„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

In der deutschen Wochenzeitschrift „Die Zeit“ im Jahr 2008 schreibt Judith Butler, dass für sie „radikale Demokratie die einzig machbare Politik“ bleibe. Nicht die große Frage der Machbarkeit möchte ich im Folgenden erörtern, sondern vielmehr die Frage der theoretischen Bedingungen einer solchen Machbarkeit. Dazu interessieren mich insbesondere die Schnitt- und Anschlussstellen zwischen Butlers Theorie und feministisch-materialistischen Konzeptualisierungen von Staat und Demokratie. Mit dem expliziten Bezug auf neo-marxistische, hegemonietheoretische Traditionen vollzog die feministische Politikwissenschaft seit den späten 1990ern im deutschsprachigen Raum eine Re-Orientierung, die eine Integration von materialistischen und poststrukturalistischen wie auch von Judith Butlers Geschlechtertheorie in Politik-, Demokratie- und Staatskritik erlaubte.

Im Zeithorizont neoliberaler ökonomischer Globalisierung, politischer Internationalisierung und Informalisierung sowie der Erosion bürgerlich Demokratieformen, die im liberalen Lager den Schrecken der „Post-Demokratie“ erscheinen ließ, wurde Judith Butlers Geschlechter-, Macht- und Politiktheorie in der deutschsprachigen feministischen Politikwissenschaft der 1990er Jahre zunächst höchst kontrovers rezipiert. Wie lässt sich nun heute der staats- und demokratietheoretische Beitrag Butlers bewerten? Bietet ihr Ansatz eine feministisch-demokratische Perspektive für die Kritik neoliberaler Entstaatlichung und Entdemokratisierung? Meines Erachtens hat die feministische Politikkritik wie auch die Staats- und Demokratietheorie von Butlers Geschlechterkritik ungemein profitiert, sie eingearbeitet in politikwissenschaftliche Konzepte, sie aber auch be- und umgearbeitet. Einige dieser Bearbeitungen will ich im Folgenden kurz skizzieren.

Feministische Politikwissenschaft hat als einen der kritischen Anschlusspunkte in Butlers Denken herausgearbeitet, dass die Idee des ‚autonomen politischen Akteurs’ eine herrschaftsförmige männliche Konstruktion ist, die dazu diente, Frauen aus dem ‚Reich der (politischen) Freiheit’ auszuschließen oder sie paradox zu inkludieren. Für dieses Unterfangen der Dekonstruktion einer männlichen Norm lieferte Judith Butler eine ausgearbeitete geschlechtertheoretische Begründung. Auch ihre Konzeptualisierung staatlicher Macht unter Rückgriff auf Foucault und Althusser als ein „Paradox der Unterwerfung“ (Butler 2001: 10), also die Gleichzeitigkeit der Herausbildung von Subjekten und ihrer Unterwerfung unter staatliche Herrschaftsverhältnisse trug zur Schärfung eines feministisch-staatstheoretischen Zugangs bei. Ihr Konzept der Subjektivierung führt die (Geschlechter-)Norm auf staatliche Machtverhältnisse zurück: Macht ist überall, und Subjektivierung ohne Macht ist nicht möglich. Bereits in Unbehagen der Geschlechter hatte sie auf dieses „zeitgenössische Feld der Macht“, das durch die „Rechtsstrukturen von Sprache und Politik“ gebildet wird, hingewiesen. Außerhalb dieses zwangsheterosexuell geformten Feldes gebe es keine Subjektpositionen (Butler 1991, 20). Staatlichkeit ist für sie ein „gewisser Orte der Macht“, allerdings, so hebt sie mit Foucault hervor, sei „es ist nicht so, daß sich Macht im Staat erschöpfen würde“ (Butler/Spivak 2007, 7).

Für eine geschlechterkritische Konzeptualisierung von (staatlicher) Macht ist es ihr wichtig darauf hinzuweisen, dass diese immer eine psychische Form annehme – ja annehmen müsse, damit sie greife (ebd., 9): Menschen entwickeln nämlich ein „Begehren nach der Norm“, ein „Verlangen nach Unterwerfung“ unter staatliche Normen, auch unter Geschlechter- und Sexualitätsnormen. Nur diese Unterwerfung biete eine „gesicherte“ Identität und somit „eine soziale Existenz“ (ebd., 24). Disese Sicht öffnete für feministisch-materialistische Politikwissenschaft die Möglichkeit, Staatlichkeit und Demokratie als keine den Subjekten äußerliche Institutionen und Normen zu begreifen und Vergeschlechtlichung nicht als ein jenseits von Staatlichkeit zu verortenden Prozess zu betrachten, sondern vielmehr darauf zu bestehen, dass Staatlichkeit (vergeschlechtlichte) Subjekte erst hervorbringt, dass der Staat gleichsam in den Körpern der Menschen sitzt. Allerdings hob feministisch-materialistische Politikwissenschaft stets einen weiteren staatstheoretischen Aspekt jenseits der Repressivität bzw. der starren juridischen Macht hervor: Staatliche Norm bzw. Staatlichkeit sind immer widersprüchliche und umkämpfte Verhältnisse, die somit selbst ständiger Veränderung unterliegen.

Emanzipative Politik als „Teil eines kritischen demokratischen Projekts“ (Butler 2002, o.S.) muss also diese staatlichen Konstitutionsbedingungen von Subjektivität und insbesondere die ausschließenden Konstellationen der Subjektbildung radikal-kritisch reflektieren und beispielsweise verstehen, „dass die Kategorie ‚Frauen’ unterscheidend und ausschließend benutzt wurde und dass nicht alle Frauen in diese Begriffe einbezogen wurden“ (ebd.). Eine „radikale demokratische Theorie und Praxis“ in diesem Sinne bedeute daher, die „Grenzen“ der „Inklusivität von Kategorien“ aufzuzeigen (ebd.). Damit fasst Butler Demokratie als eine alltagsweltliche Praxis und nicht nur als formales Verfahren: „Demokratie ist kein vorhersehbarer Prozess, sie muss durchlebt werden, wie man durch eine Leidenschaft durchgehen muss.“ (ebd.) Demokratie wird so zum Referenzpunkt der ständigen Subjektivierung und der Verwerfung von Subjektivität, aber eben auch der Möglichkeit, die je eigenen sich wandelnden Interessen und Präferenzen in einem Raum der Öffentlichkeit wie auch der Arena vermachteter Staatlichkeit zu artikulieren. Nur unter solchen Bedingungen ist radikale Demokratie machbar – sonst ist sie höchstens ihr bürgerlich-liberaler Abklatsch.

 

Literatur

Butler Judith 1991: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, Judith 2001: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, Judith 2002: Zwischen den Geschlechtern. Eine Kritik der Gendernormen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/34, www.bpb.de, Zugriff am 20.2.2016

Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty 2007: Sprache, Politik, Zugehörigkeit (Gespräch), Zürich/Berlin: diaphanes.