„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Am 25. November 2021 werden auf dem Marktplatz in Tübingen 123,5 Paar Schuhe in Rot an die Tatsache erinnern, dass in Deutschland an jedem dritten Tag eine Frau ermordet wird; am 11. Dezember findet eine schweizweite Demonstration gegen Femizide statt. Schon im Januar 2021 erklärte das Berliner Netzwerk gegen Feminizide den Nettelbeckplatz im Berliner Wedding zum Widerstandsplatz, um öffentlich aufmerksam zu machen. Das Netzwerk verbindet den Kampf gegen die letale Gewalt an Frauen* mit einer dekolonialen Erinnerungspolitik. Es thematisiert den Kolonialismus und benennt Versklavung, schließlich ist der Nettelbeckplatz nach einem Mann benannt, der als Obersteuermann unmittelbar in den transatlantischen Menschenhandel verstrickt war. Das Netzwerk verbreitet seinen Protest auch via Twitter über Hashtags wie #keinemehr und fordert auf seiner Webseite die Umbenennung des Platzes und die Schaffung eines Ortes für feministischen Widerstand ‚gegen Gewaltherrschaft, Versklavung und Patriarchat‘.

Wie kontrovers die Thematisierung von und das Erinnern an Gewalt gegen Frauen* im deutschsprachigen Raum ist, illustriert u.a. die Verweigerung von Behörden in Deutschland, den Begriff Femi/ni/zid zu verwenden. Dass es zum Politikum auch auf internationaler Ebene werden kann, zeigt die Kontroverse um das in Berlin-Moabit zunächst nur für ein Jahr genehmigte Denkmal des Korea Verbandes zur Erinnerung an die über 200.000 Mädchen und Frauen aus 14 Ländern, die vom japanischen Militär während des Asien-Pazifik-Krieges (1931-1945) im gesamten asiatisch-pazifischen Raum als so genannte ‚Trostfrauen‘ sexuell versklavt worden sind. Laut Presseberichten protestiert unterdessen die japanische Regierung und der Berliner Bezirk fürchtet eine Störung der Beziehungen zwischen Deutschland und Japan und diskutiert die Entfernung der Statue. Ein Beispiel für feministische Kämpfe an historisch weiter zurückliegende Verbrechen an Frauen ist auch die aktuelle Auseinandersetzung um eine Gedenkkugel für lesbische Frauen* und Mädchen* im KZ Ravensbrück, die erst im Juli 2021 mit der Entscheidung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, ein solches Erinnerungszeichen endlich zu setzen, zu einem Abschluss gekommen ist. Vorangegangen waren jahrelange Auseinandersetzungen zwischen Initiativen aus der Frauen*- und Lesbenbewegung, Schwulenverbänden, Überlebenden­Organisationen, Stiftung und Gedenkstätte.

Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie in den vergangenen Jahren feministische, postkoloniale und erinnerungspolitische Kämpfe verknüpft wurden und sich wechselseitig gestärkt haben. Sie zeigen auch, dass Politiken des Erinnerns, aber auch des Vergessens insgesamt sichtbarer werden, wozu nicht zuletzt feministische Archive wesentlich beitragen.

Im Kampf gegen das Verdrängen verbünden sich Menschen zudem zunehmend jenseits bestehender Institutionen und Organisationen in solidarischen Netzwerken, die in der Vergangenheit in der Öffentlichkeit vielfach ungehört geblieben sind: Überlebende, Mütter, Väter, Geschwister, Freundinnen und Freunde der Opfer von Hassverbrechen erzählen von ihrem Schmerz. Intersektional angelegte herrschaftskritische Projekte wie der Hashtag #SayTheirNames, Podcasts wie „Halle nach dem Anschlag“ oder „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ bringen Erfahrungen von Menschen zu Gehör, die von ihrem Leben und Zuhause in einer Gesellschaft berichten, die ihnen als den vielfach zu ‚den Fremden‘ Gemachten Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Betrauern vorenthält und stattdessen mit klassistischer Herabwürdigung, Misogynie, Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus – immer wieder auch mit mörderischer Gewalt – entgegen tritt. Sie erinnern an Terroranschläge, die in Halle am 09. Oktober 2019 für Jana Lange und Kevin Schwarze und in Hanau am 19. Februar 2020 für Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun und Ferhat Unvar mit dem Tod endeten. Und sie reaktualisieren das Erinnern an lange öffentlich unsichtbar gewordene Opfer. 

