„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

In Zeiten globaler Schieflagen und Konflikte werden wir Zeug_innen von vermehrten Ab- und Ausgrenzungen. Hier ist die Wissenschaft nicht nur als beschreibende, analysierende Instanz gefordert. Vielmehr ist sie dazu aufgerufen, sich dieser Phänomene anzunehmen und sich in den laufenden Diskursen zu verorten.

Schon Wochen vor Ihrer Ankunft zierten Plakate mit Judith Butlers Gesicht die Gänge der Universität zu Köln. Mit ihrer Ernennung zur Albertus-Magnus-Professorin reihte sie sich in eine Reihe von bedeutenden Theoretiker_innen ein. Unter anderem waren schon Noam Chomsky, Martha Nußbaum oder Bruno Latour Träger_innen der vom Philosophischen Seminar der Universität zu Köln ins Leben gerufenen Gastprofessur. Ziel der Professur ist es, wichtige Themen unserer Zeit durch öffentliche Seminare und Vorlesungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies sei, wie es der Direktor des Thomas-Instituts Prof. Andreas Speer in seinem Grußwort der Veranstaltungen stark machte, Universität in ihrem eigentlichen Sinne. Ein „akademischer Ausnahmezustand“, der an antike Traditionen der Lehre anknüpfe. Mit Butler habe nun eine Persönlichkeit die Professur inne, deren Theorien kontrovers diskutiert werden, die aber auch den Wissenschaftsbetrieb und vor allem das Leben und den Alltag Einzelner stark geprägt hat. Dies drückte sich auch in dem breiten Zuspruch für Butlers Ernennung aus – was auch ein wichtiges Signal für die Gender und Queer Studies an der Universität zu Köln darstellte.

Zum ersten Mal wurde eine Kooperation zwischen dem zentralen Institut GeStiK (Gender Studies in Köln) und dem Philosophischen Seminar im Rahmen der Albertus-Magnus-Professur möglich.

In ihrer ersten Vorlesung, die Butler, wie alle anderen Veranstaltungen, auf Deutsch hielt, sprach sie zu „Ethik und Kritik der Gewaltlosigkeit“. Sie knüpfte hier an ihre Überlegungen und Erkenntnisse aus Raster des Krieges (2010) und Am Scheideweg (2013) an. So stand die Betrauerbarkeit im Mittelpunkt ihrer Ausführungen: welche Leben werden eigentlich betrauert oder nicht und warum existieren diese Ungleichverhältnisse in und zwischen Gesellschaften. Dieses Ungleichgewicht der Betrauerbarkeit zeichnete Butler an aktuellen Ereignissen, wie z.B. den Morden an People of Color durch weiße Polizist_innen in den USA in den vergangenen Jahren, nach. Auch die aktuelle Situation von Geflüchteten zeige nachdrücklich, welchen Leben ein Betrauert-werden zugestanden würde und welche Leben enden, ohne dass dies von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werde.

In der Vorlesung verknüpfte Butler die Frage der Betrauerbarkeit mit dem foucaultschen Theorem der Biopolitik, durch die sie die Relationen zwischen Gewalt, Gruppen und Subjekten veranschaulichte. Anhand der vermeintlich defensiven Figur der Selbstverteidigung verdeutlichte Butler die diskursive Logik, der ein aufgewertetes Selbst unterworfen ist. In Fällen der Selbstverteidigung sei, so Butler, jegliches Tötungsverbot, das wir normalerweise als moralisches Gebot anerkennen, nicht absolut. Das Absurde daran sei, dass das sich verteidigende Subjekt nicht mehr an moralische und/oder institutionelle Weisungsbefugnisse halten muss. Fälle der Selbstverteidigung seien jedoch nicht zwangsläufig an ein einzelnes Subjekt geknüpft. Nach Butler gibt es noch ein „erweitertes Selbst“, d.h. dass Individuen ihnen nahestehende Personen verteidigen und in diesen Fällen auch kein universales Tötungsverbot mehr greife. Die „Gruppe des Selbst“ würde hierbei von der einzelnen Person individuell festgelegt. Die Problematik bestünde also darin, dass Personen meist Beziehungen zu „Ähnlichen“ oder „Gleichen“ pflegen und somit immer eine Barriere zwischen „den Meinigen“ und „den Anderen“ entstünde. Dadurch, dass beim erweiterten Selbst und der Verteidigung dessen kein absolutes Gewaltverbot mehr geboten sei, führe dieses Setzen von Differenzen zu einem andauernden „potentiellen Kriegszustand“. Die Unterscheidung zwischen „den Meinen“ und „den Anderen“ stellte Butler als höchst fragwürdig heraus. Darüber hinaus machte sie klar, dass vollkommene Gewaltlosigkeit eine Utopie ist, die jedoch wichtige Denkprozesse über eine gewaltlose Praxis und das Überwerfen von Abgrenzungskonzepten ermögliche. Zur Überwindung dieser Denkmuster bedürfe es einer „kritischen Geduld“ und eines ständigen Reflexionsprozesses, aber auch politischer Konsequenzen, die durch eine bestimmte veränderte, moralische Haltung entstünden.

