sozialer Mobilisierung intergeschlechtlicher Menschen und zweitens als Beispiel dafür, wie marginale Akteure sich durch internationale Institutionen Gehör verschaffen können. Beide Faktoren halfen der Demokratie in der Bundesrepublik auf die Sprünge.

Schon seit den 1990er Jahren machten intergeschlechtliche Menschen auf ihre unhaltbare Situation aufmerksam und versuchten, ihr Ausgesetztsein und ihre extreme Marginalisierung zu politisieren. Im Korsett medizinisch induzierter heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit haben viele von ihnen erlebt, wie ohne eigene Zustimmung über ihre Privatsphäre und Körperlichkeit scherwiegende und lebenslange Entscheidungen getroffen wurden. So lange das Thema Intergeschlechtlicheit oder Intersexualität aber als ein rein medizinisches angesehen wurde, blieben die Demonstrationen, Medienberichte, Petitionen, gerichtlichen Klagen und Kleine und Große Anfragen im Bundestag erfolglos. Unsere Demokratie war zwar pluralistisch, hatte aber entscheidende Scheuklappen: intergeschlechtliche Menschen existierten rechtlich nicht und ihre Belange waren ganz einem medizinischen Diskurs unterworfen. Die Politik blieb taub.

Auf die Sprünge half der öffentlichen Diskussion und rechtlichen Lage erst der Druck von außen und oben! Zunächst war die Gruppe Intersexuelle Menschen e.V. unter der Leitung von Lucie Veith bedeutsam, denn sie schmiedete ein sehr breites und buntes Netzwerk aus zivilgesellschaftlichen Unterstützer*innen, Jurist*innen, Menschenrechtler*innen, dem Deutschen Frauenrat und anderen Akteuren, die sich den Forderungen nach einem Ende medizinischer Eingriffe an intersexuellen Kindern annahm. Doch wirklich in die Gänge kam die deutsche Politik erst als Reaktion auf die Aufforderung der Vereinten Nationen in New York, sich umgehend den gravierenden Beschwerden intergeschlechtlicher Menschen anzunehmen. Die UN übernahm die Sichtweise der sozialen Bewegung und präsentierte das Problem als politisches und nicht medizinisches. Internationale Kritik am Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen kam der Bundesrepublik ungelegen, denn wenn Verletzungen zentraler Menschenrechte, wie der physischen Integrität, öffentlich werden, reagiert Deutschland immer noch empfindlich.

Es ist nicht nur ein Detail der Geschichte, sich in diesem Verhandlungsprozess die Revolution der Geschlechterpolitik vor Augen zu führen: ein kleiner lokaler Verein intergeschlechtlicher Menschen wird von einer Frauenlobby in ihrem Anliegen unterstützt, ihre Beschwerde bei CEDAW, dem Frauenrechtsvertrag der UN, vorzutragen. Marginale und sub-nationale Akteure machen große Politik. Rechte für Inter* sind Frauenrechte und Frauenrechte sind Menschenrechte geworden! Die Definition von ‚Frau’ als rechtlich eindeutige und biologische Kategorie ist auch bei der UN in Auflösung begriffen. Diese Entwicklung spiegelt sich konsequent im Urteil des Verfassungsgerichts wider.

Wie wird sich das Urteil nun auswirken? Wird ein drittes Geschlecht eingeführt oder Geschlecht als rechtliche Kategorie abgeschafft? Die zentrale Frage für intergeschlechtliche Menschen erscheint mir, wie sich die Medizin nun positioniert? Bisher ist es trotz der Reform des Personenstandsrechts von 2013, das ein Auslassen des Geschlechtseintrags bei inter* Neugeborenen vorsah, nicht zu einer deutlichen Verminderung von geschlechtszuweisenden Operationen gekommen. Ob es die Einführung eines dritten Geschlechts täte, ist daher anzuzweifeln. Die Mühlen medizinischer Prozedere und Kategorien mahlen langsam und intergeschlechtliche Menschen sehen sich immer noch einem massiven Diskurs der ‚Korrektur’ ausgesetzt. Daher wäre eine Abschaffung der Kategorie Geschlecht zu befürworten.

Politisch werden sich nach dem Rechtsruck im neuen Bundestag sicher emotionale Diskussionen über dieses Urteil und die Diffusion von inter* Rechten in verschiedene Lebensbereiche und der EU entfalten. Manche Parlamentarier werde das Ende des Abendlandes vorhersehen. Der Anti-Gender Diskurs wird hier ein ganz neues und breites Betätigungsfeld finden. Nun Kurs zu halten, sich miteinander zu solidarisieren und an einem progressiven Menschenrechtsdiskurs festzuhalten, sollte das Ziel sein. Eine mutige Geschlechterpolitik würde die Demokratie stärken. Download site rips for free


von Wahl, Angelika, 2017, Throwing the Boomerang, Intersex Mobilization and Policy Change in Germany, in: Louise Davidson-Schmich (Hg.), Gender, Intersections, and Institutions, Intersectional Groups Building Alliances and Gaining Voice in Germany, Ann Arbor: Michigan Press, S. 35-59.

___, 2017 (im Druck), Die Re- und De-naturalisierung der Geschlechterdichotomie: Intersexualität zwischen Medizin und Menschenrechten, in: Bauer, Gero, Regina Ammicht Quinn, und Ingrid Hotz Davis (Hg.), Die Naturalisierung des Geschlechts: Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit, transcript Verlag.