„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Judith Butler hat vor über einem Jahrzehnt damit begonnen, eine ganz besondere Analyse von Herrschaftsverhältnissen zu entwickeln, die sie immer weiter und immer komplexer ausbaut. Der Ausgangspunkt für diese Herrschaftsanalyse ist das, was sie precariousness nennt.

Ich spreche im Deutschen von Prekärsein, was auf den sozio-ontologischen Charakter des Begriffs verweist. Prekärsein ist das, was Lebewesen verbindet und was sie teilen. Butler formuliert eine Ontologie, die nicht losgelöst von sozialen und politischen Verhältnissen verstanden werden kann, die das Überleben von Körpern in je bestimmter Weise ermöglichen. Und zugleich sind es genau diese Verhältnisse, die Leben gefährden. Deshalb gilt es, so Butler, die politischen Entscheidungen und sozialen Praxen zu fokussieren, durch die manche Leben geschützt werden und andere nicht.

Bereits in den ersten Momenten hängt das Überleben von sozialen Netzwerken ab, von Sozialität und der Arbeit anderer. Obwohl das Prekärsein mit anderen geteilt wird, ist es zugleich jene Bedingung, die uns den Anderen aussetzt und von ihnen abhängig macht. Diese soziale Interdependenz kann sich sowohl als (Für-)Sorge als auch als Gewalt äußern. Anders formuliert: Körper sind, weil sie prekär und damit endlich sind, von etwas außerhalb ihrer selbst, „von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten“ abhängig, schreibt sie in Raster des Krieges. Ohne Schutz, ohne Sicherung, ohne Sorge kann kein Leben überleben, und zugleich und trotzdem bleibt es immer dem Risiko und der Gefahr des Todes ausgesetzt. „Kein noch so starker Wille und kein noch so großer Wohlstand können die Möglichkeit ausschließen, dass ein lebendiger Körper Unfälle oder Krankheiten erleidet“, so Butler. Körper bleiben auch deshalb prekär, weil sie sozial sind.

Das von allen geteilte Prekärsein wird, gerade weil es sozial ist, durch politisch induzierte Prekarität (precarity) strukturiert. In der Geschichte der okzidentalen Moderne wird es in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen: als Ängstigung und Verängstigung durch die Anderen und durch die mit ihnen geteilte Verletzbarkeit. „Eben weil sich jeder Körper potenziell von anderen bedroht sieht, die per definitionem ihrerseits prekär sind, entstehen verschiedene Formen der Herrschaft.“ Herrschaft wendet Prekärsein in eine Angst vor verletzenden Anderen, die zum Schutz der so Bedrohten bereits präventiv abgewehrt und nicht selten vernichtet werden müssen. Das geteilte Prekärsein wird hierarchisiert, bewertet, und die prekären Leben werden aufgeteilt. In dieser Perspektive bedeutet Herrschaft die versuchte Absicherung mancher vor existenziellem Prekärsein, und zugleich basiert dieses Privileg des Schutzes auf einer differenziellen Verteilung von Prekarität auf all diejenigen, die als anders und als weniger schützenswert betrachtet werden.

Diese ineinandergreifenden Konzeptionen von Prekärsein und Prekarität liegen auch Butlers Überlegungen zu den Platzbesetzungen zugrunde, die 2011 mit dem sogenannten Arabischen Frühling begannen. In ihren politisch-theoretischen Analysen, die sie kürzlich in Notes Toward a Performative Theory of Assembly veröffentlicht hat, entwickelt Butler zudem einen Begriff von unterstütztem Handeln (supported action), der im Rahmen ihrer Konzeptionen des Prekären die politische Handlungsfähigkeit benennt.

Entsprechend den prekär bleibenden Körpern, die stets sozial nicht nur eingebunden, sondern bedingt sind, ist Handeln unabhängig von Anderen und von Umwelten nicht möglich. Unser alltägliches Leben existiert nicht ohne unterstützende und voneinander abhängige Beziehungen, und es existiert nicht ohne sichernde Institutionen und Umwelten. Wenn dies nicht (mehr) gewährleistet ist, wenn Schutz und Hilfe vor allem auf institutioneller Ebene entzogen oder verwehrt werden, dann ist das häufig der Grund für ein gemeinsames Handeln gegen solche unterschiedlichen Formen von Prekarität. Wie Handeln generell, ist auch politisches Handeln – wird es unter der Voraussetzung des Prekärseins betrachtet – kein autonomes Handeln von vielen Subjekten, die als autonom gelten, weil sie sich von Reproduktion und Sorge vermeintlich freimachen konnten. Politisches Handeln ist stets unterstütztes Handeln. Judith Butler kritisiert Hannah Arendt dafür, dass diese politisches Handeln in der Öffentlichkeit von ins Private verschobener Reproduktion und Sorge trennt. Denn anders als von Arendt konzipiert, versammeln sich die Vielen auf Straßen und Plätzen nicht erst dann in einer politischen Weise, wenn sie ihr versorgtes Leben in der Öffentlichkeit riskieren. Gerade diejenigen, die durch Prekarität, also den Entzug der „öffentlichen“ Sorge weniger geschützt sind als andere, praktizieren ihr politisches Recht Rechte zu haben, bereits dadurch, dass sie mit anderen zusammen auf den Straßen und Plätzen erscheinen. Die Prekären, die gemeinsam für ihre Rechte kämpfen, können nur bestehen und handeln, wenn sie sich wechselseitig unterstützen und zudem durch materielle Dinge, durch die Umgebung, die Architektur der Städte, aber auch durch Nahrung und Schlafstätten unterstützt werden. Es kämpfen diejenigen, die durch Prekarität weniger geschützt sind als andere, manchmal zusammen mit denen, die besser abgesichert sind und sich solidarisieren. Die politisierten Prekären greifen auf die gegenseitige Unterstützung zurück, um deutlich zu machen, dass ein Leben nicht ohne absichernde Institutionen, Umwelten und Sozialitäten möglich ist, nicht ohne anhaltende Beschäftigungsverhältnisse, staatliche Sicherungssysteme, reproduzierende Netzwerke.

Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, im Zucchotti-Park von Occupy Wall Street oder im Gezi-Park in Istanbul wurde durch die Besetzungen die Materialität des öffentlichen Raums konfiguriert, betont Butler. Zwar boten die Plätze materielle Bedingungen, unter denen es in unterschiedlichen Weisen möglich war, dass sich viele versammeln und mehrere Wochen Camps unterhielten; zugleich aber refigurierten die vielen Prekären die materielle Umgebung der Plätze in neuer Weise. In der Organisierung der Camps wurde bereits praktiziert, welche Formen der sozialen Reproduktion das demokratische Zusammenleben hat, für das gekämpft wurde. Es sind Kämpfe gegen Prekarität auf der Grundlage des gemeinsam geteilten Prekärseins.