Es sind diese über Jahrzehnte hinweg geführten, unermüdlichen Anerkennungskämpfe der Angehörigen von Opfern und der Überlebenden solcher Hassverbrechen, die es überhaupt möglich gemacht haben, dass ihr Sprechen – im historischen Rückblick eine Ausnahme – inzwischen auch eine breitere Resonanz findet. Damit wird ein Zugang zu einem Erfahrungswissen eröffnet, über das die Dominanzgesellschaft nicht verfügt oder das von dieser in Teilen lange tabuisiert, ignoriert und verdrängt wurde. 

Die Beispiele verdeutlichen, dass die Fragen, wer, wie, was, wozu und warum und für wen erinnert wird, zu den wichtigen Themen machtkritischer feministischer Forschung und feministischer Politik gehören.Gegenwärtige Praktiken und Politiken des Erinnerns und Vergessens aus feministischer Perspektive zu theoretisieren, sie in ihrer sozialen und historischen Situiertheit zu untersuchen und exemplarisch zu analysieren, wie eine Politik des Erinnerns und Vergessens zugunsten welcher sozialen Gruppen mobilisiert, verleugnet, verdrängt oder verworfen wird, ist daher Anliegen des Schwerpunktheftes 1_2023 der Feministischen Studien.

Wir freuen uns über Abstracts zu Beiträgen, die beispielsweise

  • theoretisieren, mit welchen Herausforderungen feministisches Erinnern und Vergessen konfrontiert wurde und (etwa durch Digitalisierung) wird;
  • Herausforderungen etwa an eine dekolonial, trans-/multikulturell oder agonistisch entworfene feministische Erinnerungstheorie und -praxis diskutieren;
  • eine spezifische (z.B. queere, intersektionalitätsbewusste, performativitätstheoretische, affekttheoretische, und_oder materialistische) Perspektive auf bestehende Erinnerungspraxis, -kultur, -kämpfe oder -forschung einnehmen;
  • Analysen konkreter feministischer Erinnerungspraktiken und_oder -politiken etwa in (digitaler) Kunst, Literatur, Film- oder Medienproduktion, Musik oder Populärkultur liefern;
  • Varianten feministischer Archive analytisch aufschlüsseln und Fragen nach Artefakten, Materialitäten und Praxen zueinander in Beziehung setzen;
  • kulturvergleichende und_oder transkulturelle Perspektiven auf feministische Erinnerungsforschung, -praxis, -politik und -kämpfe eröffnen oder
  • nach der gesellschaftlichen Resonanz solcher Kämpfe fragen.

Die Zeitschrift feministische studien für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung Nr. 1_2023 wird 6 bis 8 Beiträge zum Schwerpunkt ‚Feministisches Erinnern‘ enthalten, und zwar Aufsätze (bis 40.000 Zeichen) sowie Diskussionsbeiträge (bis 25.000 Zeichen, incl. Leerzeichen), die nach einem double blind peer-review-Verfahren begutachtet werden. Gerne können auch Vorschläge für unsere Rubrik „Bilder und Zeichen“ eingereicht werden.

Bis zum 15.12.2021 können Abstracts von bis zu 2.000 Zeichen bei den Herausgeber*innen des Schwerpunktheftes, Prof. Dr. Sabine Hark (sabine.hark@tu-berlin.de), Prof. Dr. Tanja Thomas (tanja.thomas@uni-tuebingen.de) sowie bei manuskripte@feministische-studien.de eingereicht werden.

Erwünscht sind auch Vorschläge für Tagungsberichte sowie Rezensionen oder Sammelrezensionen zu Veröffentlichungen vorzugsweise, aber nicht ausschließlich zum Schwerpunkt des Heftes.