„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Der Cross-over-Aktivistin und feurigen Feministin Johanna Elberskirchen (11.4.1864-17.5.1943) zum 160. Geburtstag 

Christiane Leidinger

Die Autorin ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin und hat eine Professur an der Hochschule Düsseldorf inne.

„Der reine Feminismus ist nolens volens radikal. Notwendig schließt er (…) Mäßigung, Beschränkung, Halbheit aus. Feministisch sein heißt keineswegs un à tout prix ein Recht für eine kleine Anzahl Frauen auf Kosten der anderen Frauen ergattern zu wollen – feministisch sein, das heißt immer nur für Gesamt-Befreiung des gesamten weiblichen Geschlechts kämpfen.“1

Mit diesen zeitlosen Sätzen interveniert Joha­nna Elberskirchen 1913 in die hitzige Debatte über das Frauenstimmrecht in Deutschland: Die Mehrheit der frauenbewegten Aktivistinnen gibt sich um 1912/1913 mit einem Stimmrecht für bürgerliche und adelige Damen zufrieden; diejenigen Feministinnen, die wie Elberskirchen das Dreiklassenwahlrecht abschaffen wollen, geraten in diesem „schlimme[n] Schwesternkrieg”2 in die Defensive.

Parallel dazu erfolgen antifeministische Presseattacken gegen die „wilden Wahlweiber”.3 Auf persönliche, antifeministische und lesbenfeindliche, Beleidigungen – „unflätige[n] anonyme[n]“ Zuschriften – kontert Elberskirchen mit Leserinnenbriefen, Artikeln, Erklärungen und Androhungen juristischer Schritte.4 Beim allerersten Internationalen Frauentag am 19. März 1911, den die Sozialistin Clara Zetkin (1857-1933) als jährlichen Frauenkampftag angeregt hatte, spricht die 47-jährige Johanna Elberskirchen in Mülheim und Dünnwald, heute Stadtteile von Köln.5 Nicht nur hier wird ihre potentielle Scharnierfunktion zwischen verschiedenen Sozialen Bewegungen deutlich. 

Über den radikalen Flügel der Frauenbewegung hinaus war Johanna Elberskirchen in der Homosexuellenbewegung, in der Arbeiter*innenbewegung sowie in der Lebens- und Sexualreformbewegung aktiv – etwa im Wissenschaftlich humanitären Komitee des Berliner Arztes Magnus Hirschfeld (1868-1935) und in der Weltliga für Sexualreform. Eine Freundin von Haupt- und Nebenwidersprüchen war sie ebenso wenig wie von sexistischen und kapitalistischen Verhältnissen.

„Ausbeutung ist Ausbeutung! Kapitalismus ist Kapitalismus!“ schreibt sie 1897.6 Insofern waren Konflikte vorprogrammiert. In der Linken. Unter Frauen. Bei den Wissenschaftler*innen, unter Homosexuellen. Den einen war Elberskirchen zu bürgerlich, den anderen zu wenig; den meisten ohnehin zu radikal, zu offensiv, zu laut, zu feministisch.

Johanna Elberskirchen war wohl das, was man eine unbeugsame Frau nennen kann, und sie schreckte entsprechend auch nicht vor Autoritäten zurück. Das Entree ihrer Replik gegen das sexistische Machwerk „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes” (1900) des Neurologen Paul Julius Möbius (1853-1907) lautet angriffslustig: „Ich hätte auch schreiben können, Feminismus und Schwachsinn, denn die Kritik, die im Namen der Wissenschaft am Feminismus verbrochen wird, hat oft mit Wissenschaft wenig zu tun.“7 Dabei wurde es ihr nicht gerade in die Wiege gelegt, Wissenschaftler öffentlich in Frage zu stellen: weder hinsichtlich ihres Geschlechts noch ihrer sozialen Herkunft. 

Johanna Elberskirchen wird am 11. April 1864 in Bonn in eine sogenannte kleine Kaufmannsfamilie geboren. Die Eltern betreiben einen Gemischtwarenladen in der Innenstadt. Sie heiratet nicht, zieht 20-jährig 1884 nach Rinteln und arbeitet dort für ihre ökonomische Unabhängigkeit als Kassiererin: eine „Tretmühle“. Erste schriftstellerische und andere publizistische Texte folgen. Außerdem schreibt sie eine Art Fanbriefe an den Schweizer Dichter Gottfried Keller (1819-1890) und kommuniziert mit ihm über seine und ihre Gedichte.8 „Dann sprang ich in die akademische Bahn“, beschreibt sie ihren Weg 1898 in Sophie Patakys (1860-1915) „Lexikon deutscher Frauen der Feder“.9 Zuvor hatte Elberskirchen sich schon eine höhere Mädchenbildung erkämpft und nun den Zugang zur Universität: Von 1891 bis 1898 studiert sie – ohne Abschluss – Medizin, Jura und Volkswirtschaft in Bern und Zürich. Denn in der Schweiz war es Frauen sehr viel früher erlaubt, ein reguläres universitäres Studium aufzunehmen. Parallel publiziert sie und hält Vorträge (Elberskirchen, Johanna: Socialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Socialdemokratie? Zürich: Verlags-Magazin J. Schabelitz 1897). Frech, ironisch, bissig, polemisch, provokativ, feurig und bisweilen schwer erträglich pathetisch ist ihr Stil.

