„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Die Erfahrung, in Bewegung zu sein, gründet in der Erfahrung von Resonanz. Auf Antworten stoßen, Widerhall finden, wirksam werden – das trägt, das bindet und ist doch aus demselben Stoff, aus dem sich Projektionen kollektiver Stärke und die trügerische Gewissheit von Gemeinsamkeit speisen können. Keine der feministischen Denkerinnen der Anfangsjahre der neuen Frauenbewegung in der Bundesrepublik hat diese Ambivalenz eindrücklicher ausgeleuchtet als Christina Thürmer-Rohr. Ihre kompromisslose Zurückweisung aller Unterstellungen einer Gleichbetroffenheit und Ähnlichkeit von Frauen als Opfer oder „letzten Ausweg“ (Garaudy) schlug bei der Veröffentlichung 1987 hohe Wellen. Ich erinnere bis heute das Gefühl einer Aufregung, die mich bei der Lektüre erfasste, einer Aufregung die sich einer bis dahin nicht gekannten Mischung aus grundsätzlicher Zustimmung, ja, Verbundenheit, und inhaltlichen Vorbehalten in einigen Details verdankte.

Auch wenn die Zersetzung feministischer Grundüberzeugungen in den Vagabundinnen-Essays (Thürmer-Rohr 1987) von Ferne an die in etwa zeitgleich formulierten Kritiken Schwarzer Feministinnen aus den USA und England erinnert und eine Emphase zeigt, die der späteren poststrukturalistischen Dekonstruktion eines Kollektivsubjekts „Frauen“ ähnelt, ist Christina Thürmer-Rohrs Kritik in einer unverwechselbaren Tonlage formuliert. Dies hat nicht nur etwas mit der Unverwechselbarkeit einer individuellen Ausdrucksweise zu tun, die es zweifellos ist. Diese bildet sich selbst aber in einem gesellschaftlich-kulturellen Kontext heraus, einem spezifischen historischen Resonanzraum, der unsere Wahrnehmung einfärbt und die Motive nahelegt, die das Denken und Sprechen in Bewegung bringen. Die historische Überantwortung bestimmter Probleme beeinflusst auf vielfältige Weise unsere Art des Fragens, des wühlenden Forschens, des Hindenken-Müssens und die damit verbundenen affektiven Besetzungen, auch wenn wir dessen nicht immer gewahr sind. Wir können es weder erzwingen noch verhindern, dass auch auf diese Weise Resonanzpotential entsteht, Resonanz zwischen denen, die eine geschichtliche Erfahrung teilen. Und doch ist das etwas Anderes als pure Zeitgenossinnenschaft, Kontemporalität, Kohortenschicksal. Man muss das historisch Nahelegte auch aneignen, das Hindenken-Müssen wollen, das Hindenken-Wollen müssen.

Die Trümmer vergangener Katastrophen liegen in der Gegenwart. Und es sind viele. Christina Thürmer-Rohr denkt aus der Fassungslosigkeit heraus, aus der Verzweiflung über den Wahnsinn einer Geschichte von Kriegen und Vernichtung, einer Geschichte, die nicht vergeht, sondern sich in immer neuen Steigerungen fortschreibt. „Dass es ‚so weiter‘ geht ist die Katastrophe“, schreibt Walter Benjamin (1982, 592) im Passagenwerk. Und an dem, was diese furchtbare Kontinuität ermöglicht, an dem Überhang an Vergangenem, der in die Zukunft ausgreift und die Möglichkeiten immer schon verstellt hat, arbeitet sie sich ab. Das ist das Lot, das Maß ihrer keineswegs unmäßigen Kritik. Unmäßig ist allein der gesellschaftliche Wahnsinn, die „monströse Bösartigkeit der Fakten unserer Zeit“ (Thürmer-Rohr 1987b, 23): „…in diesem Jahrhundert gab es Vor- und Einübungen in die Gegenwart, die kaum eine menschliche Phantasie sich bis dahin auszudenken getraut hat“ (Thürmer-Rohr 1987b, 21). Und keiner solle mehr sagen, die Lage sei nicht klar.

