„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

In ihrer Kolumne „Liebe Präsidenten und der NSU!“ schreibt Mely Kiyak, dass die Angehörigen und Betroffenen der zwischen 2000 und 2007 ausgeführten Mord- und Bombenanschläge des „Nationalsozialistischen Untergrund“ nach dessen Bekanntwerden erfahren haben, dass „ihre Familientragödie Teil einer großen deutschen Tragödie ist“. Die Frage ist, inwiefern dies auch die allgemeine Öffentlichkeit erkannt hat.

Um das Erkennen von Rassismus und Neofaschismus als ein allgemeines Problem zu befördern, hat das Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen am 20. Januar 2015 einen Aktionstag vor dem Münchner Oberlandesgericht organisiert, an dem seit Mai 2013 das NSU-Verfahren verhandelt wird. Der Aktionstag sollte die Zeug_innen im Gericht unterstützen, die an diesem Tag zum Bombenanschlag auf die Keupstraße aussagen sollten. Auf einer Pressekonferenz erklärten die Aktivist_innen, insbesondere dazu beitragen zu wollen, die Stimmen der Betroffenen hörbar zu machen, ihnen eine Öffentlichkeit zu geben. Dass nach den Anschlägen einseitig nur in Richtung organisierte Kriminalität ermittelt wurde, habe auch damit zu tun, dass diese Stimmen, die schon früh auf einen rassistischen Hintergrund hingewiesen hatten, vor Bekanntwerden des NSU ignoriert worden waren. Zu sehen sei auch, dass öffentliche Reaktionen, Empörung und Trauer bei Gewalt und terroristischen Anschlägen deutlich geringer ausfallen, wenn die Betroffenen nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören. So verwundert es leider nicht, dass die großen Schweigemärsche unter dem Motto Kein 10. Opfer, die 2006 nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund und an Halit Yozgat in Kassel stattfanden, kaum öffentlich wahrgenommen wurden. Häufig, etwa in der Rede Angela Merkels bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt im Februar 2012 wird behauptet, die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit sei darauf zurückzuführen, dass die Anschläge des NSU nicht als rassistische und neofaschistische erkennbar gewesen seien. Anstatt der irreführenden Annahme fehlender Hinweise zu folgen, muss jedoch gefragt werden, was verhindert, dass rassistische Gewalt erkannt wird. Das ist eine Frage einer allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit, die viel mit den diskursiven Ausschließungsstrategien zu tun hat, die kritische Rassismusforschung seit langem beschreibt1)Siehe etwa Manuela Bojadžijev: „Wer von Rassismus nicht reden will. Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse“. In: Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.): NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse. Bielefeld: transcript 2013, S. 145-154. und die sich in historisch gewachsenen, politisch strukturierten Affektdispositionen materialisieren. Die tendenzielle Unbetrauerbarkeit mancher steht, mit Judith Butler gesprochen, in Zusammenhang mit den Wahrnehmungsrastern – in einem engeren Sinn sind dies mediale Raster – durch die die Konturen des Menschlichen bestimmt werden (Raster des Krieges 2010). An der Unmöglichkeit der Betrauerbarkeit eines bestimmten Todes (Butlers Beispiele sind die AIDS-Toten und die zivilen Opfer US-amerikanischer Militäreinsätze in arabischen Ländern) lässt sich erkennen, wessen Verluste als real und allgemein relevant wahrgenommen werden.

Für mich stellt sich mit der in den letzten Monaten erneut evidenten Beobachtung gespaltener Trauerpolitiken auch die Frage, wer sich wann von welcher Gefahr bedroht fühlt und ob die Verluste – sowohl der Angehörigen, als auch eines Gefühls relativer Sicherheit und Zugehörigkeit sowie eines bedingten Vertrauens in Rechtstaatlichkeit und Rechtsprechung – als allgemeine empfunden werden, oder als Verluste, die ‚nur’ Migrant_innen betreffen.