Um 1900 kehrt sie ins Rheinland zurück. Sie arbeitet weiter als Publizistin, dann als Naturärztin in einem Sanatorium in Finkenwalde (Zdroje) bei Stettin (Szczecin), als Säuglingsfürsorgerin in Berlin und zuletzt ab 1920 als Heilpraktikerin in Kalkberge, einem Ortsteil in Rüdersdorf bei Berlin in eigener Praxis.

1913 mobilisiert sie mit Aktivist*innen des Reichsvereins für Frauenstimmrecht vergeblich zu einer Friedensdemonstration in Bonn.10 Kurz zuvor war sie aus dem Bonner Ortsverein der Sozialdemokratie ausgeschlossen worden: aufgrund ihres feministisch-bürgerlichen Engagements für das Frauenstimmrecht – und politisch besonders bitter – trotz ihrer eindeutigen politischen Haltung gegen das Dreiklassenwahlrecht. Dies hindert sie jedoch nicht daran, in Rüdersdorf bei Berlin wieder in die SPD einzutreten. Am 1. Mai 1920 hält sie im roten Kalkberge mit dem prominenten Genossen Emil Eichhorn (1863-1925) aus der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratie, und Polizeipräsident aus Revolutionszeiten, eine Rede.

Die Sozialdemokratie ist nicht die einzige politische Organisation, aus der sie ausgeschlossen wird: Bereits 1898 verzichtet man im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein auf ihre weitere Mitgliedschaft. Es war vermutlich ihre scharfe publizistische Abrechnung mit sexualisierter Gewalt anlässlich einer Vergewaltigung in der Schweizerischen Sozialdemokratie, die zu diesem Rauswurf führte.11

Dennoch versucht Elberskirchen zeitlebens cross-over zu wirken: Sie thematisiert feministische Perspektiven etwa in der sozialdemokratischen Partei und in der Sexualreformbewegung und gleichzeitig linke Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Ausschlüsse aus Organisationen dürften nur die Spitze des Eisbergs von Elberskirchens Erfahrungen mit Marginalisierung und Ausgrenzung in verschiedenen Sozialen Bewegungen gewesen sein.

Dazu trug sicherlich ein weiterer Tabubruch bei: Die Feministin outet sich 1904 – außergewöhnlich und mutig – indirekt selbst als Lesbe. Bislang sind provokant- öffentliche Selbstoutings dieser Art weltweit nur noch von Theo Anna Sprüngli (Pseudonym u.a. Anna Rüling) (1880-1953) bekannt. Nonchalant fordert Johanna Elberskirchen: „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht.“12

Mit ihren sexualwissenschaftlichen und sexualreformerischen Texten macht sie sich einen Namen. Dabei schreibt sie Frauen u.a. in die Debatte um weibliche Heterosexualität mit eigener Lust und Empfindung ein – einschließlich weiblicher Selbstbefriedigung. Der sexologischen „Mannweiber“-Theorie über lesbische Frauen erteilt sie originell und innovativ eine klare Absage: Statt der unterstellten Männlichkeit sei Frauenliebe ein „Zug zum Weiblichen“. Der Aussage zu lesbischen Beziehungen, „die eine repräsentiert quasi den Mann, sie empfindet männlich, die andere, die Frau repräsentierend, weiblich“, spricht sie die wissenschaftlichen Erklärungskraft ab.13

Die Ärztin Charlotte Wolff (1887-1986) nennt Elberskirchens Überlegungen in einem Brief am 9. März 1984 an die Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) eine „brillante Analyse weiblicher Homosexualität“; für Wolff ist sie eine der „originellsten Feministinnen der Zeit“, eine „Heldin des radikalen Feminismus heute“.14

An Johanna Elberskirchens sexualwissenschaftlichen und sexualreformerischen Texten zeigen sich bei allem Mut und ihrer Kreativität jedoch auch am deutlichsten die Bruchstellen und Widersprüche ihrer Positionen, ja ihres emanzipatorischen politischen Lebens: Ein paar Jahre sind ihre Schriften von nationalistischen Tönen geprägt, aber vor allem, weil sie seit der Jahrhundertwende zeitgeistige „eugenische“ und „rassenhygienische“Argumente aufgreift und selbst zu deren Weiterverbreitung beiträgt. Das heißt, sie teilt die Idee, es sei notwendig, sogenannt ‚hochwertige Kinder‘ hervorzubringen und das Erbgut zu verbessern. „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ im Sinne antisemitischer oder rassistischer Inhalte vertritt sie nicht. Jedoch sucht man eine klare Stellungnahme dazu bzw. dagegen in ihrem Werk vergeblich.

Während der Nazi-Zeit muss sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Einen Antrag an die Reichsschrifttumskammer, die für schriftstellerische Tätigkeit notwendig war, stellt sie erst gar nicht. 1938 steht ihre Schrift „Die Liebe des dritten Geschlechts“ (1904) auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums” und wird somit verboten.

