„I am asking you to live in the presence of reality, an invigorating life.“
– Virginia Woolf

Audre Lorde war Bibliothekswissenschaftlerin. Sie studierte Library Science in ihrem Bachelor Studium am Hunter College New York (1954-1959). Ihr zweites Studium an der Columbia University New York schloss sie 1961 mit einem Master in Library Science ab. Sie arbeitete neben ihren vielfältigen beruflichen, politischen, sozialen, akademischen, schriftstellerischen und verlegerischen Tätigkeiten viele Jahre als Bibliothekarin an der Mount Vernon Public Library und als Head Librarian an der Town School Library in New York City. Diese Seite von Audre Lordes Wirken habe ich nie so fokussiert wahrgenommen. Ich betone diese Information, denn durch sie erscheint mir Audre Lordes Weitsicht, ihr umfassender Blick auf die vielfältigen, politisch-persönlichen Bedeutungsstränge, die zusammenwirken, um den Verlauf eines Lebens zu strukturieren, nochmals klarer.

Audre Lordes Arbeiten sind durch eine unglaubliche Perspektivenvielfalt und Themenvielfalt gekennzeichnet. Ein bibliothekswissenschaftlich geprägter Blick hat sicherlich ihr vorhandenes Talent enorm verstärkt, die soziale Wirklichkeit als ein komplexes Zusammenspiel miteinander verwobener gesellschaftlich ungleich positionierter Akteur_innen zu visualisieren, zu erfassen, zu verstehen. Es scheint, als wären Imaginationen, Versprachlichungen und Erzählkonstruktionen (eigene und die anderer Personen) Lorde sehr leicht zugänglich, ja verständlich gewesen. Jedenfalls hat es wohl eine Quelle gegeben, aus der Lorde diese Verbindungslinien zugleich gewann und sie weiter verknüpfte. Das Berühren und zur Sprache bringen von Lebensthemen und Handlungserfordernissen großer sozialen Gruppen durchzieht das Werk Lordes. Eine Multiperspektivität, welche sich in den Gedichten und der Prosa Lordes niederschlägt und den von ihr thematisierten Annäherungen, Ambivalenzen, Krisen, Beziehungsnetzen, Aktionsformen und Kommunikationsverläufen einen starken gemeinsamen Fokus verleiht.

Am Ausgangspunkt dieses Beitrags frage ich mich vor allem, welche Teile eines aktiven Lebens, eines engagierten Lebens erinnert werden? Welche Lebensinhalte können wie in einer rückblickenden Betrachtung sichtbar und fruchtbar gemacht werden und mit welcher Intention?

The Stories of Our Lives: Historisierung als eine feministische Aufgabe

„What I leave behind has a life of its own. I have said this about poetry.
I have said it about children.
Well, in a sense I’m saying it about the very artifact of who I have been.“

–– A Litany For Survival: the Life and Work of Audre Lorde (Trailer)

Ein kurzes, intensives Leben ist gelebt worden. Audre Lorde starb im November 1992 im Alter von erst 58 Jahren. Sie hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk und prägnante Spuren in vielen gesellschaftlichen Feldern. In ihren letzten 14 Lebensjahren, in denen sie sich zuerst mit einer Brustkrebs- und dann auch noch mit einer Leberkrebsdiagnose konfrontiert sah, rang sie mit der Realität dieser erschütternden Lebenserfahrung. Sie lebte ihre Erschütterung öffentlich. Sie machte vollen Gebrauch von ihrer Artikulationsmacht. Sie schrieb das Krebstagebuch.1)Die Website des Orlanda-Verlags war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels nicht erreichbar. Um die Cover der genannten Bücher zu visualisieren, haben wir uns dazu entschieden, Links zum Amazon-Store zu setzen. Dabei handelt es sich um Affiliate-Links, durch die das Projekt FemBio – Das Gedächtnis der Frauen unterstützt wird. Darauf folgte Lichtflut. Das Leben mit Krebs, eine Sammlung von Texten und Gedichten. Sie rang mit dem Tod. Sie rang mit dem Leben. Sie rang mit der Krankheit. Sie rang mit der Verzweiflung und schrieb dies nieder. Sie behielt ihren Humor und ihre Weitsicht. Sie reiste, lehrte, schrieb Gedichte, liebte. Sie erlebte mit einer großen Bewusstheit ihre letzte Beziehung mit ihrer Lebensgefährtin Gloria I. Joseph, ebenfalls eine Schwarze Aktivistin, Professorin für feministische Sozialwissenschaften. Sie zog mit Gloria Joseph nach St. Croix in der Karibik.

Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland

Zeitgleich mit ihrer Krankheitskrise begann für Audre Lorde ein intensiver Lebensabschnitt in Berlin. Sie wurde 1984 Gastprofessorin an der FU Berlin. Genau 100 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz übrigens. Sie wurde zu einer zentralen symbolischen Figur der feministischen Bewegung Deutschlands, vor allem für eine Gruppe junger Schwarzer (lesbischer) Frauen, die sich gerade zu politisieren begannen. Audre Lorde taucht an einem entscheidenden Punkt in die feministische Szene Berlins ein. Sie erkannte und ergriff die Chance, der Bewegung Schwarzer feministisch inspirierter Aktivistinnen zur Geburt zu verhelfen. Sie setzte ihre Artikulationsmacht ebenso wie ihre aktivistische und analytische Erfahrung ein, um die Forderungen der Schwarzen feministischen Bewegung nach Innen und nach Außen zu formulieren und zu strukturieren. Sie verlieh der Schwarzen Frauenbewegung Deutschlands ihre narrative Kraft, politische Kraft und die Kraft ihrer transnationalen Zukunftsvisionen.

Aus ihrem Tagebucheintrag – Berlin, 23. Mai 1984:

„Afro-deutsch. Die Frauen sagen, sie haben diesen Ausdruck noch nie gehört. Ich habe eine meiner Schwarzen Studentinnen gefragt, mit welcher Vorstellung von sich, sie aufgewachsen sei. «Die positivste Bezeichnung für uns war ‚Kriegsbaby’», sagte sie. Aber die Existenz der meisten Schwarzen Deutschen hat nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, sie reicht bis viele Jahrzehnte davor zurück. Ich habe Schwarze deutsche Frauen in meinem Kurs, die ihre Afro-deutsche Herkunft bis in die 1890er Jahre zurückverfolgen.“2)Lorde, Audre (1994): Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Berlin: Orlanda, S. 91-92.

Die Namensfindung der Schwarzen Bewegung in Deutschland wurde beschleunigt durch die Artikulationskraft Audre Lordes. Die unmittelbar damit zusammenhängende Gründung der Initiative (später Vereins) Adefra – Schwarze Frauen in Deutschland gilt als eine Konkretisierung Lordes Bewegungsarbeit. Audre Lorde ermutigte und regte zu öffentlichen Positionierungen und Debatten an. Sie leistete konkrete Sorgearbeit, in dem sie einen Raum und einen Rahmen kreierte und bereitstellte, in dem Schwarze Aktivistinnen sich begegnen, Nähe miteinander erproben, sich mit der gemeinsamen Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Situation persönlich-politisch befassen konnten. Sie zog wiederum Kraft für ihre eigene Lebensarbeit daraus:

„Afro-deutsch, das bedeutet für mich die leuchtenden Gesichter von Katharina und May in angeregtem Gespräch über die Heimat ihrer Väter, über Gemeinsamkeiten, Freuden und Enttäuschungen. Es bedeutet mein Glücksgefühl beim Anblick einer Schwarzen Frau, die in meine Vorlesung kommt, und das allmähliche Schwinden ihrer stummen Zurückhaltung, als sie ein neues Selbstbewusstsein entdeckt, eine neue Denkweise über sich und ihre Beziehung zu anderen Schwarzen Frauen annimmt.“3)Lorde, Audre (1994): Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Berlin: Orlanda, S. 92.

Audre Lorde ließ sich von 1987 bis 1992 naturheilkundlich in Berlin behandeln. Ihre gesundheitspolitischen Betrachtungen gewannen durch diesen Entschluss und den damit zusammenhängenden Erfahrungen stark an Konturen. Auch hier prägten ihre Denkbewegungen und ihre öffentlichen Artikulationen die feministischen Debatten und Sichtweisen auf ein Leben mit Brustkrebs in Deutschland, in den USA, und an unzähligen weiteren Orten, an denen Lordes Texte auch weiterhin gelesen und diskutiert werden.

Drei Dokumentarfilme haben sich bislang mit der Bedeutung des engagierten Lebens Audre Lordes an der Schnittstelle zwischen akademischem, künstlerischem und politischem Engagement feministisch inspirierter Gesellschaftssubjekte befasst. Der erste Film A Litany for Survival: The Life and Work of Audre Lorde (1995), ist ein Dokumentarfilm von Ada Gray Griffin und Michelle Parkerson. Der zweite Dokumentarfilm ist The Edge of Each Others Battles (2002) von Jennifer Abod. Und der dritte Dokumentarfilm ist Audre Lorde – The Berlin Years 1984-1992 (2012) von Dagmar Schultz. Der erste Film ist sicherlich der markanteste, der dritte ist von besonderer Bedeutung für den deutschen Kontext. Alle drei gelten als Texte, soziale Texte, kulturelle Texte, die eine systematisierte Annäherung an das Lebenswerk Audre Lordes als Symbolfigur, als konkrete Person, als Ideengeberin für zahlreiche gesellschaftskritischen Bewegungen ermöglichen sollen.