Ihr öffentliches Seminar am darauffolgenden Tag begann Butler mit der Frage, welche Bedeutung Recht(e) in ihrem Konzept der Gewaltlosigkeit spielten. Hierbei machte sie klar, dass Gewalt als „interpretationsbelastetes Schema“ verstanden werden müsse. Somit stelle sich auch die Frage nach der Definition von Gewaltlosigkeit in den Aushandlungen um Rechte immer wieder neu. Die Rückfragen der Teilnehmenden, die sich um das Attentat in Orlando, aber beispielsweise auch um die Silvesterereignisse in Köln drehten, verdeutlichten, dass Butlers Ansätze in Anbetracht der momentanen weltgesellschaftlichen Lage aktueller denn je sind.

Mit ihrer zweiten Vorlesung „Verletzlichkeit und Widerstand neu denken“ rückte Butler Fragen des widerständigen Handelns in den Mittelpunkt. Sie machte sich für eine Mobilisierung von Verletzlichkeit stark, durch die politische Bewegungen entstehen könnten. Hierbei ging sie vor allem auf die (infra-)strukturellen Verletzlichkeiten ein, von denen marginalisierte Gruppen im Besonderen betroffen sind. Unter diesen fasste sie z.B. das Abgeschnitten-Sein durch schlechte Straßen und Transportwege oder eine fehlende Grundversorgung. Das Ausgesetzt-sein in einer Verletzlichkeit könne ein Instrument des Widerstandes sein, um bestimmte Praxen und Personen sichtbar werden zu lassen – auch wenn sich das Individuum zeitgleich durch das eigene Exponieren verletzbar macht. Widerstand könne dann dazu dienen, zum Beispiel die gleiche Absicherung von Lebensbedürfnissen zu erlangen oder Aufmerksamkeit auf queere Perspektiven zu lenken. Verletzlichkeit sei dann eben nicht mehr als passives Nicht-agieren-können zu verstehen, sondern besäße empowernde Potentiale. Dennoch mahnte Butler an, dass Verletzlichkeit immer auch Personen markiere und somit schnell zu einem paternalistischen „Helfen“ oder „Unterstützen“ führen kann, was nicht den Bedürfnissen derer entspricht, die sich der Verletzlichkeit aussetzen.

Noch stehe eine konkrete Verknüpfung zwischen dem Konzept der Gewaltlosigkeit und dem der Verletzbarkeit, wie Butler auf Nachfragen einräumte, aus. Trotzdem verdeutlichte sie in ihren Ausführungen, dass es Denkentwürfe und Utopien bedarf, um das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, andere Perspektiven einzunehmen und sich über Verletzbarkeiten bewusst zu werden. In Köln, das nach den Ereignissen an Silvester zu einem Ort von unterschiedlichsten Diskursen über „die Fremden“ geworden war, aber vor allem um die Frage kreiste, wer als beschützenswert gilt und wer durch wen oder was beschützt werden muss, sind Butlers Ausführungen von besonderer Relevanz. Die Berichterstattung über die Ereignisse führte eindrucksvoll vor Augen, wie sich Grenzen zwischen dem Eigenen und Fremden und somit auch dem Beschützenswerten verschieben können. Plötzlich waren es „die Anderen“, die sexistisch sind und „die eigenen Frauen“ bedrohten. (Weiße) Frauen* wurden somit in ihrer Position zu einem beschützenswerten, einem verletzlichen Gut degradiert, das es durch paternalistische Eingriffe zu schützen gälte. Auch hier positionierte Butler sich ganz klar und kommentierte die Rückfrage, ob es denn als Akt des Widerstandes gewertet werden könne, als Frau* nachts auf die Straße zu gehen mit „In Cologne? Yes!“. Denn gerade in dieser Stadt bedeute das Sich-Aussetzen in dieser Verletzlichkeit auch Widerstand gegen die paternalistischen Zuschreibungen des „Beschützenswerten“ zu leisten.

Judith Butler zeigte sich für viele Besucher_innen der Veranstaltungen einmal mehr als zentrale Bezugsperson für eine wissenschaftliche Praxis, die politischen Aktivismus nicht ausschließt. In ihren Veranstaltungen argumentierte Butler „gegen eine Haltung, die Differenzen gegeneinander ausspielt, ‚Eigenes’ gegen ‚Fremdes’ in Stellung bringt und prekarisierte Leben die Unterstützung verwehrt“ und trat ein für „ein Ende der ‚Politik der Ähnlichkeit’ eines homogenisierten, zu beschützenden Wir´s“, wie es Susanne Völker von der zentralen Einrichtung für Gender Studies GeStiK in der Eröffnungsrede zum zweiten Vortrag ausdrückte. Vielleicht ist es genau dieses Eintreten und das Verkörpern einer bestimmten Haltung, warum Butler für viele Menschen zum „Popstar“ avancierte und die Kölner Veranstaltungen einen so großen Zulauf von unterschiedlichsten Personen hatten.

Nach vier Tagen „Butler-Mania“ blieb vor allem eines: die Gewissheit, dass die Gender- und Queerstudies auch in Köln ihren Platz gefunden haben. Und dies ist nicht zuletzt dem jahrelangen Engagement einzelner Akteur_innen zu verdanken, die sich, wie Judith Butler, immerzu für ein kritisches Umdenken einsetzten.