Die existenzielle Dringlichkeit ihres Denkens, die in immer neuen Wendungen umkreiste Erfahrung, mit Worten das nicht fassen zu können, um was es eigentlich geht, sind mir sehr nah. Christina Thürmer-Rohrs Empfindlichkeit für Sprache, das überscharfe Bewusstsein für die Korrumpiertheit der Begriffe, mit denen wir die Gegenwart begreifen und zu gestalten beanspruchen (Frieden, Fortschritt, Zukunft, Modernität, Humanisierung), für den Selbstbetrug, den wir begehen, wenn wir uns Paradiese ausmalen und uns selbst Schöndenken – sie stehen für eine Form des Welt- und Selbstbezugs, die im akademisch gewordenen Feminismus unserer Tage seltener geworden ist. Vernehmbarer als das schonungslose Aussprechen eigener Sprachlosigkeit ist heute eine professionalisierte Gender- und Diversity-Expertise, die sich zuweilen allzu mimetisch zum Gerede der Humankapitalisten verhält und das, wenn schon nicht für selbstverständlich, so doch für taktisch geboten ansieht.

„Wir müssen alles neu überdenken. Wir sind zurückgeblieben“, schreibt Christina Thürmer-Rohr in dem Essay „Abscheu vor dem Paradies“ (1987b, 36), und ich erinnere gut, dass ich diese Einschätzung, diesen Impetus, aufs Ganze zu gehen, aus vollem Herzen ebenso teilte, wie die Ahnung, dass Wissenschaft, die sich für dieses Vorhaben als allein autorisiert ausgibt und auf deren Versprechen auch ich mich eingelassen hatte, nicht hinreicht. „Hier ist momentan nur noch antisystematisch und aphoristisch weiterzumachen, oder lyrisch oder musikalisch“ (ebd.). Ja!

Und doch führt in der feministischen Kritik, sofern sie sich auch in theoretisch reflektierenden Formen und in der Tradition einer Aufklärung artikulieren will, die ihr Scheitern zu begreifen sucht, kein Weg an der Mühsal der Ebenen vorbei. Was bleibt anderes, als an der Aufgabe festzuhalten, mit Begriffen gegen Begriffe zu denken (Adorno 1970, 19) und der Arbeit an einem Reflexionsvermögen, das sich nicht abschottet und professionell verengt. Das von der Musik lernt, von der Poesie und von allen Facetten der Vernunft.

In einem Punkt gab es zum Zeitpunkt der Mittäterschaftsdiskussion ein Moment der Nichtübereinstimmung. Das betraf die Auffassung von einem weiblichen Sozialcharakter. In Abgrenzung gegenüber jenen, die in „Weiblichkeit“ lediglich ein ideologisches Konstrukt sahen, fasste Christina den Sozialcharakter als „Realisierungen (patriarchaler Zuschreibungen von Weiblichkeit) im Verhalten, Denken, Fühlen etc. der Frau“ (Thürmer-Rohr 1989, 87). Diese Verbindung zwischen Verhältnissen und Verhalten erschien mir kurzschlüssig. Mit Susanne Kappeler, die das Roundtable-Gespräch der Mittäterschaftstagung kommentierte, fand ich es richtig, auf der Notwendigkeit der gründlichen Unterscheidung zwischen Weiblichkeit und Frauen zu insistieren. Mit Christina teilte ich die Frage nach der Verinnerlichung von bürgerlichen Weiblichkeitsnormen und deren Kritik, fand aber Antworten plausibler, die den widersprüchlichen und durch andere Verhältnisse gebrochenen Charakter des Zusammenhangs von Individuation und Vergesellschaftung auch in der geschlechtstypisierenden Sozialisation ernst nahmen.

In der Musik bezieht sich Resonanz auf Schwingungen, auf Widerhall und Steigerung, auch auf das Mitschwingen von Saiten, die nicht gespielt werden. Für mich ist Christina eine wichtige Wegbegleiterin – auch ohne kontinuierliche Begegnung oder persönlichen Austausch. In ihren Texten habe ich eine Stimme gehört, die etwas auslöste, weil sie etwas mir Wichtiges auf ganz andere Weise ausdrückte, als ich es vermocht hätte. Das klingt nach.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk. In: ders. Gesammelte Schriften, Bd. V. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Thürmer-Rohr, Christina (1987): Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Thürmer-Rohr, Christina (1987a): Das Ende der Gewißheit. In: Vagabundinnen. Feministische Essays, dies., Berlin: Orlanda Frauenverlag, 9-20.

Thürmer-Rohr, Christina (1987b): Abscheu vor dem Paradies. In: Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 21-37.

Thürmer-Rohr, Christina (1989): Mittäterschaft der Frau – Analyse zwischen Mitgefühl und Kälte, In: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Hrsg. von Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 87-104.