Wie schildern die Angehörigen und Betroffenen die Verluste und inwiefern sind diese als allgemeine Verluste erkennbar? Erschwerend zu den Anschlägen kam hinzu, so schildern die Betroffenen immer wieder, dass sie häufig über Jahre hinweg und bis zum Aufdecken des NSU verdächtigt und verunglimpft oder von der Öffentlichkeit allein gelassen wurden, dass eben jene öffentliche Anteilnahme gefehlt habe.2)Siehe Dostluk Sineması (Hg.): Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre (Berlin: Antonio Antonio Stiftung 2014), Barbara John (Hg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Angehörigen bedeutet (Freiburg: Herder 2014). Die Beschreibung dieser zusätzlichen Gewalt verdichtet sich in der Feststellung, dass es den Angehörigen dadurch unmöglich war, um die Toten zu trauern, wie die Tochter von Mehmet Kubaşık schreibt:

„Obwohl ich die ganze Zeit sicher war, dass die Täter nur Rechtsradikale gewesen sein konnten, war die Gewissheit eine Riesenerleichterung. Ich hatte das Gefühl, jetzt haben wir es all den Leuten gezeigt, die immer schlecht über uns geredet haben. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, dass ich jetzt endlich trauern konnte um meinen Vater. Vorher haben mir die Polizei und die Mitmenschen das gar nicht erlaubt mit all ihren Verdächtigungen. Ich merkte, dass das größte Problem in mir war: dass ich nicht trauern konnte. Bis heute kann ich nicht akzeptieren, wie mein Vater getötet wurde. Das werde ich mein Leben lang nicht können. Aber jetzt kann ich akzeptieren, dass er nicht mehr da ist. Vorher war mein Vater nie wirklich weg, weil ich ihn verteidigen musste gegen all diejenigen, die schlecht über ihn redeten.“3)Gamze Kubaşık: „Ich will nicht ewig Opfer sein“. In Barbara John: Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Angehörigen bedeutet. Freiburg: Herder 2014, S. 129.

Die Schilderungen der Betroffenen im Gericht bestärken den Eindruck, dass viele von ihnen diese Erfahrung erschwerter oder verunmöglichter Trauer geteilt haben, was etwa anhand der Prozessprotokolle der Initiative NSU-Watch nachvollziehbar ist:

So berichtet auch die Ehefrau von Habil Kılıç, der im August 2001 in München in ihrem gemeinsamen Lebensmittelgeschäft ermordet wurde, von Verdächtigungen und Verleumdungen, vom Verlust ihrer Wohnung und ihres Geschäfts und dass sie sich fühle, als sei sie selbst zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt.

Ihre Mutter erzählt, sie habe erst nach dreistündigem Polizeiverhör vom Tod ihres Schwiegersohnes erfahren. Sie hätte ihm noch die Hand halten können. Ihre Enkelin sollte wegen des Mordes an ihrem Vater und der sich anschließenden Verleumdungen von der Schule verwiesen werden.

Der Vater von Süleyman Taşköprü, der im Juni 2001 in Hamburg im Lebensmittelgeschäft der Familie erschossen wurde, berichtet, dass seinem Hinweis auf zwei Männer, die das Lebensmittelgeschäft in Hamburg verlassen haben, keine Beachtung geschenkt wurde und dass er neun Jahre lang immer wieder verhört wurde.

Der Vater von Halit Yozgat, erschossen im April 2006 in dem Internetcafé, das sie gemeinsam in Kassel betrieben haben, berichtet, dass ihm, nachdem er selbst seinen Sohn gefunden hat, keine Gelegenheit gelassen wurde, mit seiner Frau und seinen Töchtern zu sprechen.

Der Besitzer des Imbisses in Rostock, in dem Mehmet Turgut im Februar 2004 erschossen wurde, erzählt, dass er dreizehn Stunden lang verhört und ihm gesagt wurde, der Mordanschlag habe ihm selbst gegolten.

