Wie Schweigen in Sprache und in die Ordnung des Sagbaren eingelassen und darüber das »Gitter der Lesbarkeit« (Butler 2009, 73) reguliert wird, ist eine der drängendsten Fragen unserer Gegenwart und für die feministische wie für die postkoloniale Kritik gleichermaßen von existentieller Bedeutung. Die Fabrikation von Schweigen nimmt dabei verschiedene Formen an. Etwa die, dass die Artikulation nur bestimmter Sachverhalte ermöglicht wird, während andere aus der Sprache ausgeschlossen beziehungsweise nur in entstellter Weise in sie eingeschlossen werden. Die Herstellung von Schweigen im Modus der Sprache umfasst aber auch und vielleicht vor allem die Formen sprachlicher Adressierung, die wir erfahren, das heißt die Weisen, wie wir je unterschiedlich in Sprache und Sein hineingeholt werden. Weisen, die es den einen erlauben, »zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben« (Butler 2009, 20), während die anderen im Bereich des Nichthörbaren, Nichtverstehbaren, der Nichtanerkennbarkeit und damit der Unlebbarkeit platziert werden.
Auf diese Dimension von Schweigen, nämlich in entstellter Weise in Sprache eingeschlossen, auf gewaltvolle Weise adressiert zu werden und gerade dadurch unhörbar, un(an)erkennbar zu sein, hat Toni Morrison im Hinblick auf rassistische sprachliche Strukturen wiederholt hingewiesen. Als »schwarze Schriftstellerin« (Morrison 1994, 13), schreibt Morrison, kämpfe sie »mit einer und durch eine Sprache, die versteckte Anzeichen rassischer Überlegenheit, kultureller Hegemonie und abfälliges Ausgrenzen von Menschen und ihrer Sprache […] machtvoll beschwören und noch verstärken« könne (ebd.). Es sei deshalb erforderlich, »Wege zu finden, um die Sprache von ihrer manchmal unheimlichen, oft trägen und fast immer voraussagbaren Verwendung von rassisch geprägten und festgelegten Ketten zu befreien« (ebd.).
Und insofern die Weisen, wie wir je unterschiedlich in Sprache und Sein hineingeholt werden, auch die Regeln des Gehört-Werdens organisieren, geht es schließlich um die Frage, wie die Regeln des Sagbaren verändert werden müssten, damit marginalisierte, subalterne Stimmen Gehör finden. Damit ist »die enge Verbindung zwischen dem Status der Subalternität und dem Schweigen« (Steyerl 2008, 12) angesprochen, die Gayatri Chakravorty Spivak in die Frage gekleidet hat, ob sich aus den »auf groteske Weise falsch transkribierten Namen« (Spivak 2008, 81) je eine »Stimme zusammensetzen« lässt (ebd.). Spivak macht hier auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Die Subalterne wird nicht deshalb nicht gehört, weil sie schweigt. Im Gegenteil: Sie führt eine Rede. Doch diese Rede kann nicht gehört werden, weil sie nicht unter eigenem beziehungsweise nur unter verzerrtem Namen geführt werden kann, weil die Stimme der Subalternen diffus und ausgefranst ist, weil sie verkürzt und verballhornt wurde, weil sie gestört und zum Schweigen gebracht wurde, weil sie außerhalb des hegemonialen logos und ohne auctoritas ist.
Wie Judith Butler wiederholt gezeigt hat, bedürfen wir allerdings dringend der Anrede, um zu sein. Auch wenn die Sprache uns in subordinierte oder subalterne Positionen ruft, holt sie uns in eine Geschichtlichkeit hinein, die »diejenige des sprechenden Subjekts übersteigt« (Butler 1998, 46). Denn insofern »das Subjekt durch die Anrede ins Sein kommt«, fährt Butler fort, läßt es sich dann überhaupt »unabhängig von seiner oder ihrer sprachlichen Haltung vorstellen?« (ebd., 49) Butler verneint diese Frage. Ein solches Subjekt »wäre in der Tat unvorstellbar«. Subjekte können »ohne die sprachliche Haltung zueinander« nicht sein, wer sie sind […]. Ihre sprachliche Haltung zueinander, ihre sprachliche Verletzbarkeit durch einander, tritt nicht einfach zu ihren sozialen Beziehungen zueinander hinzu. Vielmehr ist sie eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen.« (ebd., 49f.)