Ein Jahr später erkrankt Johanna Elberskirchen schwer. Ihre Lebenspartnerin Hildegard Moniac (1891-1967)unterstützt sie dabei, ihre Naturheilpraxis weiterzuführen. Das Paar hatte sich 1914 vermutlich in einem Sanatorium kennengelernt, wo Moniac Patientin und Elberskirchen Naturärztin war. 1933 hatten die Nazis Hildegard Moniac, die in Berlin als Lehrerin arbeitete, aufgrund ihrer USPD-Zugehörigkeit als politische Gegnerin zwangsentlassen. Die beiden Frauen leben verarmt und isoliert in ihrem einfachen Häuschen im südöstlichen Berliner Umland, wohin sie 1920 gemeinsam gezogen waren.

1943 stirbt Johanna Elberskirchen im Alter von 79 Jahren im Krankenhaus. Die Urne mit ihrer Asche wird 1975, also über 30 (!) Jahre nach ihrem Tod, von zwei Frauen, unter anderem von Moniacs letzter Partnerin Luitgarde, „Luli“ Kettner (1914-1977) gefunden: Sie steht in einem Verschlag auf dem Grundstück des gemeinsamen Wohnhauses. Heimlich setzen sie die Urne in der Grabstätte von Hildegard Moniac bei. 

Seit Mai 2023 können Johanna Elberskirchens Bezüge zu Frankfurt am Main im Frankfurter Personenlexikonsowie seit November 2023 im Kölner Frauen*Stadtplan online nachgelesen und neuen Spuren nachgegangen werden. Im September 2023 wurde ihr friedenspolitisches Engagement erinnerungskulturell durch die Aufnahme in den Friedensweg Bonn gewürdigt. Am 8. Mai 2024 wird ebenfalls in Bonn ein FrauenORT NRW für die feurige Feministin eingeweiht: eine Stele an ihrem Geburtshaus in der Sternstraße. 

Schon seit 2002, 2005 und 2017 erinnern in Rüdersdorf bei Berlin und in Bonn drei Gedenktafeln an die couragierte wie streitbare Schriftstellerin, Heilpraktikerin und Cross-over-Aktivistin für Soziale Gerechtigkeit und Gleichheit.


1 Johanna Elberskirchen 1913, zit. n. Leidinger, Christiane: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943). Konstanz: UVK, S. 257.

2 Johanna Elberskirchen 1912, zit. n. Leidinger, Tochter, S. 247.

3 Volksmund 1913 zit. n. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane: Die gebürtige Bonnerin Johanna Elberskirchen (1864-1943) – un/bekannte Pfade und aktuelle Funde zu Leben und Werk. In: Schloßmacher, Norbert (Hrsg.): Bonner Geschichtsblätter, Bd. 72, Jg. 2023/2024, S. 7-28, hier S. 26 (im Druck).

4Johanna Elberskirchen 1909, zit. n. Boxhammer/Leidinger, Bonnerin, S. 21f.

5 Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane: Johanna Elberskirchen. Pseudonyme: „Hans Carolan“, „J. Carolan“, „Jeann Elberskircher“, „Elberskircher“. In: Kölner Frauen*Stadtplan – Starke Frauen, starkes Köln. Kooperationsprojekt der Stiftung Frauen*leben in Köln mit dem Kölner Frauengeschichtsverein und dem Amt für Gleichstellung von Frauen und Männern. 24.11.2023. Köln. URL: https://frauenstadtplan.koeln/johanna-elberskirchen/

6 Elberskirchen, Johanna: Socialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Socialdemokratie? Zürich: Verlags-Magazin J. Schabelitz 1897, S. 11.

7 Johanna Elberskirchen 1903 zit. n. Leidinger, Tochter, S. 77.

8 Boxhammer/Leidinger, Bonnerin, S. 12-17.

9 Johanna Elberskirchen 1898 zit. n. Leidinger, Tochter, S. 24. 

10 Zu Mitstreiterinnen Elberskirchens vgl. Boxhammer, Ingeborg: „Herrin ihrer selbst“. Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus – Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019.

11 Die österreichische Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Rosa Mayreder (1858-1938) hatte Elberskirchen in einem Brief an Auguste Fickert (1855-1910), mit der sie zusammen den Allgemeinen österreichischen Frauenverein gegründet hatte, im Herbst 1898 eine „schreckliche Bekämpferin der Mannbestie“ genannt. Außerdem macht Mayreder eine Andeutung, die so gelesen werden kann, dass diese den – anscheinend von Fickert als Vorsitzende entschiedenen – Ausschluss von Johanna Elberskirchen aus dem Verein begrüßte. WstLB 70.890/14, Rosa Mayreder an Auguste Fickert, 14.10.1898.

12 Johanna Elberskirchen 1904 zit. n. Leidinger, Tochter, S. 10; 157f.

13 Johanna Elberskirchen 1904 zit. n. Leidinger, Tochter, S. 162.

14 Charlotte Wolff an Christa Wolf 1984 zit. n. Leidinger, Tochter, S. 14.