Gamze Kubaşık erzählt, ihrer ganzen Familie sei unterstellt worden, Drogen zu verkaufen, sie sei bei der Vernehmung unmittelbar nach dem Mord weder gefragt worden, ob sie der Vernehmung folgen könne, noch sei sie auf die Möglichkeit des Rechtsbeistandes hingewiesen worden. Die Polizisten hätten sich noch über sie lustig gemacht. Der Hinweis ihrer Mutter, dass es sich um Nazis gehandelt haben müsse, sei von der Polizei ausgeschlossen worden. Sie konnten ihre persönlichen Sachen nicht mehr aus dem Kiosk herausholen.

Die Schwester der jungen Frau, die durch den im Januar 2001 verübten Bombenanschlag auf das Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse schwer verletzt wurde, berichtet, dass sie unter Schock stehend direkt nach der Explosion isoliert und verhört wurde. Sie war damals vierzehn Jahre alt.

Zwei Zeugen, die im Juni 2006 gemeinsam auf der Kölner Keupstraße unterwegs waren und durch den Bombenanschlag schwer verwundet wurden, berichten, dass ihnen, nachdem sie im Krankenhaus aus dem Koma erwacht sind, jeweils nicht gesagt wurde, ob ihr Freund überlebt hat.

Ein anderer vom Anschlag auf die Keupstraße Betroffener erzählt, dass er noch am selben Tag sechs Stunden lang bis spät in die Nacht und fast vollständig entkleidet verhört wurde. Dabei seien ihm ausschließlich Fragen nach Kontakten zu organisierter Kriminalität gestellt worden.4)Die beiden letzten Aussagen habe ich selbst bei einem Prozessbesuch am 20. und 21. Januar 2015 gehört.

Im Zusammenhang mit den Anschlägen des NSU wiederholen sich bekannte Ermittlungs- und diskursive Praktiken der Opfer-Täter-Umkehr, der Verharmlosung rassistischer und neofaschistischer Gewalt und der Weigerung, den Opfern zuzuhören.5)Siehe etwa die Berichte der Opferberatungsstelle Sachsen. Neben der im Prozess angestrebten Aufklärung über die Dimension der ‚Ermittlungsfehler’ und die mindestens indirekte Unterstützung durch staatliche Organe, veranschaulichen die Berichte der Angehörigen und Betroffenen einen ‚alltäglichen’ Rassismus der Marginalisierung, Distanzierung und Exotisierung von Gewalt und des Nicht-Hörens von Gewalt-Benennungen, der sich in der Verunmöglichung von Trauer zuspitzt. Was bedeutet das für die Frage, inwiefern eine allgemeine Öffentlichkeit in der Lage ist, Rassismus und die durch ihn verursachten Verluste zu erkennen? „Wir sind bereits soziale Wesen mit komplexen sozialen Deutungen, sowohl wenn wir Entsetzen empfinden, als auch wenn wir überhaupt nichts empfinden.“ (Butler, Raster des Krieges 2010, S. 54) Gerade die Abwesenheit, das Fehlen von Empathie und Trauer, ist politisch.

Fußnoten

Fußnoten
1 Siehe etwa Manuela Bojadžijev: „Wer von Rassismus nicht reden will. Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse“. In: Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.): NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse. Bielefeld: transcript 2013, S. 145-154.
2 Siehe Dostluk Sineması (Hg.): Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre (Berlin: Antonio Antonio Stiftung 2014), Barbara John (Hg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Angehörigen bedeutet (Freiburg: Herder 2014).
3 Gamze Kubaşık: „Ich will nicht ewig Opfer sein“. In Barbara John: Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Angehörigen bedeutet. Freiburg: Herder 2014, S. 129.
4 Die beiden letzten Aussagen habe ich selbst bei einem Prozessbesuch am 20. und 21. Januar 2015 gehört.
5 Siehe etwa die Berichte der Opferberatungsstelle Sachsen.