Die Fachtagung ‚Audre Lorde’s Germany‘:
African Diasporic Presences and Influences on Contemporary German Literary and Cultural Politics

Eine Fachtagung im Januar 2015 macht es sich zum Ziel, Audre Lordes Einfluss auf den deutschen Kontext zu fokussieren. Audre Lordes Ideen, ihre Entwürfe von Gesellschaft, ihre Paradigmen und ihre Anwesenheit in Deutschland geben den Rahmen für die Auseinandersetzung mit Gesellschaft aus der politisierten Position engagierter, feministisch inspirierter, Schwarzer weiblicher Handlungssubjekte. Thematisiert werden bedeutende aktivistische, akademische und schriftstellerische Strukturen in Audre Lordes Leben wie beispielsweise die politische Aussagekraft ihrer Zugehörigkeit zum Combahee River Collective, einem Zusammenschluss Schwarzer, lesbischer Feministinnen. Die Gründung des Verlags ‚Kitchen Table: Women of Color Press’ (1980) durch Barbara Smith und Cherrie Moraga geht auf Ideen und Ermutigungen Audre Lordes zurück. Solche monumentalen Veröffentlichungen des Verlags wie ‚This Bridge called my Back: Writings by Radical Women of Color’ begründeten, artikulierten, forcierten die Art von Bündnissen, die Lorde zwischen Feminist/Scholars of Color visualisiert hat. Diese Bündnisebenen werden ein bedeutender Fokus der Fachtagung sein.

Lordes Beiträge im Kontext Schwarzer feministischer Theorieproduktion als einer engagierten Gesellschaftskritik gelten zudem als Ausgangspunkt einer reflexiven Auseinandersetzung mit der narrativen Kraft feministischer Theorie und Praxis in Deutschland. Die durch Audre Lorde sichtbar gemachte Stimmenvielfalt in dem transnationalen literarischen Schaffen Schwarzer Feministinnen enthält eine bedeutende Kritik an der anhaltenden Homogenität feministischer Narrationen in Deutschland. Dieser Kritik gilt es nachzugehen. Ganz im Sinne Audre Lordes generiert sich diese Kritik aus den öffentlich artikulierten Aktionsformen und Wissensformen Schwarzer und oder weiblicher und oder lesbischer Handlungssubjekte. Dieses gilt es einzubetten in eine multiperspektivische feministische Kulturkritik.

Die Fachtagung wird sich zentralen Themen der Arbeiten von Audre Lorde widmen, ihren Gedanken zur selbstbestimmten Gestaltung lesbischer Elternschaft, ihren sexualpolitischen Perspektiven auf Erotik als eine auf sich positiv gerichtete Selbstbefreiungspolitik. Die Beiträge werden Lordes Aufforderung fokussieren, die eigene sexuelle Macht zu erkennen und kennenzulernen und zum eigenen Wohlbefinden zu verwenden. Lordes Verpflichtung, gerade Themen und Lebensperspektiven zur Sprache zu verhelfen, die verleugnet, ignoriert oder vereinnahmt werden, gilt als Handlungsimpuls zu einer expliziten, feministisch strukturierten Thematisierung der Selbst- und Weltverhältnisse von Handlungssubjekten der Afrikanischen Diaspora in Deutschland. Lordes Konzepte der Selbstbefreiung und der damit zusammenhängenden gegenseitigen Befreiung Schwarzer Akteurinnen, ihre Bilder eines positiven Umgangs mit Macht als Selbstverfügung und als aktives Einbringen in die eigenen Lebens- und Handlungszusammenhänge sind in die Bewegungsgeschichte Schwarzer Aktivistinnen in Deutschland nachhaltig eingeschrieben. Audre Lordes Ermutigungen wirken weiterhin. Sie leben geradezu in der Form und Struktur des politisch engagierten feministischen Standpunkts in Deutschland weiter.

Maureen Maisha Eggers, Berlin 17.12.14

Termin: 30. und 31. Januar 2015
Ort: Humboldt-Universität-Berlin, Unter den Linden 6, Senatssaal
Organisatorinnen: Christine Vogt-William, Maisha M. Eggers und Eva Boesenberg
Speakers: U.a. Fatima El Tayeb, Kara Keeling, Gloria Wekker, Tracie Morris, Katharina Oguntoye, Peggy Piesche, Nicola Laurè Al-Samarai, Katja Kinder, Sheila Mysorekar
Tagungswebsite und Programm

Fußnoten

Fußnoten
1 Die Website des Orlanda-Verlags war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels nicht erreichbar. Um die Cover der genannten Bücher zu visualisieren, haben wir uns dazu entschieden, Links zum Amazon-Store zu setzen. Dabei handelt es sich um Affiliate-Links, durch die das Projekt FemBio – Das Gedächtnis der Frauen unterstützt wird.
2 Lorde, Audre (1994): Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Berlin: Orlanda, S. 91-92.
3 Lorde, Audre (1994): Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Berlin: Orlanda, S. 92.