Butler weist hier auf die Prekarität hin, die jeder Subjektwerdung innewohnt: Wir werden durch sprachliche Adressierung – und sei sie auch noch so entstellt – ins Leben geholt; es ist die Bedingung der Möglichkeit von agency. Zu Handelnden werden wir daher gerade erst dort, wo (autark gedachte) Souveränität schwindet, wo wir an/erkennen, dass wir, wie Butler schreibt, »von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten« (Butler 2010, 29). Angesprochen zu werden bedeutet aber auch, dass wir immer schon in der Hand der anderen und somit verletzbar sind. Verletzbarkeit, so Butler, ist eine der ursprünglichen Formen, die soziale Beziehungen annehmen. »Gefährdung ist nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird« (ebd.).
Entscheidend für feministisches Denken und Handeln ist daher nicht nur, die epistemologischen Anordnungen der Adressierung aufzuklären, sondern auch Einspruch gegen sie zu erheben. Und dies deshalb, weil sich, wie Butler wiederholt angemerkt hat, unsere epistemologischen Gewissheiten immer wieder als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens – und damit alternative Weisen des Seins – un(an)erkennbar machen. Die »Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist«, so Butler, »bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor« (Butler 2002, 226).
Freilich ist diese Inkohärenz nicht einfach produktiv zu machen. Insofern »sprachliche Verhältnisse immer Verhältnisse der symbolischen Macht sind« (Bourdieu/Wacquant 1996, 177), »Technologien der Repräsentation« dazu beitragen, »Verletzung moralisch zu konsolidieren« (Butler/Athanasiou 2014, 182) und schließlich Macht sich dadurch auszeichnet, dass es, wie Achille Mbembe argumentiert, der »Souverän ist, der entscheidet, was sichtbar ist und was unsichtbar bleiben soll« (Mbembe 2014, 211), sind Sprechpositionen nicht beliebig vermehrbar. Denn Macht operiert auch und gerade durch die Verknappung autorisierter Sprechpositionen.
Butler hat in diesem Zusammenhang jüngst an Kants drei Ziele der Kritik erinnert: Was kann gewusst, was soll getan und auf was gehofft werden (Butler 2011, 37). Sie hat damit erneut den auch für das feministische Denken zentralen Zusammenhang von Wissen, Sein und Tun – das heißt den Konnex der materiellen Bedingtheit und diskursiven Regulierung von Wissen, der (auch) epistemischen Bedingtheit von Sein und schließlich der ethischen Fundierung von Tun – in den Vordergrund gerückt. Einer kritischen feministischen Theorie, die diesen Konnex ins Zentrum rückt, geht es dabei nicht nur darum, »die Beziehung zwischen den Grenzen der Ontologie und der Epistemologie« zu erkunden, sondern darüber hinaus auch den Zusammenhang zu untersuchen »zwischen den Grenzen dessen, was ich werden könnte, und den Grenzen des Wissens, das ich riskiere« (Butler 2002, 237). Die epistemischen Raster des Lebbaren sind daher nicht nur darauf hin zu befragen, welches und wessen Sein sie ermöglichen; fragen müssen wir beständig auch, auf welches andere Sein zu hoffen ist.
Bourdieu, Pierre /Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/Main.
Butler, Judith (1998): Haß spricht. Zur Politik der Performativen. Berlin.
Butler, Judith (2002): Was ist Kritik. Ein Essay über Foucaults Tugend: In: Jaeggi, Rahel / Wesche Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt/Main, S. 221-246.
Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/Main.
Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/Main/New York.
Butler, Judith (2011): Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich/Berlin.
Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich/Berlin.
Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt/Main.
Morrison, Toni (1994): Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek bei Hamburg.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien.
Steyerl, Hito (2008): Die Gegenwart der Subalternen. Einleitung. In: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, S. 7-16.
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